Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2011

Spalte:

440-447

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Sen, Amartya

Titel/Untertitel:

Die Idee der Gerechtigkeit. Aus d. Englischen v. Ch. Krüger.

Verlag:

München: Beck 2010. 493 S. 8°. Lw. EUR 29,95. ISBN 978-3-406-60653-3.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Nussbaum, Martha C.: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Aus d. Amerikanischen v. R. Celikates u. E. Engels. Berlin: Suhrkamp 2010. 599 S. 8°. Lw. EUR 36,90. ISBN 978-3-518-58554-2.


Mit seiner Theorie der Gerechtigkeit (1971) hat John Rawls der poli­-tischen Philosophie ganz neue Impulse gegeben und sich dem bis dahin herrschenden Utilitarismus entgegengestellt. Sein Modell der Gerechtigkeit als Fairness greift auf die neuzeitlichen Theorien des Gesellschaftsvertrages und auf die Freiheitslehre des angelsäch­sischen Liberalismus zurück. Die Legitimität der Verfassungsgrundsätze ergibt sich für ihn durch die im Urzustand unter dem Schleier des Nichtwissens formulierte Gerechtigkeitsauffassung, durch die die politischen und sozialen Rechte jedes Bürgers be­stimmt werden. Die Verteilung der Güter ist durch die Chancengleichheit und das Differenzprinzip gestaltet, das zu einer Meistbegünstigung der Ärmsten führen soll. Die Wirkung von Rawls ist bis heute ungebrochen, wie die umfangreiche Sekundärliteratur belegt.
In Deutschland sind im Herbst 2010 zwei Auseinandersetzungen bedeutender Verfasser mit Rawls’ Gerechtigkeitstheorie er­schienen, von Martha C. Nussbaum, Philosophin an der Universität Chicago, und Amartya Sen, Philosoph und Ökonom an der Harvard Universität und Nobelpreisträger für Ökonomie im Jahr 1998. Nussbaums 2006 in Harvard erschienenes Buch geht auf Vorlesungen zurück, die sie zwischen 2002 und 2004 gehalten hat, während Sens 2009 in London publiziertes Werk im Wesentlichen in den Jahren 1998 bis 2004 entstanden ist. Da beide Autoren ihr Buch nicht nur Rawls gewidmet haben und Vorschläge zur Modifikation seiner Theorie machen, sondern auch in der Ausarbeitung des auf ein naturalistisches Konzept guten Lebens bezogenen sog. Capability-Ansatzes kooperiert haben, sollen beide Ansätze hier zusammen vorgestellt werden. Da die Theorie von Amartya Sen allgemeiner ausgerichtet ist, stelle ich sein Buch voran.
Die Schwierigkeit eines unparteiischen Zugangs zur vollkommen gerechten Gesellschaft illustriert S. an seinem Beispiel von drei Kindern und einer Flöte (41–44). Soll sie Anne zugesprochen werden, die sie als Einzige spielen kann, während der bitterarme Bob durch sie sein einziges Spielzeug erhielte, oder Carla, die sie doch gefertigt hat? Für jede Person ließe sich eine unparteiische und nicht-willkürliche Begründung finden: Ein hedonistischer Utilitarist gäbe sie Anne wegen des größten Vergnügens, das ihr das Spielen bereitet. Ein ökonomischer Egalitarier entschiede sich aufgrund der Mangelsituation für Bob, während ein Liberaler das Eigentumsrecht Carlas betonte. Fazit: »Es kann sein, dass es tatsächlich keine erkennbare vollkommen gerechte soziale Regelung gibt, aus der eine unparteiische Einigung hervorginge« (44).
