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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

455-456

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Rüter, Friederike

Titel/Untertitel:

Späte Trauer. Eine Studie zur seelsorglichen Begleitung Trauernder.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009. 251 S. gr.8° = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 40. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02696-8.

Rezensent:

Jürgen Ziemer

Vielleicht ist die Trauersituation in allen ihren unterschiedlichen Aspekten eines der sozialwissenschaftlich, psychologisch und poimenisch am besten untersuchten Felder menschlichen Erlebens. Praktisch-theologisch hatte zuletzt Kerstin Lammer in ihrer Arbeit »Den Tod begreifen« (2003) mit der Forderung einer umfassenden »perimortalen Trauerbegleitung« neue Akzente setzen können. Ge­legentlich fragt man sich, was es auf diesem Felde denn noch zu entdecken gibt. Freilich, in solch einem elementaren Erlebensbereich, wie es die Trauer darstellt, werden sich immer neue, bisher unbedachte, existentiell jedoch oft sehr folgenreiche Konstellationen individueller Erfahrung zeigen, die unsere Aufmerksamkeit fordern.
Unter dem Titel »Späte Trauer« widmet sich Friederike Rüter in ihrer bei Wilfried Engemann in Münster verfertigten Dissertation einem solchen Thema. Sie geht darin von der These aus, »dass Menschen nicht selten aus guten Gründen einen Trauerprozess erst zu einem späteren Zeitpunkt, d. h. lange nach dem Erleiden des Verlustes zu durchleben beginnen.« (33) R. spricht bewusst wertneutral von »späten«, nicht, wie häufig in der Fachliteratur zu lesen, von »pathologischen« Trauerformen. So bewahrt sie sich vor einer problematischen »Bewertung und Kategorisierung« nach dem Modell von »gesund und krank, richtig und falsch« (77). Als Krankenhausseelsorgerin auf einer psychiatrischen Station wie als Gemeindepastorin bringt R. beste Voraussetzungen für eine realitätsnahe und situationsgemäße Darstellung des Themas mit.
Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen nach einem standardisierten Verfahren dokumentierte Erfahrungsberichte, alle ohne Ausnahme aus der eigenen Praxis: sechs davon aus der Arbeit in der Psychiatrie, in bemerkenswert enger und fruchtbarer Kooperation mit dem therapeutischen Team der Station, sechs weitere aus der Gemeindearbeit. Es verwundert nicht, dass die Berichte aus der Ge­meinde weniger ausführlich und vor allem auch weniger spezifisch sind. Dafür stellen sie jedoch durchaus typische Beispiele für normale gemeindliche Seelsorgepraxis dar. Die trauernden Personen auf der Station stehen in jüngerem Alter, die psychiatrische Symptomatik (z. B. Depressivität, Ess­störungen) ist offenkundig, Seelsorge geschieht hier als quasi therapeutisches Segment in einem um­fassenderen psy­chotherapeutischen Prozess, bei den Gemeindefällen handelt es sich meist um ältere Menschen, die z. B. Verluste aus der Kriegs- und Nachkriegszeit nachholend zu verarbeiten haben.
Der empirische Teil der Untersuchung wird im Kontakt mit Methoden der qualitativen Sozialforschung (»dichte Beschreibung«, Grounded theory) angegangen. Das bedeutet auch, die inhaltliche Auswertung erfolgt materialbezogen, dafür werden in einem induktiven Verfahren Untersuchungsfragen formuliert (101), die auf jede einzelne Fallstudie angewendet wurden. R. be­wertet ihre eigene Rolle im Forschungsprozess als die »teilnehmender Beobachtung«. Sie beschreibt diese Rolle in der theore­tischen Reflektion ihres Vorgehens sehr genau (110 ff.). Dennoch bleibt bei der praktischen Durchführung der einzelnen Fallstudien hier eine Schwachstelle. Wie weit R. – abgesehen von der Symbolfunktion der pastoralen Berufsrolle, die ihr sehr bewusst ist – durch ihre Persönlichkeit, durch ihren Interventionsstil, durch ihr theologisches Profil usw. den seelsorglichen Kommunikationsprozess beeinflusst hat, das bleibt unreflektiert. Hier hätte man sich ein zusätzliches kritisches Element durch (wenigstens indirekte) Fremdbeobachtung gewünscht. Zu denken wäre z. B an eingefügte Sequenzen aus der begleitenden Supervision, von der R. im Vorwort spricht; diese hätten durchaus in das Design der Arbeit integriert werden können.
Der empirischen Studie vorgeschaltet ist, wie bei einer Dissertation nicht anders zu erwarten, ein ausführlicher Teil zur Darstellung der Trauerforschung, zur Theologie in der Trauersituation und zu den Spezifika später Trauer. Für den Trauerprozess und die Ermittlung der Traueraufgaben geht R. von Verena Kast aus, nimmt Modifikationen von Worden, Rando und Lammer auf. Das ist sehr übersichtlich und hilfreich, gelegentliche Redundanzen nimmt man in Kauf. Die theologische Todesthematik wird dann vor allem durch ausführliche Referate einiger unserer Großdogmatiker abgehandelt. Die Darstellungen und Zitate sind eindrucksvoll, dennoch: Hier hätte man sich etwas weniger Jüngel, Härle und Barth gewünscht und dafür etwas mehr Friederike Rüter! Dann wäre der Bezug zur seelsorglichen Thematik der Untersuchung vielleicht auch deutlicher hervorgetreten. Vor allem mit Eberhard Jüngel betont R., dass theologisch gesehen und gleichsam als in­-nere Richtschnur für die seelsorgliche Begleitung »nicht der Tod das letzte Wort hat, sondern das Bekenntnis zum auferstandenen Chris­tus« (60). Die Leere und Ratlosigkeit, die sich nach dem Ab­schied von einem nahen Menschen oft für Trauernde ergibt, nicht als Situation der Gottverlassenheit zu verstehen, ist der theolo­gische Ausgangspunkt für alle seelsorgliche Begleitung.
Ein Wort noch zur Seelsorgekonzeption, soweit diese hier erkennbar wird. Die praktischen Beispiele zeigen R. selbständig und souverän, wenig im engeren Sinne schulgebunden. Besonders eindrucksvoll ist, wie sie die Kooperation auf der psychiatrischen Station mit Leben erfüllt. Da hätte ruhig etwas detaillierter dargestellt werden können, wie sie diese Form der Zusammenarbeit als Seelsorgerin konzeptionell versteht und begründet. Auch beispielsweise der un­gewöhnliche, aber hier durchaus plausible Einsatz der Seelsorgerin für Frau Baum bei der Beschaffung eines Fotos der Leiche des Bruders wäre einer poimenischen Reflektion wert gewesen.
Die einzelnen Fallstudien eignen sich im Übrigen sehr gut als Anregungen für Gespräche über Trauer und Trauerseelsorge. Dabei würden sich an der einen oder anderen Stelle auch einige weiterführenden Detailfragen ergeben. So erscheint mir in der zwölften Studie der Hinweis auf die fünfte Bitte des Vaterunsers doch etwas flott (206), was freilich R. auch selbst bemerkt zu haben scheint. Insgesamt ist die Arbeit ein hilfreicher und deutlicher Hinweis auf einen nicht zu unterschätzenden Aspekt christlicher Seelsorge.