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Ausgabe:

Mai/2011

Spalte:

491-492

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Heinzmann, Richard, u. Mualla Selçuk [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Verhältnis von Religion und Staat. Grundlagen in Christentum und Islam. Internationales Symposion mit der Islamisch-Theologischen Fakultät der Universität Ankara 19.–20.05.2006.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 237 S. gr.8° = Interkulturelle und interreligiöse Symposien der Eugen-Biser-Stiftung, 2. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-17-020964-0.

Rezensent:

Mathias Rohe

Bedroht der Islam den säkularen Rechtsstaat? Diese Frage wird hierzulande häufig gestellt und ebenso häufig vorschnell beantwortet. Eine säkularisierte »christliche Leitkultur« wird dann einem Islam gegenübergestellt, der angeblich Religion und Staat in einem ist, wie es auch religiöse Extremisten (Islamisten) gelegentlich tatsächlich formulieren.
Es ist das Verdienst der Eugen-Biser-Stiftung, durch stetiges Bemühen um Versachlichung der Debatte und Förderung des Informationsaustauschs ohne Blauäugigkeit Verständnis zu fördern und gegenseitige Ängste abzubauen. Hierzu trägt auch der vorliegende Band bei, der in wohltuend informativer Weise grundlegende Fragen des Verhältnisses zwischen Staat und Religion in Christentum und Islam in Vergangenheit und Gegenwart behandelt. Der Band ist aus einem Symposium der Biser-Stiftung mit der Islamisch-Theologischen Fakultät der Universität Ankara hervorgegangen, an dem sich namhafte türkische und deutsche Wissenschaftler beteiligt haben. Ihre Beiträge werden verdienstvollerweise in beiden Sprachen wiedergegeben. Das Format des Tagungsbandes erlaubt selbstverständlich keine geschlossene Aufarbeitung des Themas. Jedoch sind die qualitativ ansprechenden und anregenden Beiträge in hohem Maße auf das Generalthema bezogen und liefern einen facettenreichen und repräsentativen Querschnitt der Debatten. Manches scheinbar Selbstverständliche – die christliche Trennung von Staat und Religion und die Einheit zwischen beidem im Islam – wird in historische Dimensionen gerückt und gründlich differenziert.
Aus Raumgründen ist es nicht möglich, inhaltlich auf einzelne Beiträge näher einzugehen. Insgesamt wird aber zum einen deutlich, dass beide Religionen in ihren Positionsbestimmungen einen langen Weg zurückgelegt haben und noch beschreiten. Zum anderen zeigen die Beiträge der muslimischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass der Islam in diesen Fragen auch theologisch vor anderen Herausforderungen steht als das Christentum: Eschatologische Naherwartungen des Christentums in seiner Entstehungszeit und politische Machtlosigkeit stehen dem Islam gegenüber, der seit seinem historischen Erscheinen eine politische Erfolgsgeschichte war. In Reden und Wirken Muhammads treffen sich religiöse und politische Facetten, die Urgemeinde ist zugleich politische Entität. Deshalb, so wird es aus den Beiträgen von muslimischer Seite deutlich, bedarf es wissenschaftlicher Ansätze, welche die Trennung historischer situationsgebundener Zufälligkeiten von der ewiggültigen religiösen Botschaft erlauben – das Zusammenfallen beider Bereiche in der Person Muhammads ist ja nach seinem Tod nicht mehr selbstverständlich. Eine solche Trennung ist auch möglich und schon in der klassischen Literatur angelegt. Rotraut Wielandt weist in ihrem Beitrag darauf hin, dass die Parole »Der Islam ist Religion und Staat« eine neuzeitliche Extremistenparole darstellt, die von der historischen Entwicklung nicht gedeckt wird. Allerdings wird ebenso deutlich, dass die theologische Debatte noch viel an Stoff zu bewältigen hat. Eine Gleichsetzung mit der Entwicklung im Christentum wäre indes unangebracht. Das Christentum hatte in den letzten Jahrhunderten vor allem den Umgang mit dem politischen Machtanspruch kirchlicher Institutionen bis hin zur unmittelbaren Ausübung der Staatsmacht zu bewältigen. Der wenig institutionenorientierte Islam ist in seiner Normenbasis nicht auf Herrschaftsmodelle festgelegt, sondern auf bestimmte Inhalte orientiert, die nun in ihrem Geltungsanspruch zu überprüfen sind.
In der Gesamtkonzeption des Bandes besonders erfreulich ist die konfessionelle Ausdifferenzierung der Haltungen sowohl in christlicher als auch in islamischer Perspektive, was vor allem, aber nicht nur für die Angehörigen der jeweils anderen Religion hohen Er­kenntniswert verspricht. Entscheidender Gewinn liegt zudem darin, dass die Prozesshaftigkeit der Haltungen zum Staat in beiden Religionen aufgezeigt wird. Auch Europa wurde das heute aus guten Gründen herrschende Modell des säkularen, aber auch religionsoffenen Staates keineswegs in die Wiege gelegt. Andererseits zeigt sich, dass auch der Islam das – durchaus in der Praxis erkennbare – Potential hat, zum selben Ziel zu gelangen. Damit werden diejenigen widerlegt, die in einer verzerrten essentialistischen Betrachtung den Islam schlechthin zum Gegenbild des aufgeklärten europäischen Staatsmodells stilisieren. Für den Leser, der über den Tellerrand der eigenen Argumentationskultur hinausblicken möchte, bietet der Band zudem wertvolle Einblicke in die jeweiligen Ansätze. Nach alledem ist er ein sehr informativer und in vielen Feldern weiterführender Beitrag zum vertieften Verständnis dessen, wie und auf welcher theologischen Grundlage Christentum und Islam ihr Verhältnis zum Staat definiert haben und noch heute definieren. Damit erfüllt er auch in erfreulicher Weise den von der Biser-Stiftung formulierten Anspruch, die theologischen und religiösen Grundpositionen zu erarbeiten und zu klären, die als tragfähiges Fundament für ein friedliches Miteinander von Christen und Muslimen mit positivem Potential zur Lösung gesellschaftlicher Probleme dienen können.