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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

496-497

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wohlrab-Sahr, Monika, Karstein, Uta, u. Thomas Schmidt-Lux

Titel/Untertitel:

Forcierte Säkularität. Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands. Unter Mitarbeit v. A. Frank u. Ch. Schaumburg.

Verlag:

Frankfurt a. M.-New York: Campus 2009. 375 S. m. Tab. 8°. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-593-39054-3.

Rezensent:

Hubert Knoblauch

Kurz nach dem 20-jährigen Jubiläum der friedlichen Revolution in der ehemaligen DDR erschien dieses Buch, das sich mit der Religiosität der Ostdeutschen vor und nach der Wende beschäftigt. Bekanntlich handelt es sich hier um ein bemerkenswertes Phänomen, das durchaus auch international Beachtung findet, stellt doch der Osten Deutschlands eines der »säkularsten« Gebiete auf der bunten Weltkarte der Religion dar. Er ist somit nachgerade ein Musterbeispiel für das, was Peter Berger als »European Exceptionalism« ansieht, also die These, dass die Gleichsetzung von Säkularität und Moderne eine Folge der einseitigen, eurozentrischen und fälschlich verallgemeinerten Perspektive der Säkularisierten selbst sei. Kein Wunder, dass gerade Ostdeutschland auch als stärkstes Argument für die nach wie vor etwa von Detlef Pollack vertretene und vehement verteidigte Säkularisierungstheorie gilt.
Das Buch von Monika Wohlrab-Sahr, Uta Karstein und Thomas Schmidt-Lux unterscheidet sich von dieser Art der Säkularisierungsforschung auf insbesondere zwei Weisen. Es ist zum einen entschieden auf qualitativen Daten – in diesem Falle Gruppendis­kussionen innerhalb von ostdeutschen Familien – basiert, deren virtuose Bearbeitung übrigens gerade für den Nicht-Ostdeutschen eine besondere, enorm lehrreiche Fülle erzeugt. Zum anderen folgen Wohlrab-Sahr, Karstein und Schmidt-Lux hier keineswegs der Säkularisierungsthese, was ja gerade am Fall Ostdeutschlands überraschen mag. Obwohl sie gleich einleitend einräumen, dass Ostdeutschland zu den Regionen mit den niedrigsten Raten der Kirchenmitgliedschaft und der größten Zahl selbsternannter Atheisten zählt, und obwohl sie auch keinen Zweifel daran lassen, dass sich diese Situation in naher Zukunft keineswegs dramatisch verändern wird, spüren sie mit ihren feinfühligen Methoden etwas auf, dem man den Charakter des Religiösen nicht absprechen kann. Es liegt deswegen durchaus nahe, dass sie an dieser Stelle auf Luck­manns Theorie der unsichtbaren Religion zurückgreifen, doch sie tun dies auf eine empirisch begründete, historisch informierte und methodologisch innovative Weise. Wie sie zeigen, enthalten die von ihnen analysierten innerfamilialen Gruppendiskussionen und die darin identifizierten kommunikativen Muster eine Semantik, die sich an dem ausrichtet, was Luckmann als die mittleren Transzendenzen bezeichnet. Wie sie anhand der außerordentlich originellen Beobachtung der Generationen und einem kommunikativ gewendeten Begriff der Generationen, der besonders die Vor-Wende- und die Nach-Wende-Generation fokussiert, deutlich machen können, ist die symbolische Aufwertung des Gemeinschaftlichen, der Ehrlichkeit und der Arbeit selbst eine Folge des Säkularisierungsprozesses, in dem einst religiös formulierte Inhalte gleichsam wie »Säkularisate«, wie sie Hans Blumenberg genannt hätte, erhalten sind. Um es anders zu formulieren: Den Ostdeutschen ist die Religion nicht einfach von Staats wegen ausgetrieben worden, sie haben sie vielmehr aktiv in eine eigene Art der Weltanschauung umgewandelt und im Generationenwechsel in einen Habitus der Säkularität transformiert, den Wohlrab-Sahr, Karstein und Schmidt-Lux etwa an einigen spezifischen, kulturellen Deutungsmustern (etwa »Man kann nur einem Herren dienen«/»Irgendwann musste dich bekennen«) verdeutlichen.
Das Buch ist sehr stark vom Material, das es untersucht, geprägt. Es enthält ausführliche Passagen aus den Familiengesprächen, in denen man sehr verschiedene Stimmen – mit sowohl christlichen als auch atheistischen Tönen – wahrnimmt und manche Familien kennen zu lernen scheint. Dabei bleibt aber die entschiedene wissenschaftliche Grundlinie erhalten, die die Daten auf die zentralen Themen hin ordnet: das Verhältnis von Säkularisierung, kirchlicher Tradition und religiöser Neuorientierung, die Frage nach dem Umgang mit großen Transzendenzen (wobei die Herausarbeitung einer eigenen »agnostischen Spiritualität« hervorzuheben ist), die religiöse Neuorientierung der jüngeren Generation und die Bestimmung der Topoi mittlerer Transzendenzen, die von der Analyse der konflikthaften Transformation der Semantik und der damit verbundenen Deutungsmuster abgeschlossen wird. Diese Deutungsmuster erklären nicht nur die eigenständige Verarbeitung der aufoktroyierten, »forcierten Säkularität«; die Orientierung der Deutungsmuster an Wahrhaftigkeit, Authentizität und Ge­meinschaftsbezug erklärt auch die bleibende Distanz zu den Kirchen, die sich nach der Wende zu formellen Institutionen wandelten.
So sehr Wohlrab-Sahr, Karstein und Schmidt-Lux also die Dis­kussion um die Religiosität in Ostdeutschland in ein neues Licht stellen, so bleiben doch auch einige Fragen offen, wie etwa nach dem Einfluss der westdeutschen Gesellschaft auf die ostdeutsche Religiosität, etwa deren Verstärkung in der jüngeren Generation, nach der Rolle der zugezogenen Westdeutschen und der von ihnen importierten religiösen Kultur und den Folgen der medialen Kommunikation, die nicht erst seit der Islamdebatte nach 2001 in enormem Ausmaß religiöses Wissen vermittelt. Diese Fragen weisen darauf hin, dass diese Arbeit neue Aspekte der Religiosität in Ostdeutschland aufdeckt, die sich möglicherweise als gar nicht so ungewöhnlich und spezifisch europäisch erweisen, wie die Vertreter des European Exceptionalism meinen.