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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

447-449

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bobert, Sabine

Titel/Untertitel:

Jesus-Gebet und neue Mystik. Grundlagen einer christlichen Mystagogik.

Verlag:

Kiel: Buchwerft 2010. 470 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 19,95. ISBN 978-3-940900-22-7.

Rezensent:

Werner Thiede

Der Untertitel dieses beachtenswerten Werkes sagt genauer als der Titel, worum es geht: um nicht weniger als eine Grundlegung christlicher Mystagogik für unsere Zeit. Sabine Bobert, Kieler Professorin für Praktische Theologie, reflektiert alte und vor allem neuere Mystik in ihren vielfältigen Formen und Gestalten auf wissenschaftlichem Niveau und zugleich mit erkennbar spirituellem Impetus. Dabei fließen systematisch- und praktisch-theologische, psychologische, kultursoziologische und literarische Kenntnisse ein. Das engagiert geschriebene Buch will eine »zerstreute Kirche ermuntern, sich auf mystagogische Prozesse zu zentrieren, und es will eine methodisch hervorragend ausgerüstete Theologie zum Marketing des Kerngeschäfts anregen« (100). Teilhard de Chardin, Bonhoeffer, Casel und andere werden klug zu Rate gezogen.
B. mahnt, die Zukunftsfähigkeit der evangelischen Kirche hänge an einem klaren religiösen Profil (441). Mit dieser These wendet sie sich gegen die anhaltenden Selbstsäkularisierungsprozesse in Theologie und Kirche, um sich für eine dezidiert christliche Spiritualität und Mystik einzusetzen. Sie kritisiert z. B. die Ganztod-Theologie des 20. Jh.s, die man nicht länger »wie einen Konzilsbeschluss« hinnehmen solle, und plädiert für ein neues Ringen um die Fragen von Unsterblichkeit und Auferstehung, insbesondere um deren Anheben schon im irdischen Leben. Sie geht differenziert auf Nahtoderfahrungen ein, wobei sie allerdings teilweise in unzutreffenden Klischees steckenbleibt. Sie erinnert in dem Kapitel »Gemeinsame Rituale als Einweihungswege« an weithin verlorenengegangene mystagogische Elemente altkirchlicher Tauf- und Abendmahlspraxis. Aber worin besteht für sie am Ende ein nicht nur »religiöses«, sondern ein »klares religiöses Profil« der Kirche?
In dieser Hinsicht tut sich bei der Praktischen Theologin ein systematisch-theologisches Defizit auf. Ihre immer wieder deutlich hervortretende spirituelle Ader formt sich mitunter zu einem spiritualistischen Interesse aus, das die von ihr durchaus hochgehaltenen Zentralinhalte christlicher Theologie streckenweise – trotz der Abwehr egomaner Neo-Mystik – ins Fahrwasser esoterisch anmutender Weltanschauungen oder ins Zwielicht mystizistischer Theoriebildung geraten lässt.
Sie bezieht sich beispielsweise auf die trinitarische Rede von Gott, vermengt diese jedoch wenig reflektiert mit theosophisch-monistischen Perspektiven: »Letztlich sind alle Dinge und alle Prozesse Geist« (124) – einen solchen Satz hat ganz ähnlich der Theosoph Rudolf Steiner formuliert, der übrigens im Buch mehrfach positiv zitiert wird. Vollmundig erklärt B., die Teilhabe am göttlichen Geist führe »zu einer Schau der Gegenwart Gottes in allen Menschen und allen Prozessen« (123). Handelnd und sprechend hätten wir Teil am schöpferischen Wesen des Logos: »Gottes Sein ist unser Sein«, denn der Schöpfer spiegelt sich in seiner Schöpfung nur als im »Anderen seiner selbst« (122). Derlei mystische Identitätsthesen zeugen von fehlendem theologischen Problembewusstsein – etwa mit Blick auf die Theodizeefrage!
