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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

457-459

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Jehle-Wildberger, Marianne

Titel/Untertitel:

Adolf Keller (1872–1963). Pionier der ökumenischen Bewegung.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2008. 588 S. m. 1 Porträt u. Abb. gr.8°. Lw. EUR 44,00. ISBN 978-3-290-17473-6.

Rezensent:

Simone Sinn

Der Schweizer Theologe Adolf Keller war ein Ökumeniker der ersten Stunde, tatkräftig brachte er in der ersten Hälfte des 20. Jh.s die Vernetzung von Kirchen und den Aufbau zwischenkirchlicher Nothilfe voran und trug zum theologischen Austausch über Länder- und Kulturgrenzen hinweg bei. Damit gehört Keller, so Lukas Vischer im Geleitwort, »ohne Zweifel zu den Architekten des Ökumenischen Rates der Kirchen«. Als ein »von theologischen Überzeugungen geleiteter Pragmatiker« hat Keller in mehrfacher Hinsicht für die ökumenische Bewegung Pionierarbeit geleistet.
Die Historikerin Marianne Jehle-Wildberger hat mit dieser Biographie Person und Werk Adolf Kellers sichtbar gemacht und dabei nicht zuletzt kenntnisreiche Einblicke in die kirchliche Zeitgeschichte vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges gegeben. Umfangreiches Quellenmaterial bildet die Grundlage dieser Biographie, dazu gehören Kellers eigene Buchveröffentlichungen und Artikel, seine Briefkorrespondenz mit führenden Personen in Kirche und Theologie ebenso wie Protokolle und Berichte von ökumenischen Tagungen. In dem detailreichen Porträt kommen Keller und seine Gesprächspartner in vielen Zitaten selbst zu Wort. Damit werden die Konturen des regen Austauschs und der historischen Herausforderungen deutlich, die Kellers Leben und Arbeiten prägten. Dass er sich fließend in drei Sprachen verständigen konnte, zeigen die deutsch-, englisch- und französischsprachigen Zitate.
J.-W. stellt Kellers Leben bis einschließlich zum Ersten Weltkrieg in den Kapiteln I.–III. im Wesentlichen chronologisch dar. Den Krieg hat Keller als ein prägendes zeitgeschichtliches Ereignis erlebt; für ihn galt es, auf die konkrete Not wie auf die theologischen Grundfragen zu reagieren. Keller ist nach dem Krieg gleichzeitig auf mehreren Arbeitsfeldern aktiv gewesen. Die stärker thematische Gliederung der Biographie in den Kapiteln IV. bis VIII. entspricht den verschiedenen Tätigkeitsbereichen. Im IX. Kapitel rücken zusammenfassend noch einmal der Mensch Adolf Keller und die Beziehungen, die ihn geprägt haben, ins Blickfeld. Das Buch schließt mit einem umfangreichen Personenregister mit Le­bensdaten und kurzen Hinweisen zur jeweiligen Person.
In Kellers Biographie ist prägnant, dass er gleich zu Beginn seiner pfarramtlichen Tätigkeit sich auf einen fremden Kulturkreis einließ und von 1896–99 als Pfarrer in der Deutschen Evangelischen Gemeinde in Kairo tätig war. Zurück in der Schweiz übernahm er zunächst das Pfarramt »auf Burg« bei Stein am Rhein, danach in Genf und schließlich an St. Peter in Zürich. Am Ende der Genfer Zeit wurde Karl Barth als Vikar zu Keller geschickt. Aufgrund Kellers Weggang nach Zürich war die direkte Zusammenarbeit kurz, der persönliche Kontakt und der theologische Austausch aber blieben bis zum Lebensende bestehen. In seiner Genfer Zeit hat sich Keller auch für die Psychologie zu interessieren begonnen. Für die erste Auflage der RGG schrieb Keller den Artikel über Psychoana­lyse. Seine Frau teilte Kellers Interesse, sie wurde eine der ersten Psychiaterinnen der Schweiz.
Gegen Ende des Ersten Weltkriegs hat Keller die Notwendigkeit einer stärkeren Einigung des Schweizer Protestantismus gesehen, sowohl um des inneren Zusammenhaltes als auch um der Außenkontakte willen. Nach seiner ersten Amerikareise im Jahr 1919 hat Keller dies mit Nachdruck auf der Jahresversammlung der Kirchenkonferenz vertreten und damit die Gründung des Schweize­rischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) 1920 entscheidend vorangebracht. Keller wurde deutschsprachiger Sekretär des SEK und hat in den ersten 20 Jahren des SEK viel zu seiner gesellschaftspolitischen Profilierung beigetragen.
