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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

452-455

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Reinke, Stephan A.

Titel/Untertitel:

Musik im Kasualgottesdienst. Funktion und Bedeutung am Beispiel von Trauung und Bestattung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 290 S. gr.8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-525-60127-3.

Rezensent:

Jochen Arnold

Fürwahr, es ist ein weites und noch immer wenig bearbeitetes Feld, auf das sich der Kirchenmusiker Stephan A. Reinke mit seiner Paderborner Dissertation (Fakultät für Kulturwissenschaften) begibt: Er beansprucht, das Thema »Musik im Kasualgottesdienst« nicht nur praktisch-theologisch, sondern auch musik- bzw. kulturwissenschaftlich neu zu beleuchten und kann dazu u. a. die Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Studie (in Zusammenarbeit mit dem Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD und der e-mares Innovationsforschung) fruchtbar machen. Die Untersuchung be­schränkt sich exemplarisch auf Trauung und Bestattung.
In einer knappen Einleitung formuliert R. »ein Plädoyer für einen Wandel im kirchenmusikalischen Selbstverständnis, der über die überkommenen Funktionsbeschreibungen hinausgeht«, als »Ausgangspunkt für eine Ästhetik moderner Kirchenmusik«, die sich den »spezifischen Anforderungen der Gegenwart stellt« (20). Es geht ihm um eine Theorie der Kasualmusik, die sich von anderer liturgischer Musik und konzertanter Kirchenmusik signifikant unterscheidet.
In Kapitel 2 werden Begriffsklärungen vorgenommen und me­thodische Voraussetzungen dargelegt. Dazu gehört die Einordnung der Kasualien in eine »kirchlich-institutionelle und eine familiär-biographische Logik«, mithin in das Spannungsfeld von Kirche und (sozialer) Kultur. Musikalisch be­denkt R. Stücke aus Klassik, Volksmusik, Pop usw., die tatsächlich gespielt werden, also nicht nur Literatur, die für Kasualien komponiert wurde (vgl. 28 f.). In der Diskussion um die Kasualmusik sieht R. ein Beziehungsdreieck von Angehörigen, Pfarrern und Kirchenmusikern auf dem Plan. Methodisch nimmt er das soziologische Instrument einer sog. Grounded Theory auf, das et­was nebulös und ziemlich aufgebläht wirkt. Es geht dabei um eine pragmatische ausgerichtete Theoriebildung, die empi­rische Daten als Korrektiv bereits existierender Theorien einbezieht, um im Wechselschritt von Hypothesenbildung und Da-tenerhebung zu einer neuen Theo­rie­formulierung zu gelangen (»qualitative Induktion« und »Abduktion«). Musikwissenschaftlich möchte R. die »kulturelle Einbettung des Musikprozesses in den Blick nehmen«, also untersuchen, wie Musik performativ entsteht und ästhetisch rezipiert wird.
Kapitel 3 stellt klassische Positionen der Praktischen Theologie zwischen Ru­dolf Bohren (1960) und dem EKD-Impulspapier »Kirche der Freiheit« (2006) dar. Ein wichtiger Gesprächspartner der Gegenwart ist E. Hauschildt, der R. zu folgender Aussage bringt (59): »Ein vorurteilsfreier Umgang mit Kasualmusik setzt voraus, die eigene Milieuverhaftung zu erkennen und sich auf die grundsätzlich verschiedenartigen kulturellen Vorlieben anderer einzulassen.