Damit hat S. die Theorie Rawls’ vom hypothetischen Urzustand grundsätzlich kritisiert, derzufolge Menschen in angenommener Gleichheit sich für die bekannten beiden Gerechtigkeitsgrundsätze Rawls entschieden. Hier wird eine transzendentale Übereinkunft aller Menschen vorausgesetzt, in der sich Gerechtigkeit als Fairness realisiert. Das Beispiel mit der Flöte stützt S.s Skepsis, »dass im Urzustand einstimmig ein einziger Satz von Prinzipien für gerechte Institutionen, die notwendige Bedingungen einer vollkommen gerechten Gesellschaft sind, gewählt würde« (85). Die Unparteilichkeit kann vielmehr viele Formen annehmen, denn es gibt unterschiedliche Grundvorstellungen von der Natur einer gerechten Gesellschaft. Gleichwohl vermittelt Rawls’ Gerechtigkeitstheorie für S. wichtige Erkenntnisse: die »Priorität der Fairness« als »Basis für die Entwicklung einer Theorie der Gerechtigkeit« (91); die besondere Rolle der Objektivität in der praktischen Vernunft; den Zusammenhang von moralischem Vermögen mit der Anlage zu einem Gerechtigkeitskriterium und einer Konzeption des Guten; die Priorität der Freiheit; »die Notwendigkeit fairer Verfahren« (92); mit dem Differenzprinzip die faire Chancengleichheit in sozialen Regelungen und die Reflexion um die Notlage der am schlechtesten gestellten Menschen einer Gesellschaft; mit dem Blick auf die Grundgüter menschlicher Existenz erkennt Rawls die Wichtigkeit der Gestaltungsfreiheit eigenen Lebens an.
Für die Benennung der wesentlichen Schwierigkeiten von Rawls’ Theorie greift S. auf die Begriffe niti und nyaya zurück, die beide im klassischen Sanskrit Gerechtigkeit bedeuten. »Der Begriff niti bezeichnet unter anderem Korrektheit von Organisationen und Verhaltensweisen. Nyaya dagegen steht für ein umfassendes Konzept von verwirklichter Gerechtigkeit« (48). Hier werden nicht nur die Institutionen und Regeln für sich reflektiert, sondern so, wie sie sich tatsächlich in der Welt entwickelt haben. In Anwendung dieser Begriffe macht S. deutlich, dass es Rawls darum geht, »›gerechte‹ Institutionen für eine Gesellschaft zu ermitteln, ohne sie von tatsächlichem Verhalten (das nicht notwendig ›gerecht‹ oder ›vernünftig‹ ist) abhängig zu machen« (97). Damit, so die Schlussfolgerung, ist Rawls’ Theorie dem niti- und nicht dem nyaya-Ansatz zuzuordnen, da er das tatsächliche Verhalten der Menschen nicht bedenkt.
Als zweiten Kritikpunkt stellt S. die Aufnahme der Theorie des Gesellschaftsvertrages durch Rawls in der Nachfolge von Locke, Rousseau und Kant heraus. Damit sei er an die transzendentale Übereinkunft des Gesellschaftsvertrages gebunden und könne keine Auffassungen außerhalb des Kontraktes einbeziehen oder sich mit ihnen vergleichen und auch – im Gegensatz zu nyaya – keine Verwirklichungen beachten. Das führt zu einer Betonung von »unterschiedlichen individuellen Interessen und Prioritäten von Personen innerhalb einer gegebenen Gesellschaft« (100) bei Ausblendung anderer Gesellschaften und globaler Perspektiven.
