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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

499-501

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ramonat, Oliver

Titel/Untertitel:

Lesarten der Schöpfung. Moses als Autor der Genesis im Mittelalter.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2010. 257 S. gr.8° = Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, 36. Geb. EUR 69,80. ISBN 978-3-05-004692-1.

Rezensent:

Tobias Georges

Der Titel dieser Studie klingt vielversprechend. Oliver Ramonat un­tersucht mittelalterliche Kommentierungen des biblischen Schöpfungsberichtes nach Gen 1,1–2,4a, von der Karolingerzeit bis zur Mitte des 13. Jh.s, und fragt dabei nach dem Mose-Bild der Kommentatoren, nach den Denkstilen ihrer Zeit und nach dem Wandel dieser Denkstile. Die Arbeit wurde im Sommersemester 2000 vom Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen.
R. geht von folgendem »Lesarten-Modell« aus: Die mittelalterlichen Kommentatoren verstanden Mose als von Gott inspirierten Autor der Genesis und als ersten Kommentator des Schöpfungsgeschehens. In ihren Augen hatte Mose die Schöpfungsdarstellung bewusst dem Fassungsvermögen seiner Adressaten angepasst, und so sahen auch sie sich legitimiert, diese Darstellung für die Leser ihrer Zeit zu aktualisieren. Ihre vielfältigen »Lesarten« galten als Erläuterung oder Fortschreibung dessen, was schon Mose gewusst hatte – auch wenn er es mit Rücksicht auf seine Adressaten nicht gesagt hatte.
Leider vermisst man bei dem ambitionierten Vorhaben eine klare thematische Fokussierung – die angesichts des Umfangs sowohl des Themas als auch der zur Verfügung stehenden Quellentexte doch gerade angezeigt gewesen wäre. R. reißt eine Fülle von Fragen an, von der Frage nach dem jeweiligen Mose-Verständnis der Kommentatoren bis hin zu vielfältigen Detailfragen zum Schöpfungsbericht, so etwa der Frage, wie die verschiedenen Kommentatoren die Formulierung »die Erde war wüst und leer« in Gen 1,2 interpretieren. Der Leser wird bei der Suche nach Ziel und Struktur der Darlegungen R.s recht allein gelassen. Schon die Grobstruktur der Arbeit wirft Fragen auf: Nach der Behandlung einleitender Fragen (1.), bei der man sich eben mehr Klarheit gewünscht hätte, und einem ersten Durchgang durch wesentliche Quellentexte (»2. Die Grundlagen«) gliedert sich die Analyse der mittelalterlichen Kommentare nach einzelnen thematischen Aspekten, die sich in der Reihenfolge des Schöpfungsberichtes nach Gen 1,1–2,4a ergeben: Zu folgenden übergreifenden Themen kommen jeweils verschiedene Kommentare zu Wort: »3. Der Anfang« (Gen 1,1) – »4. Eine nähere Beschreibung« (Gen 1,2) – »5. Das Licht« (Gen 1,3–5) – »6. Der Himmel« (Gen 1,6–8) – »7. Die Erde« (Gen 1,9–31?).
Da R. die hier vorgenommene Zuordnung dieser Gliederungspunkte zu den Sinnabschnitten der Genesis nicht ausdrücklich benennt, entsteht spätes­tens bei Punkt 7 Unklarheit darüber, welche Textabschnitte des Schöpfungsberichtes mit der »Erde« im Blick sind. Die Erschaffung der Pflanzen, der Tiere sowie des Menschen wird in Kapitel 7 zwar erwähnt, gerade die des Menschen aber nur en passant. Ist also das ganze Sechstagewerk Thema oder nicht? Fraglich bleibt auch, wa­rum nach der Konzentration der vorangegangenen Gliederungspunkte auf kurze Sinnabschnitte aus Gen 1 nun gleich mehrere Schöpfungstage Thema sein sollten. Auch das Schlusskapitel (8.) trägt kaum zur Klärung dieser Fragen bei. Hinsichtlich der Gliederung stellt sich zudem die Frage, wie sinnvoll es ist, die Analyse der einzelnen Schöpfungskommentare zu zerstückeln – Abaelards Expositio in Hexaemeron begegnet z. B. in Kapitel 2–7 immer wieder–, bzw. ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, einzelne Kommentare als Ganze und am Stück zu analysieren, zumal die wiederholte Präsentation der einzelnen Quellen zu Redundanzen führt.
Innerhalb der einzelnen Untersuchungsabschnitte wirken die Ausführungen häufig wie eine lose geordnete Aneinanderreihung von Exzerpten aus Schöpfungskommentaren, bei denen es bisweilen schwerfällt, zwischen Textparaphrase und Interpretation R.s zu unterscheiden. Unklar bleiben vor allem auch die Kriterien, nach denen R. die Schöpfungskommentare ausgewählt hat: Er analysiert eine Fülle von Werken; sie stammen teils aus der Feder vielzitierter Autoren wie Beda Venerabilis, Alkuin, Abaelard und Petrus Co­mestor, teils auch von weniger bekannten Schriftstellern wie Al­bert von Siegburg – so wird das Letzterem zugeschriebene, bisher ungedruckte Bibelglossar zu Rate gezogen. Gerne hätte man ge­wusst, wie es zu dieser Auswahl kommt, zumal doch Aussagen zur Schöpfung im mittelalterlichen Kontext nicht gerade selten sind.
Die Lektüre wird zudem erschwert durch die bewusste Weigerung R.s, die Kommentierungen in chronologischer Reihenfolge zu behandeln. Die Folge sind wiederholte zeitliche Sprünge wie der von Angelom von Luxeuil (9. Jh.) zu den Konstitutionen von Melfi (13. Jh.). R. beruft sich für sein Vorgehen darauf, dass es sich bei den Kommentaren um »zeitlos miteinander verbundene Autoren und Lesarten des einen Urtextes – der Schöpfung selbst« (18) handle. Diese Begründung mag dahingestellt bleiben, das Vorgehen steht in jedem Fall der Absicht R.s entgegen, im Blick auf die Kommentarinhalte Entwicklungen aufzuzeigen. Immer wieder weist R. auf solche Entwicklungen hin, kommt dafür aber nicht umhin, de facto die chronologische Abfolge zugrunde zu legen.
Die Arbeit fordert in den genannten Punkten zu substantieller Kritik heraus. Immerhin bietet sie jedoch eine reiche Sammlung mittelalterlicher Kommentierungspassagen zum Schöpfungsbericht nach Gen 1,1–2,4a, einen Schatz voll »Lesarten der Schöpfung«. Wer sich die Mühe macht, die Textzusammenstellung durchzuarbeiten, erhält durch sie einen Blick auf die verschiedenen Mose-Bilder des Mittelalters: vom »Bildungsreformer« über den »Kompilator alter Überlieferung«, den »Philosophen« und »Lehrer« zum »Naturwissenschaftler«.