« Zentrale Aufgabe der Pfarrer und Kirchenmusiker ist es daher, aufgrund der Kenntnis eines familiären Milieus, Musik und Ritual (samt Predigt) auf die jeweilige Zielgruppe auszurichten. Es geht R. um eine hermeneutische Kompetenz seitens der Hauptamtlichen, die z. B. Musikwünsche nicht vorschnell ablehnt, sondern hinter sie zurückfragt, um das dahinter steckende Anliegen zu entdecken und biblische Bezüge herstellen zu können. Ein Blick in die neueren Agenden zu Trauung und Bestattung zeigt, dass der Musik in der Regel eine atmosphärisch-emotionale und eine seelsorgliche Dimension zugeschrieben wird. Damit rückt die schon reformatorisch geläufige affektive Qualität der Musik in den Mittelpunkt. Gemeinsam ist den Agenden außerdem das prinzipielle Festhalten am Gemeindegesang und eine hohe Skepsis gegenüber dem Einsatz von Tonträgern.
Das zentrale Kapitel 5 stellt – nach einer in den Verlauf der Diskussion nicht wirklich eingebundenen historischen Erinnerung in Kapitel 4 – die an der empirischen Erhebung durch fokussierte Interviews beteiligten Gruppen (insgesamt ca. 50 Personen) vor: 1. Kirchliche Verantwortliche (Kirchenmusiker und Pfarrer, die nicht unterschieden werden!), 2. freie Ritualbegleiter, 3. Brautpaare, 4. Trauzeugen und 5. trauernde Angehörige. Innerhalb der letzten Gruppe wurden auch soziale Unterschiede berücksichtigt.
Das erste Erkenntnisinteresse R.s besteht darin, die Erwartungshaltung der Betroffenen zur Musik bei Kasualien, aber auch ihre Erfahrungen damit besser kennen zu lernen. Dabei wird das gemeinsame Singen ebenso abgefragt wie der christliche Bezug der Musik. Der »gottesdienstliche Rahmen« kommt zur Sprache. Aber auch der Aspekt der Konkurrenz auf dem öffentlichen Markt (d. h. auch außerhalb von Kirche) wird bedacht.
Aus der Fülle der Statements zieht R. ein vorläufiges Resümee (166-169), das u. a. folgende Aspekte enthält: Musik hat für alle Beteiligten eine hohe Bedeutung: psychologisch, dramaturgisch und ästhetisch. Sie hält Erinnerungen an Verstorbene wach und kann Trost spenden. Der christliche Bezug einer Musik scheint dagegen nicht so wichtig zu sein. Die Tatsache, dass sie in der Kirche erklingt bzw. gar von der Orgel gespielt wird, genügt vielen. Dass Lieder und Musik im Kasualgottesdienst der Verkündigung dienen sollen, wird von den meisten nicht erwartet. Musik ist dann für die Angehörigen plausibel, wenn sie »affektiv entschlüsselbar« ist. »Insgesamt sind die meisten Musikwünsche ausgesprochen konventionell. Auf Seiten der Kasualsuchenden herrscht großes Verständnis für kirchliche Notwendigkeiten.« (168) »Das gemeinsame Singen wird im Allgemeinen positiv bis neutral bewertet«. (169) Soziale Unterschiede fallen deutlich weniger ins Gewicht als vermutet.
Der wissenschaftliche Ertrag für eine Kasualtheorie wird im folgenden Kapitel 6 unter zwölf programmatischen Überschriften und einem Fazit vorgetragen. R. möchte z. B. das theologische Leitbild der musikalischen Verkündigung durch das der Kommunikation ersetzen und zu einem Umgang mit dem Medium Musik anleiten, der Menschen »in eine kommunikationsbereite Stimmung« (182) versetzt, also nicht an sich schon Evangelium mitteilt. Er wehrt sich deutlich gegen eine Funktionalisierung der Musik, die ihre Freiheit gegenüber dem Wort behalten soll.
Bestes Beispiel dafür sei die Popmusik mit einer klaren »Nachrangigkeit des Textes« (185). Im Unterschied zur Musik im Sonntagsgottesdienst solle Kasualmusik stärker den individuellen »geistlichen« Bedürfnissen der Besucher entsprechen. Von daher ergibt sich das Desiderat stilistischer Offenheit bzw. radikaler Pluralität (vgl. 243). R. betrachtet es als anspruchsvolle Aufgabe, Ka­sualien als Inszenierungen zu begreifen, die in der Spannung zwischen christlicher Botschaft und persönlichen Erwartungen stehen, wobei die Musik dazu helfe, das Evangelium »situativ zu aktualisieren.« (202). Milieutheoretische Ausführungen mit musikalischen Zuordnungen vermisst man allerdings.