S. kritisiert also die idealistische Auffassung Rawls’, die sich in der Denkfigur der transzendentalen Übereinkunft der Menschen im Gesellschaftsvertrag manifestiert. Stattdessen weist S. dem Gedanken der Pluralität mehr Raum zu, denn da »Verhaltensmuster in unterschiedlichen Gesellschaften verschieden ausfallen« (105), können nicht dieselben Gerechtigkeitsgrundsätze die Institutionen unterschiedlicher Gesellschaften regeln. Damit wird nicht nur »eine kritische Überprüfung der tatsächlichen Konsequenzen« (111) blockiert, die sich aus den von Rawls empfohlenen Institutionen ergeben, sondern auch kein »Raum für vernünftige Auseinandersetzung« (117) zur Verfügung gestellt. Um dem Defizit der Berücksichtigung von Theorien kollektiver Entscheidung entgegenzuwirken, greift S. auf Ansätze von Jean-Charles de Borda, Antoine Marquis de Condorcet und Kenneth Arrow zurück. Dies ermöglicht ihm, anstelle des weder als notwendig noch als hinreichend erfassten transzendentalen Ansatzes den Ansatz einer komparativen Gerechtigkeitstheorie zu erwägen, in der die »Einstufung unterschiedlicher Sachlagen aus ›sozialer Sicht‹, im Licht der Einschätzung der Beteiligten« (123) formuliert wird. Diese sog. »›Social Choice‹ Theorie« bietet einen »relationalen Bezugsrahmen … und vermeidet Spekulationen über die Gestalt einer vollkommen ge­rechten Gesellschaft« (134).
Hier wird nicht nur die Pluralität konkurrierender Grundsätze anerkannt, die fortwährend überprüft werden können, sondern es werden auch Teillösungen bei dem Erreichen von Gerechtigkeit zugelassen. »Die grundlegende Verbindung zwischen öffentlichem Vernunftgebrauch und den Ansprüchen auf Mitbestimmungsrecht ist entscheidend nicht nur für die praktische Aufgabe, Demokratie effektiver zu machen, sondern auch für das begriffliche Problem, eine angemessene Idee sozialer Gerechtigkeit auf der Basis von kollektiven Entscheidungen von Fairness zu entwickeln« (140). Damit hat sich S. von Rawls’ Modell einer geschlossenen Unparteilichkeit abgewendet, das sich nur auf »Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft oder Nation« (150) bezieht, und wendet sich damit dem Modell einer offenen Unparteilichkeit zu, das wegen der Berücksichtigung der Einschätzung Außenstehender provinzielle Vorurteile vermeidet. Philosophisch sichert S. diesen Gedanken überzeugend durch seinen Rückgriff auf das Gedankenexperiment von Adam Smith’s unparteiischem Beobachter ab: »Im Denkmodell des unparteiischen Zuschauers bleibt die Notwendigkeit der vernunftgeleiteten Auseinandersetzung mit ethischen und politischen Fragen erhalten, und die Forderung nach Unparteilichkeit hat Priorität … Der unparteiische Zuschauer kann arbeiten und aufklären, ohne entweder Partner eines Gesellschaftsvertrages oder ein getarnter Utilitarist zu sein« (165). So kann S. mithilfe der Theo­rie von Smith die Idee der offenen Unparteilichkeit zu einem universalistischen Ansatz erweitern, der keine Menschen ausschließende Nichtbeachtung kennt, sondern allen Menschen die Menschenrechte zubilligt und sie nicht an Staatsbürgerschaft oder Nationalität bindet. Auf diese Weise vermeidet S. ebenfalls die kommunitaristische Identitätsfalle, dergemäß Verständigung und Engagement nur innerhalb einer begrenzten Gruppe möglich sei. Dagegen verweist S., unter Bezug auf Karl Marx, auf vielfältige Gruppenzugehörigkeiten der Individuen: »Einzelmenschen mit ih­ren vielfältigen Identitäten, vielfachen Zugehörigkeiten und di­versen Assoziationen sind ganz und gar soziale Wesen mit gesellschaftlichen Interaktionen unterschiedlichen Typs« (275). Dieser Komplexität wird der Kommunitarismus nicht gerecht, da er eine Person lediglich als Mitglied einer sozialen Gruppe sieht.
