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Ausgabe:

Februar/1996

Spalte:

143–146

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Millard, Matthias

Titel/Untertitel:

Die Komposition des Psalters. Ein formgeschichtlicher Ansatz.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1994. IX, 299 S gr. 8o = Forschungen zum Alten Testament, 9. Lw. DM 168,­. ISBN 3-16-146214-9.

Rezensent:

Rainer Albertz

Die durch R. Rendtorff und F. Crüsemann betreute Dissertation ist ein weiterer und umfassender Beitrag zu der in jüngster Zeit vermehrt behandelten Frage nach der Sammlung des Psalters (Seybold, Hoßfeld, Zenger, Kratz, Koenen u.a.). Doch im Unterschied zu den meist traditions- und redaktionsgeschichtlichen Untersuchungen möchte M. den formgeschichtlichen Zugang nutzen (3f.): "Was wir benötigen, ist... eine Formgeschichte der Psalmengruppen" (47). Dabei nimmt er ältere Beobachtungen Westermanns zur unterschiedlichen Verteilung der Psalmengattungen auf und kombiniert sie mit der von Gese u.a. vollzogenen Einteilung der Sammlungen nach Psalmenüberschriften (27-30). Gleichzeitig ist er am "canonical approach" (Childs, Rendtorff) orientiert und versucht eine möglichst synchrone, die Letztgestalt des Textes berücksichtigende Strukturbeschreibung, die möglichst ohne text- und literarkritische Eingriffe auskommt. Von daher versteht sich auch seine Polemik gegen eine "normative, an der ursprünglichen reinen Form" interessierten Formgeschichte (48 ff.). Allerdings kann M. den synchronen Ansatz nicht durchhalten; im Vorwort berichtet er, wie er ihn im Verlauf seiner Arbeit in ein "diachrones Modell" umgearbeitet hat (bes. in Teil III). Neu und befruchtend ist, daß M., der auch Judaistik studiert hat, sowohl die paläographische Evidenz der hebräischen Handschriften von Qumran bis ins Mittelalter als auch die Wirkungsgeschichte des Psalters im Judentum breit in die Diskussion einbezieht. Von daher sichert er nicht nur den in den MSS klar abgegrenzten Einzelpsalm als Ausgangspunkt der Untersuchung, sondern kann auch im Sinne seines formgeschichtlichen Ansatzes belegen, daß ganze Psalmengruppen einen Sitz im Leben haben können, so am deutlichsten das Ägyptische Hallel (Ps 113-118) in der Passa-Liturgie schon vor 70 n. Chr. Zudem rückt er ins Bewußtsein, daß nur ganz wenige Partien des Psalters im frühen Judentum gottesdienstlich verwandt wurden, was die gängige ältere These, der Psalter sei das "Gesangbuch des 2. Tempels", ganz unwahrscheinlich macht.

Das Buch besteht aus drei Teilen: Teil I "Der einzelne Psalm als Ausgangspunkt" (6-62) begründet forschungsgeschichtlich und methodisch den eigenen Ansatz. Teil II "Eine Formgeschichte der Psalmengruppen" ( 63-16) beinhaltet eine überwiegend synchrone formgeschichtliche Beschreibung der durch Überschriften konstituierten Psalmengruppen. Teil III "Die Entstehung des Psalters" (169-239) versucht eine diachrone Darstellung der Kompositionsgeschichte, die nach M. vom 6. bis ins 2. Jh. v. Chr. gelaufen ist. Ein Ausblick auf den Psalter als Teil des Kanons, einige Anhänge und Register schließen das Buch ab.

Es ist unmöglich, die ganze Fülle der Beobachtungen und Ergebnisse dieses reichen Buches hier darzustellen. Ich muß mich auf die Hauptlinien beschränken: M. meint, ein generelles Anordnungsprinzip der Psalmen aufweisen zu können, das auch schon die Bewegung vieler Klage- und Danklieder ausmacht: die Abfolge von Klage und Hymnus/Danklied, wobei die Wende von der Klage zum Lob häufig durch ein Orakel markiert wird (162 u.ö.). Dabei versteht M. die Bekenntnisse der Zuversicht und Lobgelübde in den Klagen als Verweise auf der Textebene, die durch die folgenden Lobpsalmen eingelöst werden.