Solcher Mangel mag positionell bedingt sein, denn B. spricht sich im Kontext ihrer Thematik nicht zufällig für eine zeitgemäße »Gnosis« aus (123) – zielend auf eine »noetische unio mystica« (120) bzw. ein »im göttlichen Geist rückbeheimatetes Denken« (122). Von daher erklärt sich der steile Satz: »Erkennen durch religiöse Erfahrung im Sinne religiösen Schauens erschließt den Sitz im Leben christlicher Dogmen und führt zu einem lebendigen Verstehen, das einen anderen Zugang erschließt als ein an Autoritäten gebundener Glaube oder reine Spekulation« (124). Was aber soll »religiöses Schauen« näherhin bedeuten? Wird hier hermeneutisch ernsthaft an etwas Spekulationsfreies gedacht? Bekanntlich gibt es Erfahrung und Erleben doch nie ohne das Element der Deutung!
B.s »neues Verständnis von Gnosis im Konzept mystischer Schau« soll »eine präzise Rede vom Wirken der Hypostase des Hei­-ligen Geistes in der gegenwärtigen aszetischen Debatte« ermöglichen (123). Das Geisteswirken gerät bei ihr freilich in den Kontext methodischen Sich-Öffnens durch meditative Techniken und spirituelle Schulung des Denkens; das monastisch geborene, als Mantra einzusetzende Jesus-Gebet gehört mit hierher. Was in bestimmten mystizistischen Kreisen, namentlich in theosophischen und anthroposophischen Kontexten beheimatet sein mag, hat bei näherer Betrachtung in der Geschichte der Kirche allerdings wenige authentische Wurzeln. B. bedenkt nicht hinreichend, was der Mönch Bernardin Schellenberger in Erinnerung ruft: »Eine Durchsicht namentlich der abendländischen Tradition erbringt insgesamt ein entmutigendes Ergebnis. In den schätzungsweise 250.000 enggedruckten Spalten der 220 Bände von Mignes Patrologie, die der Substanz nach alle bedeutenden christlichen Autoren von den Anfängen bis im 13. Jh. enthalten, findet sich keine Anleitung, die auch nur annähernd das darstellt, was uns Yoga, Zen, Transzendentale Meditation und viele andere Schulen heute ge­brauchsfertig anbieten« (Ein anderes Leben, 1980, 68). Nachgerade biblisch lässt sich eine Methodologie der Geisterfahrung schwerlich begründen. Die Gründe dafür liegen in dem Umstand, dass die religiöse Logik weder des Alten noch des Neuen Testaments dem Paradigma eines spirituellen Monismus entspricht. Nur dieses erlaubt Spekulationen über eine kosmische Evolution und Involution, innerhalb derer dem menschlichen Subjekt substanzmys­tisch göttliche Qualität zugesprochen werden kann – und damit auch die Möglichkeit, sich selbst, nämlich sein »wahres Selbst«, mit angemessenen Techniken zu reinigen. Wo dieses Paradigma herrscht, dort gilt: »Der Mensch ist nicht durch Christus gerettet, sondern er ist in Christus gerettet. In Christus verbindet er [sic!] sich mit seinem wahren Selbst« (122, kursiv im Original).
So versucht dieses Buch über »neue Mystik« immer wieder die Einbettung christlich- und kirchlich-theologischer Elemente in mehr oder weniger monistische Denkformen. Dabei treten die aus der Geschichte der Kirche hinlänglich bekannten Gefahren einer Entfernung vom ursprünglich Gemeinten zu Tage; die Nähe zur Hermetik bzw. Esoterik und damit zur Häresie (gemessen an den Grundbekenntnissen der großen Kirchen) ist mitunter offenkundig. Deutlich ist aber ebenso, dass hier an eine Kraft mystischer Spiritualität erinnert wird, die in recht verstandener Weise durchaus in den Zentren kirchlicher Theologie ihren nicht nur legitimen, sondern geradezu notwendigen Ort hat. Dass etwa die paulinische und lutherische Rechtfertigungslehre einen liebesmystischen Kern aufweisen, zeigt sich noch in der altprotestantischen Dogmatik, die den Höhepunkt der justificatio ausdrücklich als unio mys­-tica beschreiben kann. Allerdings sollte die tatsächlich dringend notwendige Neubesinnung auf solche christliche Mystik nicht durch Vermischung oder Überformung mit einem Paradigma versucht werden, das Christliches systematisch zu verzerren droht.
B.s Buch hinterlässt insofern einen ambivalenten Eindruck: Es liefert wertvolle Anregungen für Theologie und Kirche in der Gegenwart, bietet aber ebenso Anlass zu einer deutlicheren Unterscheidung der Geister. Am Ende fehlt ihm ein Resümee.