In S.s Denken kommt dem »Capability-Ansatz« (258) eine sehr wichtige Rolle für die Ausgestaltung der Gerechtigkeit zu, denn es geht ihm um die Befähigung von Menschen und er ist also »eng mit dem Chancenaspekt der Freiheit verbunden« (259) – und nimmt so den Gesichtspunkt des nyaya auf, »dass menschliches Leben für die Einschätzung der Qualität einer Gesellschaft hohe Bedeutung hat« (253). In der Konkretion dieses Gedankens achtet S. nicht allein auf Einkommen und Vermögen als Indikatoren für ein gutes und lebenswertes Leben. Vielmehr spielen hier neben der Freiheit, die eigene Lebensweise zu wählen, die sozialen Organisationen eine wichtige Rolle, also Gesundheitsfürsorge, Ausbildungsqualitäten, sozialer Zusammenhalt, aber auch Umweltverantwortung oder nachhaltige Entwicklung.
Der Befähigungsansatz »konzentriert sich auf Informationen über individuelle Vorteile, die an realen Chancen gemessen werden, er ist jedoch kein spezifischer ›Entwurf‹ für die Organisation einer Gesellschaft« (260). Damit erfasst der Befähigungsansatz die Vielfalt der Möglichkeiten von Lebensführung, ohne eine spezielle Sozialpolitik zu empfehlen. Er bezieht sich »auf die Chance, Zwecke zu erfüllen, und auf die substantielle Freiheit, diese wohlüberlegten Ziele zu erreichen« (262). Allerdings wäre es ein Missverständnis, diesen Ansatz »als methodologischen Individualismus zu bezeichnen« (272), denn zum einen vertreten die Individuen ihre Meinungen nie von der Gesellschaft unbeeinflusst und zum anderen ist gerade durch das Denkmodell vom unparteiischen Zu­schauer die Möglichkeit gesichert, das Handeln im Rahmen einer Gesellschaft gerecht zu gestalten. Schließlich spricht gegen den Vorwurf des Individualismus die Tatsache, dass Menschen nicht nur eine einzige Identität haben, sondern als soziale Wesen in vielfachen Zugehörigkeiten auf unterschiedliche Weise gesellschaftlich interagieren – und auch die Befähigung zukünftiger Generationen zur Wahl ihrer Lebensgestaltung in wenigstens der gleichen Freiheit wie in der Gegenwart im Auge haben. Gleichwohl spricht sich S. gegen die Forderung nach »Befähigungs- und Chancengleichheit« (322) aus, da sie nicht die Mehrdimensionalität der In­halte von Gleichheit und Freiheit beachtet. Diese »Pluralität muss Teil einer Theorie der Gerechtigkeit sein, denn sie muss den vielfältigen Überlegungen gerecht werden, zu denen diese großen Ideen Freiheit und Gleichheit aufrufen« (343).
Diesen Gedanken bezieht S. abschließend auf das Verhältnis von Vernunftgebrauch und Demokratie: »Wenn die Forderungen der Gerechtigkeit nur durch den Einsatz der öffentlichen Vernunft eingeschätzt werden können und wenn der öffentliche Vernunftgebrauch auch grundlegend mit der Idee der Demokratie verbunden ist, dann haben Gerechtigkeit und Demokratie gemeinsame dis­kursive Merkmale und stehen in engem Zusammenhang« (352). S. legt dar, dass sein Verständnis der Demokratie als einer auf Diskursen beruhenden Regierung globale, und nicht allein westliche, Ur­sprünge hat (355–359), womit er nochmals gegen das institutionsbezogene niti-Denken, das für ihn »eher ein Hindernis für praxisorientiertes Nachdenken über Gerechtigkeit darstellt« (439), den nyaya-Ansatz setzt, der die vielfältigen Identitäten von Menschen besser wahrnimmt und der Idee der Menschenrechte eine interkulturelle Grundlage geben kann (382–414) – und so den Aspekt einer globalen Gerechtigkeit in den Blick nimmt.
