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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

461-464

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Meißner, Axel

Titel/Untertitel:

Martin Rades »Christliche Welt« und Armenien. Bausteine für eine internationale Ethik des Protestantismus.

Verlag:

Berlin-Münster: LIT 2010. VIII, 548 S. m. Ktn. gr.8° = Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte, 22. Kart. EUR 45,90. ISBN 978-3-8258-6281-7.

Rezensent:

Stefan Reichelt

Am Hallischen Seminar für Konfessionskunde der Orthodoxen Kirchen der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität entstand diese nun gedruckt vorliegende Dissertation von Axel Meißner unter der Betreuung von Hermann Goltz.
Die Forschung zum Themenkomplex Armenien und Deutschland bestimmen u. a. Arbeiten von Uwe Feigel und Hacik Rafi Gazer, von Hans-Lukas Kieser sowie Martin Tamcke. In nahezu allen genannten Werken wird »Die Christliche Welt« (ChW) er­wähnt und als Materialreservoir herangezogen, in keiner dagegen auch nur annähernd erschöpfend ausgewertet. Zudem erschien Johannes Lepsius’ Nachlass, das Johannes-Lepsius-Archiv in Microfiche-Edition unter dem Titel: Deutschland, Armenien und die Türkei 1895–1925. Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr. Johannes-Lepsius-Archiv an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2004 in München erschienen, hrsg. von Hermann Goltz und M., der so seine Studie auf solide Vorarbeiten gründen kann. Zur Erforschung von Leben und Werk Martin Rades sei exemplarisch noch auf die Arbeiten Friedrich Wilhelm Grafs verwiesen. M.s Studie erschließt Rade wie auch den Dessauer Kirchenrat Ewald Stier dennoch neu bzw. bisher kaum bekannte Seiten dieser (liberalen) Theologen.
Bemerkenswert in M.s Arbeit sind u. a. die thematischen Bibliographien zu den Zeitschriften »Die Christliche Welt« (1886/87–1941 – allein diese erschien in einem Umfang von etwa 60.000 Seiten!), die »Chronik der Christlichen Welt« sowie Schwesterpublikationen wie das Korrespondenzblatt »An die Freunde. Vertrauliche d. i. nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Mitteilungen«, »Das notwendige Liebeswerk/Deutsch-Armenische Blätter«, die »Deutsch-Armenische Korrespondenz« und das »Mitteilungsblatt der Deutsch-Armenischen Gesellschaft«. Selbst die »Sonntagsklänge«, ein Hal­-lisches kirchliches Blatt proarmenischer Basisbewegung, werden ausgewertet. Auf solcher Grundlage – ergänzt durch Studien im Dr. Johannes-Lepsius-Archiv Halle (Saale), mehreren Pfarr- und Landeskirchenarchiven, dem Mesrop-Ma štoc’ Matenadaran in Jerewan, dem Archiv der Mechitharistenkongregation in Wien sowie Studien im Nachlass Rades der Universitätsbibliothek Marburg – entfaltet M. seine Untersuchung. Dabei geht er weitgehend deskriptiv vor, sammelnd und in Ansätzen auswertend. Flankierend werden Fakten benannt, »katastrophale Höhe- oder Endpunkte einer längeren Geschichte« (14). Exemplarisch zeichnet M. Spiegelungen der Massaker an den Armeniern in der ChW, einem Hauptmedium des (liberalen) Protestantismus, sowie Wirkungen von Aktionen nach.
Auf die Frage nach der Rezeption ist zu lesen (15, Anm. 66): »Erschien sie auch in höchstens 5000 Exemplaren, hatte sie doch »ihren Platz gegen nahezu hundert selbständige evangelische Zeitschriften, die in mehreren Millionen Exemplaren gedruckt wurden, zu behaupten. Dabei ist zu beachten, daß die ChW vielerorts in Lesezirkeln ausgewertet wurde, so daß der partizipierende Personenkreis wohl ein Vielfaches des Abonnentenkreises betrug; 5000 Menschen in Deutschland abonnierten die ChW, aber 20 000 lasen sie.« Zugute kam der von vielen gelesenen Zeitschrift, dass sie sich weder politisch noch theologisch einer Richtung verpflichtete. Im Jahr 1896 waren acht Prozent der Beiträge dem Armenien-Thema gewidmet.