Während seiner Amerikareise begriff Keller, wie wichtig und zugleich wie wenig selbstverständlich Verständigung und Verstehen für Christen über nationale und kulturelle Grenzen hinweg ist. Dies tat nach dem Krieg bitter not. Mit seinem Buch »Dynamis« hat er 1922 einen wegweisenden Beitrag dazu geleistet, Chris­ten in Europa die andersartige religiöse Mentalität in Amerika verständlich zu machen. Mit »Protestant Europe« (1927) brachte er umgekehrt Amerikanern europäisches Christentum näher. Diese transkontinentale Vermittlungsarbeit vertiefte Keller auf seinen zahlreichen Reisen in Amerika und in Europa. Dabei war Keller wohl der Erste, der die dialektische Theologie ab 1925 als »Theology of Crisis« im englischsprachigen Raum bekannt machte.
Eine große organisatorische Leistung vollbrachte Keller im Aufbau der »Europäischen Zentralstelle für kirchliche Hilfsaktionen«. Angesichts der großen Not zahlreicher Kirchen nach dem Ersten Weltkrieg überzeugte er Kirchenführer, eine Zentrale einzurichten, die die zwischenkirchliche Nothilfe koordinierte. Wesentlich getragen war sie zu Beginn vom schweizerischen und amerikanischen Kirchenbund. Als ihr Leiter trug Keller von 1922 an Berichte von den betroffenen Kirchen zusammen und war bei den Geberkirchen unermüdlich als Fundraiser aktiv. Keller war mit innovativen Ideen an der konzeptionellen Arbeit beteiligt, sein Verdienst war es, dass bald auch ein »leadership programme« für zukünftige Kirchenleitende in Osteuropa entstand. Stipendien und Austauschprogramme im theologischen und nicht-theologischen Be­reich wurden ins Leben gerufen. Über die Jahre wandelte sich die Nothilfe zur Aufbauhilfe, der geographische Radius weitete sich und schloss schließlich den Vorderen Orient, Russland und China ein. Doch die Weltwirtschaftskrise wirkte sich negativ auf die ma­terielle Leistungsfähigkeit der Zentralstelle aus. Ab 1933 wurde die Flüchtlingshilfe für die dem Nazi-Regime Entronnenen zunehmend zu einem vordringlichen Aufgabenfeld.
Für Keller war die konkrete humanitäre Arbeit der Zentralstelle aufs Engste mit den Zielen der Bewegung für Praktisches Christentum (Life and Work) verbunden. Kellers Engagement in Vorbereitung zur Weltkonferenz für Praktisches Christentum 1925 wurde von Bischof Söderblom sehr geschätzt. Keller hatte vermutlich von allen Delegierten den besten Überblick über die Situation des Christentums »in aller Welt«. Als 1926 von Life and Work das Internationale Sozialwissenschaftliche Institut gegründet wurde, wurde Keller zu dessen Leiter ernannt. Als 1930 Life and Work reorganisiert wurde, trat Keller von seinem bisherigen Posten zurück und übernahm Leitungsverantwortung im Bereich Außenarbeit und Bildung. Als wegweisend kann seine Einführung einer »Ökumenischen Kirchenkunde« gelten sowie die Konzeption des »Ökumenischen Seminars«. Ihm wurden Ehrendoktorwürden in Genf, Yale und Edinburgh zuteil sowie eine Titularprofessur in Zürich. Keller hat in vielen Bereichen der ökumenischen Bewegung mitgewirkt, innovative Ideen eingebracht und Strukturbildungen vorangetrieben.
Theologisch waren für Keller Barth und Brunner wichtige Gesprächspartner. Dem kritischen Verhältnis der dialektischen Theologie zur ökumenischen Bewegung geht er in seinem Buch »Der Weg der dialektischen Theologie durch die kirchliche Welt« (1931) nach. In seiner Analyse zeigt er Parallelen zwischen der ökumenischen Bewegung und der dialektischen Theologie auf, insofern beide auf eine eminente Krise der Kirchen reagierten und gemeinsam dazu beitragen könnten, »kirchlichen Nationalismus« und »verengten Konfessionalismus« zu überwinden. Es war nicht zuletzt die dialektische Theologie, die Keller ab 1933 im Umgang mit den deutschen Kirchen im Kirchenkampf ein Rück­grat verlieh. In der ökumenischen Bewegung gehörte er zu den Ersten, die die Entwicklungen kritisch wahrnahmen. Keller hatte J.-W. zufolge eine »aussergewöhnliche Klarsicht bei der Beurteilung des Nationalsozialismus, aber auch der anderen totalitären Systeme« (432). Für Keller war es eine Freude, dass sowohl Barth als auch Brunner mit ihren Referaten einen Beitrag zur Gründungskonferenz des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 leisteten. Ohne Keller wäre es wohl kaum dazu gekommen.