Auf den Vorwurf, globale Menschenrechte und Gerechtigkeit seien wegen einer fehlenden Institutionalisierung nicht realisierbar, entgegnet S.: »Wer Ansprüche auf Menschenrechte mit der Begründung abweist, dass sie uns nur unvollständig realisierbar seien, verkennt, dass auch ein nicht vollständig verwirklichtes Recht ein Recht bleibt und folglich zu Handlungen aufruft, die Rechtsbrüche verhindern« (412). Zudem indiziert die öffentliche Kontrolle von Menschenrechtsverletzungen die Reichweite eines öffentlichen Vernunftgebrauches. Gerade dadurch lässt sich die »Begrenztheit eines Denkens, das sich auf provinzielle, mit nationalen Traditionen und regionalen Auffassungen verbundene Argumentation verlässt« (431), zugunsten der Ansprüche globaler Gerechtigkeit aufheben. S. hat mit diesem Buch die wichtigsten Ansätze der neueren politischen Philosophie verarbeitet und sich positiv zur Multikulturalität gestellt. Er betont die kulturelle Freiheit, sich von der eigenen Herkunftskultur loszusagen, wenn sie der Verfassungstreue entgegensteht. Nur so wird die nötige Empathie aufgebracht, um – aus der Perspektive des unparteiischen Beobachters – praxis- und nicht institutionenorientiert, die globalisierten Märkte mit ihren Eigentumsformen oder Ressourcenzugängen zu größerer Gerechtigkeit zu führen.
Martha Nussbaum geht es nicht allgemein um Die Grenzen der Gerechtigkeit, sondern um die Ausgrenzungen, die eine auf dem Kontraktualismus basierende Gerechtigkeitstheorie gegenüber Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen vollzieht; außerdem fehlt solcher Theorie ein globaler Erstreckungshorizont und »nichtmenschliche Tiere« (442) werden nicht in die Reflexionen einbezogen. An diesen drei Problemfeldern ist die von Rawls entworfene »überzeugendste Theorie in der Tradition des Gesellschaftsvertrags« (16) bislang gescheitert. Nussbaum teilt Rawls’ Ideen des nicht auf metaphysischen Prinzipien begründeten Politischen Liberalismus und will mithilfe ihres »Fähigkeitenansatzes« ( capabilities approach) »Lösungsansätze« vorschlagen, die denen »aus der Tradition des Gesellschaftsvertrages überlegen sind« (19). Damit ist das Verhältnis zu Rawls weniger durch die Intention der Kritik bestimmt als mehr dadurch, sein eigentliches Anliegen der Gerechtigkeit zu überprüfen und zu ergänzen, zumal N. die von ihm »herausgearbeiteten Gerechtigkeitsprinzipien … für durchaus richtig« (46) hält.
Rawls’ Auffassung charakterisiert sie durch zwei sehr unterschiedliche Theorieelemente: Auf der einen Seite kennt er die kantianisch geprägte Vorstellung, derzufolge jede Person gleich und als Zweck an sich selbst zu achten sei, die er dann mit seinem Theorem der fairen Entscheidung für Gerechtigkeitsprinzipien unter dem Schleier des Nichtwissens im Urzustand einfängt. Hier vermerkt N. eine Nähe zu ihrem Fähigkeitenansatz. Auf der anderen Seite steht Rawls in der Tradition des Gesellschaftsvertrages, der das Ziel der sozialen Kooperation im gegenseitigen Vorteil sieht, wobei die Partner durch ungefähr gleiche Macht und Kräfte ausgezeichnet sind. Damit steht diese Gerechtigkeitsauffassung in der Nähe zur »Theorie der rationalen Wahl« (91) und ist auf die Ausgestaltung eines fairen Verfahrens ausgerichtet: »Wenn der Urzustand auf adäquate Weise gestaltet wird, sind die aus ihm gewonnenen Prinzipien per definitionem gerecht« (119). Der Fähigkeitenansatz ist dagegen ergebnisorientiert. Er ist von Sen für die Ökonomie und von N. philosophisch ausgearbeitet worden. Die Differenzen beider Ansätze beschreibt sie folgendermaßen: »Sens Ansatz stellt die vergleichende Messung der Lebensqualität in den Mittelpunkt, wenngleich ihn Fragen der sozialen Gerechtigkeit ebenfalls interessieren. Mir hingegen geht es um die philosophischen Grundlagen einer Theorie grundlegender menschlicher Ansprüche, die von allen Regierungen als von der Menschenwürde gefordertes absolutes Minimum geachtet und umgesetzt werden sollten« (104). Die intuitive Idee eines Lebens gemäß der Menschenwürde konkretisiert N. mit ihrer offenen und weiterentwickelbaren »Liste wesentlicher menschlicher Fähigkeiten« (105), die mittels eines Schwellenwertes sicherstellen, dass jede Person als Zweck und nicht als Mittel behandelt wird.