Nach Vorwort und Einleitung, bestehend aus den Punkten Vergegenwärtigung, (1–3) Forschungsdiskussion, Fragestellung und Ziele (10 f.), Aufbau der Arbeit, Quellen (11–14), Methode (14) und Martin Rade als Herausgeber der »Christlichen Welt« (15–17), werden drei konzentrische Kreise um das Thema Deutschland und Armenien gezogen: 1. Die armenische Frage und Deutschland 1878–1940 im Spiegel der ChW; 2. Die deutsche Armenierhilfe 1896–1942 im Spiegel der ChW (291–339) und 3. »Das notwendige Liebeswerk« (1892–1920) (NLW). Zusam­menfassung und Ausblick sowie ein Summary (434–440) geben wesentliche Ergebnisse konzentriert wieder. Ab­kürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis (443–518), Personen-, Orts- und Sachregister sowie zwei Karten (547 f.) beschließen die Studie.
Im ersten Teil setzt M. beim Berliner Kongress 1878 ein und stellt aktive Streiter in ihrer Hoffnung auf den Protest der christlichen Welt vor wie Ernst Lohmann, Willibald Beyschlag und Paul Rohrbach (60). Allein 1895 wurden 80.000 Armenier ermordet (94), hör- und sichtbares »Todesröcheln und Martyrium des armenischen Volkes« (96), eine Schande für die europäische Christenheit. Hans Delbrück bemerkte, Schweigen sei Verrat an Religion, Wissen und Kultur des deutschen Volkes (99 f.). Auch die Geschichte der Armenierhilfe in Deutschland war nicht zuletzt eine Geschichte von Schikanen, Verfolgungen und Verboten, einer auf dem Altar der Staatsraison geopferten Menschlichkeit (132). Viel zu oft siegte nationales Interesse über allgemeinmenschliches Ethos.
M. stellt mit Rade die Armeniermassaker in große Zusammenhänge, wie etwa die Burenkriege, frühe Abd-ul-Hamidische Massaker, Armenier- und Judenpogrome in Russland 1903 bis 1905 etc., und löst so das im Untertitel gegebene Versprechen, Bausteine für eine internationale Ethik des Protestantismus erstellen zu wollen, in einem erfreulich weiten Horizont ein. Neben Armeniern traf auch Syrer, Pontos-Griechen und andere Ethnien der systematische Vernichtungswille des jungtürkischen Regimes (213, Anm. 1007). Begründet wurden die Massaker mit »kriegsnotwendiger Dislokation« etwa an der russisch-türkischen Grenze bei Kriegseintritt der Türkei (217) sowie der »Niederschlagung revolutionärer Umtriebe«. Auch die »formaljuristische Grundlage für die Deportation« verschweigt M. nicht (214, Anm. 1015), ebenso wenig die Möglichkeit einer Rettung, die in der Konversion zum Islam bestand (214 f.).
In sieben Jahren hatte Armenien neun Zehntel des Territoriums und ein Drittel der Bevölkerung verloren. So sprach der Polarforscher und spätere Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen vom »betrogenen Volk« (251 f.) und Stier schrieb: »Armenien hat keinen Helfer auf Erden. Es ist von allen getäuscht, betrogen, verraten, auch von denen, die seine Beschützer zu sein heilig versprochen haben. Ein sterbendes Volk: man ist versucht zu fragen: Wann wird der letzte Armenier vom Erdboden verschwunden sein? Es ist alles dunkel, nirgends ein Lichtstrahl. Finis Armeniae.« (267) Rade antwortete auf die Frage nach dem Grund seines unermüdlichen Engagements für die Armenier: »Weil sie die Allerunglücklichsten sind.« (168) Ab 1915 gehörte die ChW zu den wenigen der Vorzensur unterworfenen Zeitschriften.
