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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

449-451

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kehlbreier, Dietmar

Titel/Untertitel:

Öffentliche Diakonie. Wandlungen im kirchlich-diakonischen Selbstverständnis in der Bundesrepublik der 1960er- und 1970er-Jahre.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009. 375 S. gr.8° = Öffentliche Theologie, 23. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-374-02641-8.

Rezensent:

Thomas K. Kuhn

Für die Entwicklung der institutionalisierten Diakonie in der Bun­desrepublik Deutschland stellte die Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes und des Jugendwohlfahrtsgesetzes im Jahr 1961 eine elementare Zäsur dar, weil diese Gesetze ein neues Paradigma sozialer Praxis inaugurierten und das überkommene Almosenprinzip ersetzten. Dieser sozialpolitische Paradigmenwechsel, der den Grundsatz der Nachrangigkeit staatlichen Handelns und damit das Subsidiaritäts- und Vorrangsrecht der freien Träger brachte sowie die Erweiterung des Hilfebegriffs, den Rechtsanspruch auf Hilfe, das Individualisierungs- und das Bedarfsdeckungsprinzip sowie das Wahlrecht hinsichtlich der Hilfeleister, stellte die Diakonie in theoretischer wie praktischer Hinsicht vor erhebliche neue Herausforderungen und löste heftige Diskussionen in Kirche und Diakonie aus. Die Gesetze spiegeln in anthropologischer Hinsicht das Bild des partizipatorischen freien Menschen wider, dem – so das Ziel der Sozialhilfe – die Teilnahme am sozialen Leben wieder er­möglicht werden soll.
Diese sozialpolitische Neuorientierung und die mit ihr verbundenen diakonischen, theologischen und kirchlichen Diskurse so­wie die institutionellen Umstrukturierungen stellen zentrale, aber bislang defizitär erforschte Themen kirchlicher Zeitgeschichte dar. Wie breit der Graben zwischen der sog. »Kirchengeschichtsschreibung« und der »Diakoniegeschichtsschreibung« ist, zeigt die Tatsache, dass die eben angedeuteten vielschichtigen Diskussionen in­nerhalb von Kirche und Diakonie, die im Vorfeld und nach Einführung des Bundessozialhilfegesetzes geführt wurden, und auch die daraus resultierenden Konsequenzen – hier sei beispielsweise die Einrichtung kirchlicher Fachhochschulen erwähnt – sogar in ansonsten vorzüglichen neueren historischen Darstellungen der kirchlichen Zeitgeschichte keine Erwähnung finden. Diese traditionelle historiographische »Aufgabenteilung« ist insofern hochproblematisch, als sie implizit diakoniegeschichtliche Entwick­lun gen als nachrangig einstuft und damit zentrale Elemente der Geschichte des Protestantismus ausblendet. Zur Geschichte des Protestantismus in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s zählen beispielsweise neben den Theologischen Fakultäten und Kirchlichen Hochschulen dezidiert auch die Evangelischen Fachhochschulen (EFH) als innovative Orte sozialwissenschaftlicher, theologischer, diakonischer und kirchlicher Forschung und Ausbildung.
Diesem Desidarat zeitgeschichtlicher Forschung widmet sich die Dissertation des westfälischen Pfarrers Dietmar Kehlbreier, die bei Traugott Jähnichen (Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre in Bochum) angefertigt wurde. Ihr Thema sind die Entwicklungen des »kirchlichen-diakonischen Selbstverständnisses« in den Jahren 1960–1970. K. legt im Wesentlichen zwei Fallstudien vor: Zum einen geht es um »Die evangelische Kirche und ihre Diakonie bei der Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes« (Kapitel 3, 38–166) und zum anderen um »Die evangelische Kirche und ihre Diakonie bei der Entstehung der Evangelischen Fachhochschulen« (Kapitel 4, 167–318). Hier konzentriert er sich auf die Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, die zum Wintersemester 1971/72 den Lehrbetrieb aufnahm. In beiden Fallstudien fragt K. nach »der Expansion und dem Wandel der verfass­ten Diakonie in Wechselwirkung mit den Entwicklungen des Sozialstaats der Bundesrepublik zwischen 1957 und 1975« (17). In diese Zeit fielen die Verrechtlichung der Hilfe (1960er Jahre) sowie ihre Professionalisierung (1979er Jahre), bevor dann mit Blick auf die 1980er Jahre von der Ökonomisierung gesprochen werden kann.
Methodisch ist die Arbeit multiperspektivisch angelegt: K. geht jeweils in drei Schritten vor: Zunächst rekonstruiert er die historischen Abläufe, um zweitens auf die normativ-sozialethische Theoriebildung einzugehen und drittens Ekklesiologie, Diakonik und Kirchentheorie in den Blick zu nehmen. Erklärtes Ziel dieses methodischen Zugriffs ist es auch, Diakonik und Sozialethik in der theologischen Wissenschaft wieder enger zueinander zu bringen, was durchaus der Forschungs- und Lehrpraxis an Fachhochschulen entspricht und inhaltlich nachvollziehbar ist.