Wegen dieser Erstreckung auf alle Menschen grenzt sich der Fähigkeitenansatz nicht nur von dem auf den gemeinsamen Vorteil ausgerichteten Kontraktualismus ab, sondern auch gegen den Utilitarismus wegen seiner Konzentration auf den Durchschnittsnutzen. Eine genaue Beachtung der einzelnen Personen macht dagegen deutlich, dass Menschen mit ähnlicher Ressourcenausstattung sich »in den für soziale Gerechtigkeit entscheidenden Hinsichten tatsächlich erheblich unterscheiden« (111) können. Damit ist der Fähigkeitenansatz grundsätzlich in der Lage, die Frage der gerechten Lebensverhältnisse für die anfangs benannten drei Gruppen zu erwägen, ohne jedoch als umfassende Gerechtigkeitstheorie ge­dacht zu sein. Vielmehr ist dieser Ansatz nur auf die minimale Konzeption der Gerechtigkeit fokussiert, während das Problem von Ungleichheiten oberhalb des Schwellenwertes nicht behandelt wird. Philosophisch bezieht sich N. bei ihrer Intuition von dem der Menschenwürde entsprechenden Leben auf die Naturrechtstradition, besonders auf Hugo Grotius oder Samuel Pufendorf (61–64), weist aber auch immer auf Aristoteles (224 f.382) und Karl Marx (110.189.227.381 f.) hin, wenn es ihr um ein Leben gemäß der Möglichkeiten im Rahmen wirklich menschlicher Fähigkeiten geht.
Folgende wesentliche Fähigkeiten benennt N. (112–114): das Leben als Fähigkeit, ohne Einschränkungen bis zum Ende zu leben; die körperliche Gesundheit und Integrität; die Fähigkeit, Sinne, Vorstellungskraft und Denken zu benutzen, Gefühle zu empfinden und zu äußern; mit der praktischen Vernunft eine eigene Auffassung über das Gute auszubilden; die eigene Zugehörigkeit zu be­stimmen und ohne Diskriminierung leben zu können; die Fähigkeit, an der Natur teilzuhaben; die Möglichkeit zum Spiel; die politische und inhaltliche Kontrolle der eigenen Umwelt.
Ein Leben ohne diese Fähigkeiten wäre der Menschenwürde nicht gemäß. Damit werden kulturübergreifende Normen bei gleichzeitiger Achtung des Pluralismus formuliert, denn die Liste selbst ist offen und revidierbar und nicht metaphysisch fundiert. So können Menschen aus unterschiedlichen Kulturen sie »auf ganz unterschiedliche Weisen mit ihren religiösen oder säkularen um­fassenden Lehren verbinden« (116). Zugleich werden so soziale Ag­gregationen kritisiert, »die die Unabhängigkeit eines jeden Lebens nicht ausreichend beachten«, während »die Ideen der wechselseitigen Achtung, der Reziprozität und der sozialen Grundlagen der Selbstachtung eine wesentliche Rolle« (118) spielen. Der Fähigkeitenansatz beginnt also mit der intuitiven Idee eines Lebens gemäß der Menschenwürde und sucht dann nach politischen Verfahren zu dessen Realisierung. So ergibt sich die Gerechtigkeit in einer Gesellschaft durch ein entsprechendes gutes Verfahren.