Allerdings liegt diese relativ einfache Struktur, auf die ähnlich schon Westermann für den Psalter im Ganzen aufmerksam gemacht hat, so gut wie nie rein vor und läßt sich auch nur selten voll mit den durch Überschriften konstituierten Psalmengruppen zur Deckung zu bringen. So findet sich etwa am Ende der Korachpsalmen (Ps 42-49) und auch sonst häufig eine Rückwendung zur Klage, was M. unter Berufung auf F. Stolz als ein weisheitliches Element ansieht (59), das auf eine nachkultische Edition weise. Es gibt auch reine Klagepsalmsammlungen wie die Asaphpsalmen (Ps 74-83), die erst kompositionell durch Ps 92-100 im Sinne des Grundschemas erweitert werden. Umgekehrt ist das Ägyptische Hallel Ps 113-118 eine reine Lobpsalmsammlung, die erst über einen Vorbau Ps 107 ff. Ihren Klagebezug (Ps 108 f.) erhält. Einige Psalmengruppen, wie die l. Sammlung der Davidpsalmen, werden durch den wiederholten Ablauf von der Klage zum Lob durchzogen; M. spricht hier von "Kompositionsbögen", von denen er im ganzen Psalter meint 14 aufweisen zu können (vgl. Tabelle 168). An einigen Stellen, etwa bei den Klagen in den Davidpsalmen oder bei den Hymnen im Ägyptischen und Kleinen Hallel, kommt es zur Anhäufung von Psalmen gleicher Gattung und Motive; sie werden von M. in Anlehnung an A. Aejmelaeus als "Cluster" bezeichnet. Ab Ps 92 begegnen Kompositionsbögen, die mit einem Dankelement beginnen. So weist das Formschema im einzelnen große Variabilität auf; und der Bereich Ps 32-41 läßt sich, wie M. freimütig zugibt, mit ihm gar nicht erklären (140).

Neben der Wende von der Klage zum Lob beobachtet M. in einigen Gruppen eine weitere Bewegung aus der Fremde hin nach Jerusalem: Sie charakterisiert er als Wallfahrtspsalmen (Ps 42-49; 84-88; 120-134; 113-118), die aber ­ wie schon die z.T. weisheitlichen Rahmungen andeuten ­ die Wallfahrt weitgehend nur auf der Textebene. d.h. fiktiv vollziehen. Die Asaph-psalmen, bei denen auf die Orakelpsalmen (Ps 75: 86) die Wende zum Lob ausbleibt, interpretiert er als Klagekomposition (vgl. Threni). Daneben werden die Psalmengruppen durch gemeinsame Motive (z.B. Gott als König und Richter) und teilweise auch durch die biographischen Angaben in den Überschriften (Davidpsalmen) zusammengehalten.

Die älteste greifbare Vorstufe des Psalters sieht M. wie Gese im elohistischen Psalter (Ps 42-83), den er allerdings anders als dieser nicht in die spätpersische, sondern spätexilische bis früh-nachexilische Zeit datiert (vgl. Ps 51,20 f.; S. 18). Dieser ist aus drei Psalmengruppen und einigen rahmenden Einzelpsalmen (Ps 50; 71-72) zusammengesetzt, von denen die Davidpsalmen (Ps 51-70) sogar noch in spätvorexilische Zeit zurückgehen können (davidische Herkunft! 230), während die Asaph-(Ps 73-83) und Korachpsalmen (Ps 42-49) selber aus der Exilszeit stammen. Entstehungsort sei wahrscheinlich die babylonische Gola; hier sollte die Komposition den Exulanten das Gedenken an den zerstörten Tempel und eine "geistige Wallfahrt nach Jerusalem ermöglichen" (183). Die Dominanz levitischer Psalmengruppen bringt M. mit der Funktion in Verbindung, die den priesterlichen und levitischen Familien nach Wegfall der königlichen Aufsicht über den Kult für den Erhalt des Judentums zuwuchs (184f.). Doch belege die Aufnahme der Davidpsalmen ihre prodavidische Orientierung für die Zukunft. Diese interessante Hypothese hat allerdings das historische Problem, daß nur die Asaphiten (Esr 2,14), nicht aber die Korachiten für die späte Exilszeit belegt sind.

In persischer Zeit ist nach M. die "exilische Klageliturgie" erheblich ausgebaut worden: Es wurde eine zweite Gruppe von Korachpsalmen (Ps 84-88 [89]), angefügt, die kompositorisch einen Lobschluß in Jahwe-Königs-Psalmen erhielt (ca. Ps 92-100). Sodann wurden wahrscheinlich in dieser Zeit auch Ps 1-41 vorgefügt. Neben dem "persischen Psalter" Ps 1-100* gab es nach M. noch eine zweite Sammlung (Ps 111-134 [135f.]), die erst in hellenistischer Zeit mit ihm verbunden wurde und in Ps 138-150 einen neuen Klage-Lob-Abschluß mit rahmendem Rückbezug auf die Davidpsalmen des Anfangsteils erhielt.