Die Arbeit widmet sich wiederum drei zentralen Problembereichen. Zum einen geht es um die sozialethische Bestimmung des wechselseitigen Verhältnisses der Diakonie zum Sozialstaat und um die Frage nach einer spezifisch kirchlichen Sozialarbeit. Zweitens thematisiert K. das kirchliche Selbstverständnis, das sich ekklesiologisch aus diesem Verhältnis zum Sozialstaat erheben lässt. Drittens wird im Anschluss an Wolfgang Hubers Konzeption der »öffentlichen Kirche« nach dem Konzept einer »öffentlichen Diakonie« gefragt, da seit dem Bundessozialhilfegesetz die Diakonie ihre Hilfsangebote gesamtgesellschaftlich ausgerichtet hat. Die grundlegende, aber schon hinlänglich bekannte These K.s lautet: »Die evangelischen Kirche ist in den 1960er- und 1970er-Jahren immer stärker durch ihre Diakonie öffentlich wirksam geworden und hat sich als Anwalt sozialer Gerechtigkeit und praktisch er­fahrbar als helfende Institution profiliert. Während die Zahl der Kirchenmitglieder und die Akzeptanz der verfassten Kirche gesunken sind, ist die öffentliche Präsenz der verfassten Diakonie als zivilgesellschaftliche Akteurin im Sozialsystem beträchtlich gestiegen. Der Sozialstaat wird durch den öffentlichen Einfluss der Diakonie mitgestaltet, wie dieser umgekehrt den rechtlichen, organisatorischen und finanziellen Rahmen für diakonisches Handeln setzt. Damit ist die Diakonie die maßgeb­liche Gestalt der öffentlichen Präsenz der Kirche bis in die Gegenwart.« (21)
In den beiden Hauptteilen seiner Studie zeichnet K. die jeweiligen Entwicklungen nach, stellt Kontroversen und Probleme dar. Dabei werden auch die konfessionell bestimmten differenten Sichtweisen bezüglich des Subsidiaritätsprinzips deutlich und markante wie prägende diakoniewissenschaftliche Konzepte von Paul Philippi, Herbert Krimm und Heinz-Dietrich Wendland analysiert und in ihren historischen Kontexten verortet. Zum anderen zeigt K. auch die lokalpatriotischen Animositäten in der Gründungszeit der Evangelischen Fachhoschulen auf sowie die Kontroversen zwischen Sozialarbeit und Sozialpädagogik.
Insgesamt gesehen vermittelt die lesenswerte Arbeit einen profunden Überblick über zentrale diakoniegeschichtliche Themen in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s. Sie leistet zweifelsohne einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der jüngeren Diakoniegeschichte und der sozialethischen Diskurse. Doch nicht nur als Forschungsbeitrag ist das Buch zu würdigen, es ist obendrein eine überaus informative Grundlage für den diakoniewissenschaftlichen Unterricht nicht nur an Fachhochschulen.
Allerdings wirft der Band auch einige Fragen auf. Zunächst sei nur auf ein ärgerliches typographisches Problem hingewiesen: In mehreren Zeilen fehlt eine Silbentrennung, was zu einem Wegfall der Wortzwischenräume führt. Dann ist das Fehlen von Registern zu bedauern. Auf der inhaltlichen Ebene schließlich fallen Redundanzen auf. Diese ergeben sich zum Großteil aus der methodischen Grundentscheidung, die Themen jeweils in drei Schritten zu behandeln und belegen gleichzeitig die Problematik dieses Vor­-gehens, das inhaltlich zusammengehörige Aspekte und Prozesse auseinanderreißt und einen synthetisierenden Zugriff vermissen lässt. Aus historiographischer Hinsicht stellt sich einerseits die Frage nach den Kriterien für die Auswahl der konsultierten Quellen und Referenzen. K. benennt zwar die von ihm besuchten Archive, gibt aber keine qualitativ-inhaltliche Auskunft. So bleibt – um nur zwei Beispiele zu nennen – offen, warum keine Ta­gespresse oder auch keine persönlichen Nachlässe konsultiert wurden. In der Ar­beit wird nicht immer ersichtlich, welchen Stellenwert die referierten Positionen im gesamten Diskurs besitzen. An­dererseits fehlt der Darstellung gelegentlich historiographische Tiefenschärfe. So bleiben die entscheidenden Akteure meist recht blass oder sie werden gar nicht erwähnt. Als Beispiel sei hier die Fachhochschul-Kommission der EKD genannt, die 1970/71 zusammentrat, personell aber – bis auf den Vorsitzenden – nicht erkennbar wird.
Diese kritischen Erwägungen wollen nicht den Wert dieses in­struktiven und informativen Buches schmälern, sondern ausgehend von K.s verdienstvollen Forschungen weitere und detaillierte Forschungsarbeiten anregen, die dann hoffentlich auch in künftige Darstellungen kirchlicher Zeitgeschichte einfließen werden.