Nachdem sie ihren Ansatz grundsätzlich entwickelt hat, konkretisiert N. dessen Vorteile gegenüber Rawls’ Kontraktualismus an den Problemfeldern des Umgangs mit Behinderungen (139–309), der globalen Ungleichheit (310–441) und mit nichtmenschlichen Tieren (442–547). Da der Gesellschaftsvertrag die Vertragsparteien mittels der Attribute frei, gleich und unabhängig bestimmt und als lebenslang kooperierende Gesellschaftsmitglieder charakterisiert (142), erfasst er weder die Beeinträchtigungen behinderter Menschen, noch die Möglichkeiten, die ihnen ihr vollwertiger Bürgerstatus bietet. Dieser aber ist durch die kantianische Einsicht gesichert, demnach »jeder Mensch ein Selbstzweck« (208) ist. An dieser Stelle bewährt sich der Fähigkeitenansatz nicht als umfassende Morallehre, sondern als »politische Theorie elementarer Ansprüche« (218), die den »Zweck sozialer Kooperation« nicht darin sieht, einen Vorteil zu erlangen, »sondern die Würde und das Wohlergehen aller Bürgerinnen und Bürger zu fördern« (280). Damit ist N.s Ansatz auf die Individualität der Menschen gerichtet und im­pliziert die Forderung nach einer Umgestaltung des öffentlichen Raumes, damit alle Menschen in Würde gleichberechtigt leben und sich dort bewegen können. So kann im Sinne des Liberalismus der gleiche Wert aller Menschen und ihrer Freiheit festgehalten werden: »Der damit verbundenen politischen Konzeption der Person zufolge sind Menschen verletzliche und zeitgebundene Wesen, die Fähigkeiten und Bedürfnisse haben, durch vielfältige Behinderungen eingeschränkt werden und ›einer Totalität der menschlichen Lebensentwürfe bedürftig‹ sind« (307). Damit sind die Voraussetzungen eines gelingenden Lebens genannt.
Das zweite Problemfeld, die Frage nach einer globalen Gerechtigkeit, begründet sich aus der Feststellung enormer Ungleichheiten auf der Welt, wie sie an sehr unterschiedlichen Lebenserwartungen oder total differierender Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukte zwischen den Staaten augenfällig sind. In diesem Zusammenhang zeigt N., dass Rawls’ spätes Werk Das Recht der Völker (2002) dem Theorierahmen von der Theorie der Gerechtigkeit weitgehend verpflichtet bleibt (318–364). Es sieht den Zweck des Vertrages »in gegenseitigen Vorteilen für ›relativ Gleiche‹« (372) und nicht, wie der Fähigkeitenansatz, in einem internationalen übergreifenden Konsens, der aufgrund der Ungleichheit vieler Staaten feststellt, dass sie keinen Vertrag zu gegenseitigem Vorteil schließen können. Vielmehr, damit menschliche Fähigkeiten in armen Regionen gefördert werden, ist eine Abgabe eines substantiellen Teils der Bruttoinlandsprodukte wohlhabender an ärmere Staaten notwendig.
Wenn N. in ihrem letzten Reflexionsvorgang »Gerechtigkeit für nichtmenschliche Tiere« (442) fordert, so weist sie mit dem zunächst ungewöhnlichen Ausdruck auf den Sachverhalt anderer intelligenter Lebewesen hin, mit denen die Menschen die Welt und ihre Ressourcen teilen. Dies sollte trotz der überwiegenden Gleichgültigkeit »zu Mitgefühl und moralischer Anteilnahme« (443) ihnen gegenüber führen, so dass auch sie Subjekte der Gerechtigkeitstheorie sein können. Auf der Basis des hier dargestellten Ansatzes kommt N. zu folgendem Fazit: »Eine wirklich globale Gerechtigkeit verlangt jedoch von uns nicht nur, die Welt nach anderen Angehörigen unserer Art zu durchforsten, die Anspruch auf ein achtbares Leben haben. Wir müssen darüber hinaus, und zwar sowohl in unseren eigenen Staaten als auch auf der globalen Ebene, die anderen empfindenden Wesen berücksichtigen, mit denen unser Leben auf unauflösliche und komplexe Weise verbunden ist« (546).
