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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

494-496

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Waldschmidt-Nelson, Britta

Titel/Untertitel:

Christian Science im Lande Lu­thers. Eine amerikanische Religionsgemeinschaft in Deutschland, 1894–2009.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2009. 296 S. m. Abb. gr.8° = Transatlantische historische Studien, 37. Geb. EUR 42,00. ISBN 978-3-515-09380-4.

Rezensent:

Michael Utsch

Die Entwicklungen neuer religiöse Bewegungen unter dem sozialistischen Regime der ehemaligen DDR ist ein bislang vernachlässigtes Forschungsfeld. In den letzten Jahren aber sind im Hinblick auf einige kleinere Religionsgemeinschaften gravierende Wissens­lücken aufgefüllt worden (für den Mormonismus vgl. Raymond Kuehne [Hrsg.]: Mormonen und Staatsbürger: Eine dokumentierte Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage in der DDR, Leipzig 2008; Henry Burkhardt: Ein Leben für die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage. Leipzig 2010; für Jehovas Zeugen vgl. Waldemar Hirch: Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas während der SED-Diktatur, Frankfurt am Main 2003). In der Veröffentlichungsreihe des Deutschen Historischen Instituts (Washington, DC) wurde nun eine Studie über die Entwick­lungen der Christian Science (CS) in Deutschland vorgelegt. Leider werden die Entwicklungen in der DDR nur kurz gestreift (200–202). So erfährt der neugierige Leser, dass man erst ab Mitte der 1980er Jahre wieder auf legalem Wege CS-Literatur der DDR beziehen konnte. Ansonsten wird man auf einen amerikanischen Historiker verwiesen, der an einer Monographie zum Thema arbeite, die aber offensichtlich bis heute noch nicht erschienen ist.
Mit ihrer Habilitation an der Universität München hat die Historikerin Britta Waldschmidt-Nelson die Geschichte dieser kleinen amerikanischen Religionsgemeinschaft in Deutschland von ihren Anfängen bis in die heutige Zeit gründlich untersucht. Seit den 1930er Jahren sei mit einer einzigen Ausnahme durch einen Referenten der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen keine einzige Monographie über CS erschienen (Hans-Diether Reimer: Metaphysisches Heilen: eine kritische Darstellung der »Christlichen Wissenschaft«, Berlin 1966). Die Arbeit besticht nicht nur durch exzellente Quellenkenntnis. Zum besseren Verständnis des Glaubenssystems hat W.-N. etwa 80 Interviews und Gespräche mit Vertretern, Ärzten und Theologen geführt und ausgewertet. In der Einleitung wird zunächst ein Überblick über die Quellenlage dargestellt und die Problematik des Sektenbegriffs erörtert. Hier werden die soziologischen Kriterien sachlich referiert, jedoch die theologischen Zusammenhänge nur angedeutet. W.-N. folgt in ihrer Argumentation der Enquete-Kommission von 1998 zum Thema und verzichtet in ihrer Untersuchung auf den Begriff Sekte.
Die Arbeit ist systematisch gegliedert. Teil 1 beschreibt Genese, Organisation, Lehre und Praxis dieser Gemeinschaft, Teil 2 die er­folgreiche Etablierung in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg. Trotz Widerständen, so konstatiert W.-N. in Teil 3, kann sich die Gemeinschaft bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges festigen. In Teil 4 stehen die abnehmende Popularität und innere Krisen der Kirche im Zentrum. Hilfreich sind die zahlreichen Anhänge, in denen zentrale Glaubenssätze dokumentiert sind, eine Übersicht der Gemeinden in Deutschland erarbeitet wurde und auch Ge­richtsverfahren dokumentiert werden. Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (269–291) runden den Band ab. Darüber hinaus enthält das Buch auch eine Abbildung der »Entdeckerin« der christlichen Heilungslehre, Mary Baker Eddy, sowie weiteres anschauliches Bildmaterial von Versammlungsräumen.
Es ist sehr zu begrüßen, dass die religiöse Vielfalt in Deutschland aus unterschiedlichen professionellen Blickwinkeln untersucht wird. W.-N. hat hier eine mustergültige historische Studie erarbeitet, an deren sachlich und differenziert dargestellten Fakten die zukünftige Forschung gut anknüpfen kann. Auch die beiden von W.-N. erarbeiteten Gründe, warum die Zahl der CS-Gemeinden in Deutschland seit 1950 um mehr als ein Drittel zurückgegangen sind, leuchten ein (2009 bestanden noch 62 Gemeinden): zum einen die großen Fortschritte der Schulmedizin, zum anderen die größere Gleichberechtigung der Frau, deren Berufstätigkeit in der Christlichen Wissenschaft früher einen Sonderstatus ermöglicht habe.
Ohne Zweifel können die Soziologie, Kulturwissenschaften und auch Geschichtswissenschaften mit ihren Forschungsmethoden zu neuen Erkenntnissen führen. Schwierig wird es bei fachübergreifenden Fragestellungen, die sich bei CS mindestens in zweierlei Hinsicht ergeben, nämlich im Grenzbereich zu medizinischen und theologischen Themen. W.-N. bleibt in ihrer Studie nämlich nicht bei historischen Beschreibungen und Analysen stehen, die sie meisterlich beherrscht. Das für christliche Wissenschaftler ty­pische geistige Heilen berührt eben auch das medizinische und theologische Terrain. Neben einem soziologischen Sektenbegriff, den W.-N. referiert, liegen ja auch theologische Kriterien vor, die in Anschlag gebracht werden können, wenn die Bibel nicht sachgemäß ausgelegt und angewendet wird. Es gibt nämlich handfeste theologische Argumente, die Bibel nicht als ein Heilungsbuch zu instrumentalisieren, wie es bei CS praktiziert wird. Diese Unterscheidungen sind jedoch theologischer Natur und betreffen nicht die historischen Entwicklungen einer Religionsgemeinschaft.
W.-N. hat sich intensiv mit der CS-Perspektive christlichen Heilens beschäftigt, was in einzelnen Formulierungen sichtbar wird: »Die Wirksamkeit der physisch sichtbaren Heilkraft von CS ist bis heute noch in keiner naturwissenschaftlich anerkannten Studien nachgewiesen worden« (248). Die Erläuterung einer »physisch sichtbaren Heilkraft« bleibt W.-N. dem Leser schuldig. Die Einschätzung, dass diese Gemeinschaft aufgrund der Popularität von alternativmedizinischen Behandlungen an Bedeutung gewinnen könnte, lässt eine genauere Analyse der medizinischen Faktoren des Heilungsprozesses vermissen. Hier hätten Placeboeffekte und das positive Denken mit berücksichtigt werden müssen, um eine zutreffendere Bewertung der Heilungsangebote und -praxis von CS vornehmen zu können. Die reichhaltige historische Quellenarbeit und intensive Begegnungen bieten einen profunden Einblick in die Etablierung und Entwicklung einer kleinen, aus Amerika stammenden Religionsgemeinschaft in Deutschland. Damit vermittelt der Band ein authentisches Bild vom Selbstverständnis christlicher Wissenschaftler. Leider werden naheliegende Anfragen aus medizinischer oder theologischer Sicht nicht berücksichtigt.