Das zentrale Anliegen R.s besteht darin, hinter den Musikwünschen der Menschen, ein theologisches und seelsorgliches Bedürfnis zu entdecken und aufzunehmen. Besonders einleuchtend ist die diakonische Zuspitzung der Bedeutung der Kasualmusik (6.9) unter dem Vorzeichen der »Menschenfreundlichkeit«. Gegenüber dem (aktiven) Singen nimmt R. eine sehr zurückhaltende Position ein mit der Begründung, dass auch hier »für die Kasualien andere Gesetze« (235) gelten als für den Gottesdienst am Sonntag. Es sei unter Umständen unbarmherzig, Trauernden ein Lied abzuverlangen, und selbst bei Trauungen nicht förderlich, wenn »missmutig« gesungen würde. Diese Einsichten sind nicht gerade revolutionär. Vielleicht helfen sie ja manchen Kollegen, an dieser Stelle nicht »dogmatisch« zu verfahren. Allerdings könnten sie auch gefähr­- liche Auswirkungen nach sich ziehen: Traut Kirche sich denn schon gar nicht mehr, noch zum Singen einzuladen, vor lauter Angst, man könnte den Menschen zu nahe treten? Hier wäre ein fröhlicher, gleichwohl professioneller Impetus (womöglich mit Hinweis auf die sog. Kernliederliste in der EKD) mit praktischen Hinweisen überzeugender gewesen.
Die homiletischen Hinweise in Kapitel 7.1 lesen sich als spannende Anregungen, selbst einfache Schlager positiv aufzunehmen und mit der biblischen Botschaft in Verbindung zu bringen bzw. die Lebensgeschichte des Komponisten mit der des Brautpaars oder des Verstorbenen zu verknüpfen. Mutig ist der Versuch, auch Grenzen zu ziehen (7.2). Dazu gehören klassischerweise eine »anti-christliche« Aussage, massive Selbstinszenierungen (von Brautleuten) sowie jedwede Manipulation durch Musik. Das Totschlagargument »Qualität statt Kitsch« fehlt. Gott sei Dank. Es ist auch schlechterdings nicht messbar. Und meist verbirgt sich dahinter der persönliche Geschmack »relativ bornierter kirchlicher Verantwortungsträger« (vgl. 168). Positiv gewendet: Gute Kasualmusik (7.3) schafft »Geborgenheit und Sicherheit«, gestaltet eine »dem Alltag enthobene Atmosphäre«, wirkt seelsorglich und ermöglicht aktive Partizipation, sie unterhält im dreifachen Sinne des Wortes (vgl. Schroeter-Wittke), d. h. nährt, kommuniziert und erfreut.
Insgesamt ist die Arbeit nah am soziologisch-ästhetischen bzw. empirischen »Mainstream« Praktischer Theologie, ohne dabei einseitig nur ein Paradigma (z. B. Theater oder Ritual) zu bedienen. Sie nimmt viele theologische und kulturwissenschaftliche Fragestellungen explizit auf. R. verfährt vorwiegend deskriptiv, bietet aber durch die qualitative Untersuchung und ihre komprimierte Darstellung (!) erfreuliche »Grenzüberschreitungen«, die sowohl der kirchenmusikalischen als auch der theologischen Zunft gut tun. Das Desiderat der Offenheit in der musikalischen Stilistik so­wie der hermeneutisch-seelsorgliche Grundansatz leuchten ebenso ein wie das theologische Prinzip der Menschenfreundlichkeit und der Milieuüberschreitung. Dass dabei für das eigene evangelische Profil wenig Platz bleibt, mag man bedauern. Die Verschiebung von der Verkündigung auf bloße Kommunikation überzeugt mich nicht. Und warum man lieber auf das Singen der Ge­meinde als auf die Orgelmusik verzichten soll, wird nicht plausibel (266 f.).
Dennoch: Ich wünsche dem Buch eine rege Verbreitung, nicht zuletzt als Impuls für das interdisziplinäre Gespräch über den (Kasual)gottesdienst und seine Musik.