Der Fähigkeitenansatz stellt, wie diese drei Problembereiche zeigen, an uns Menschen hohe Erwartungen, denn er verlangt sehr viel Mitgefühl und Wohlwollen – und zwar über eine lange Zeit hinweg. Außerdem beachtet er die kulturelle Vielfalt und betont zur Voraussetzung der eigenen Freiheit die Bedeutung der Bildung. Die Stabilität einer Gesellschaft hängt davon ab, ob es einer Theorie wie dem Fähigkeitenansatz gelingt, »den Menschen die richtigen Einstellungen und Gefühle einzuprägen, so daß sie die umfassenden Veränderungen der existierenden Güterverteilung unterstützen« (552). N. richtet sich somit gegen das vom Theoriemodell des Gesellschaftsvertrages ausgehende Bild, der gegensei­tige Vorteil sei das einzige Bindeglied einer liberalen Gesellschaft. Mit diesem Buch beschreibt N. die Möglichkeit neuer Bilder, um die Herausforderungen der Gerechtigkeit in der komplexen Welt der Gegenwart annehmen zu können.
Die Ansätze von Sen und Nussbaum sind für die gegenwärtige politische Philosophie und Sozialethik sehr wichtige Weiterentwicklungen der Gerechtigkeitstheorie Rawls’. Beide weisen sein Denkmodell des Kontraktualismus zurück, da es der tatsächlichen Pluralität menschlicher Lebensverhältnisse nicht gerecht wird. Zudem sind beide ergebnisorientiert, wobei S. durch seinen nyaya-Ansatz eine größere Nähe zur Realisierung von gerechten Lebensverhältnissen haben dürfte, da er auf dem Weg dorthin Schritte zu einem komparativ gerechteren Status bejaht. Folglich ist bei ihm capabil­ity korrekt mit Befähigung übersetzt, denn es geht ihm um die Möglichkeit, Menschen in die Lage zu versetzen, ein besseres Leben zu führen. Dabei ist der Gedanke für die multikulturelle Gesellschaft besonders wichtig, Menschen nicht einer singulären (religiösen) Zugehörigkeit zuzuordnen und damit in die Identitätsfalle zu tappen. Bei N. ist capability ihrem Denken gemäß richtig übersetzt worden mit Fähigkeit, da sie auf ein Leben zielt, in dem alle Menschen den Schwellenwert bestimmter Fähigkeiten erreichen können. Diesen Gedanken sichert sie naturrechtlich durch die Menschenwürde ab. Damit wird er Teil einer gemeinsamen öffentlichen Konzeption der Person, sich für das Wohl anderer einzusetzen – und zwar nicht nur für Gleiche, sondern auch für Be­-hinderte, für globale Gerechtigkeitsverhältnisse und für andere Lebewesen. N. verkennt nicht die praktischen Schwierigkeiten ihrer Forderungen, gibt aber entscheidende Impulse für den Kampf gegen gesellschaftliche Gleichgültigkeit. Philosophisch wird ihr Ansatz sicherlich wegen seiner naturrechtlichen Fundierung in der Intuition der Menschenwürde kontrovers diskutiert werden, weil Intuitionen keine selbstevidenten Wahrheiten vermitteln. Andererseits begründet N. so – in Ablösung vom Kontraktualismus – die Formulierung universaler Normen für plurale Gesellschaften bei gleichzeitiger Aufhebung von Ausgrenzungen.