Den zweiten Teil widmet M. der Deutschen Armenierhilfe von den Abd-ul-Hamidischen Massakern über den Ersten Weltkrieg bis zum Beginn des Zweiten. – Fand das notleidende armenische Volkauch lebhafte Resonanz und große Unterstützung in der evange­lischen Kirche (304), war doch die Form der Hilfe keineswegs unumstritten. So verband Rade »zu diesem Zeitpunkt mit der prak­tischen Hilfe die Hoffnung auf die Stärkung des protestantischen Elements in Armenien« (291). Neben der »Deutsche[n] Orientmission« Johannes Lepsius’ wurden »Das notwendige Liebeswerk« und der »Hilfsbund für christliches Liebeswerk im Orient« Ernst Lohmanns ge­gründet, um die Folgen der Massaker an den christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich nach Möglichkeit zu lindern und die deutsche Öffentlichkeit für die Verbrechen zu sensibilisieren (313). Auch dem Beitrag von Mitarbeitern wie Karen Jeppe und Jakob Künzler sowie Publizisten wie Rade und Stier widmet M. Raum.
Ein dritter Teil, dem »Notwendige[n] Liebeswerk« gewidmet, benennt Aktivitäten wie die Unterstützung junger Geistlicher der Armenischen Apostolischen Kirchen, die in Deutschland studierten, etwa in Berlin, Halle, Heidelberg, Leipzig oder München. Ob­wohl die Kandidaten nach ihren Studien Harnack und Schleiermacher besser kannten als ihre eigenen Kirchenväter (414), die heikle Kirchenreformfrage offen und die Furcht vor schleichender Protestantisierung ein steter Begleiter blieb, kommt M. doch zu dem Schluss: »Die Geschichte des NLW ist trotz aller Enttäuschungen eine Erfolgsgeschichte.« Das einzige aus dem Kulturprotestantismus hervorgegangene karitative Werk »ist ein Beispiel gelungener interkonfessioneller Kooperation in präokumenischer Zeit und des Dialogs zwischen zwei Kulturen« (364).
Fünf armenische Stipendiaten konnten mithilfe des NLWs an deutschsprachigen Universitäten studieren und zahlreiche weitere ideelle und materielle Unterstützung während ihres Aufenthalts in Deutschland und darüber hinaus erfahren (433). Seine außerordentlichen Anstrengungen begründet Stier mit den Worten: »Wir wären in der Tat Barbaren, wenn wir ein christliches Volk von über einer Million vernichten ließen, ohne für es das Aeußerste zu tun, was die Kriegslage uns gestattet. Es ist wenig genug. Aber unser Ruf als christliches Volk wird in der Welt davon abhängen, ob wir unsere Christenpflicht erfüllt haben.« (425)
Mit der biographischen Skizze des durch die Hallische Theolo­gische Fakultät ehrenpromovierten Ewald Stier leistet M. einen Beitrag zur Kirchengeschichte Anhalts. In Zusammenfassung und Ausblick gewinnt M.s Hoffnung Ausdruck: »Sollten aufgrund der vorgelegten Untersuchung in Zukunft bei der Erforschung des Be­ziehungsgeflechts Deutschland und Armenien neben Lepsius und Lohmann in Zukunft auch die Namen Rade, Stier, Gelzer, Socin, v. Harnack und all die anderen berücksichtigt werden, ist das Ziel der vorgelegten Arbeit erreicht.« (437)
M.s Stil bleibt bei großer Fülle des bewältigten Materials stets flüssig, lesbar, packend und verantwortet – eine reife Frucht jahrelanger Arbeit. Kleinere kompositorische Reserven rufen Verwun­derung hervor. So werden im zweiten Teil Johannes Lepsius und Martin Rade wieder eingeführt, von deren Ableben im ersten bereits be­richtet wurde (e. g. 282 und 333 f. ). Adolf Keller findet bereits auf S. 134 und 289 Erwähnung, wird jedoch erst S. 431 mit einem Biogramm eingeführt, ebenso Paul Schütz, der auf S. 285 und 336 er­wähnt, aber erst auf S. 431 eingeführt wird. Doch derlei ist bei der bewältigten Materialmenge nachsehbar.
Schwer wägbare Fakten hat M. zusammengetragen. Er ordnet eine bislang wenig bekannte Facette des liberalen Protestantismus internationaler Ethik desselben zu – sein bleibendes Verdienst. Quellen- und Literaturverzeichnis allein, etwa die Quellenbibliographie auf S. 444–486, sind ehrenvoll und ermöglichen seltene Funde. Für seine ansprechende Studie von hoher Qualität, die sich in den Detailinformationen ebenso zeigt wie im Aufzeichnen großer Zusammenhänge, sei M. gedankt. Der Arbeit sei weite Verbreitung gewünscht.