Allerdings scheut sich M., den Psalter der persischen Zeit gegenüber den späteren Ausbaustufen "literarkritisch" genau abzugrenzen.

So bleibt im einzelnen vieles in der Schwebe. Dennoch meint M., seine Funktionen klar beschreiben zu können, die sich auch in der Endgestalt kaum mehr verschoben hätten:

Da ist 1. eine "emotionale Tendenz der Umwandlung von Klage in Lob, 2. eine "soziale Tendenz der Integration des Beters in das gemeinsame Gebet Israels", 3. ist der Psalter sowohl ein "Propagandabuch für die Wallfahrt" als auch ein "Ersatz für die Wallfahrt" und 4. dient er "als normierende Größe"Š. für das Privatgebet" (212 f.). Doch während die Rolle des normativen gottesdienstlichen Gebets vom Achtzehn-Bitten-Gebet übernommen wurde, diente der Psalter in frühjüdischer Zeit als "häusliches Gebetsbuch" (245 f.).

M.s hier nur in Umrissen skizziertes Buch stellt zweifellos einen gewichtigen Beitrag zur neuen Diskussion um die Sammlung des Psalters dar. Er führt durch die Berücksichtigung formgeschichtlicher Gesichtspunkte neue Kriterien für das Aufdecken kompositioneller Zusammenhänge ein, die als kritische Ergänzung zu dem bes. von Hoßfeld/Zenger betriebenen Aufweis von Stichwortbezügen und redaktionellen Verklammerungen weiterführend sein werden. Seinen kritischen Bemerkungen zur methodischen Unschärfe von Stichwortverbindungen (25) kann ich nur zustimmen. Dennoch muß sich auch M. fragen lassen, ob er in seinem Bemühen, ein durchgehendes formgeschichtliches Anordnungsschema im gesamten Psalter nachzuweisen, ­ aller Polemik gegen eine "normative Formgeschichte" zum Trotz ­ nicht doch zuweilen den Textbefund preßt, Differenzen zwischen den Einzelpsalmen einebnet und die verwendeten formgeschichtlichen Kategorien bis zur Unschärfe verallgemeinert (vgl. etwa, was er alles unter "Orakel" subsumiert). Die Anwendung der Formgeschichte auf größere literarische Zusammenhänge ist me-thodisch nicht unproblematisch, zumal M. den Sitz im Leben, der die von ihm herausgearbeitete Kompositionsstruktur geprägt haben könnte, kaum aufhellt (vgl. 53 ff.).

Hinderlich wirkt sich aus, daß M. ­ wohl bedingt durch seine Sympathien zum canonical approach ­ nicht konsequent überlieferungsgeschichtlich und d.h. auch literar- und redaktionskritisch arbeitet. Immer wieder deutet er ein mehrstufiges Wachstum der Sammlungen an (Kern-Rahmen, Ergänzungen, weisheitliche Edition etc.), ohne dies genauer textlich zu spezifizieren und historisch einzuordnen. So bleibt der Weg vom Einzelpsalm zu den kleineren und größeren Sammlungen oft im Dunkeln. Die Datierung der Sammlungen wird nicht konsequent an allen Psalmen, die sie enthalten, überprüft; so bleibt es eine offene Frage, ob etwa die exilische Datierung des elohistischen Psalters angesichts von Psalmen wie 49; 52; 62 oder 73, die alle von einer Auseinandersetzung Fromme-Frevler bestimmt sind und ihre nächsten Parallelen im Hiobbuch (vgl. z.B. Hi 31,24-28) haben, wirklich Bestand hat.

Leider konnte M. die Auseinandersetzung mit dem redaktionskritischen Ansatz von Hoßfeld/Zenger noch nicht voll aufnehmen, da deren Psalmenkommentar für sein Buch zu spät erschien. Man möchte aber hoffen, daß nicht vordergründige Aversionen zwischen synchroner und diachroner Methodik verhindern, daß in Zukunft alle Gesichtspunkte, die das historisch-kritische Methodenensemble zur Verfügung stellt, für die wichtige und schwierige Aufgabe, die Sammlung des Psalters und deren Entstehung aufzuhellen, angewandt werden.