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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

437-438

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Breuer, Markus, Mastronardi, Philippe, u. Bernhard Waxenberger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Markt, Mensch und Freiheit. Wirtschaftsethik in der Auseinandersetzung. Aus Anlass des 20-jährigen Bestehens des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen. B

Verlag:

ern u. a. : Haupt 2009. 266 S. gr.8°. Geb. EUR 19,00. ISBN 978-3-258-07509-9.

Rezensent:

Daniel Dietzfelbinger

Aufsatzbände zu besprechen, wirft Rezensenten ins Meer zwischen Skylla und Charybdis. Entweder entscheidet man sich für eine kurze Inhaltsangabe, wie sie meist in der Einleitung zu lesen ist, oder man bemüht sich um die Gewichtung einzelner Aufsätze. In jedem Fall riskiert der Rezensent, nicht allen bzw. allem gerecht zu werden. Dieser Band ist eine Festschrift zum 20-jährigen Bestehen des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen, das durch Peter Ulrich geprägt wurde (eine kurze Geschichte des Instituts findet sich ab S. 16). Sie ist ein Dialogband, da Ulrich am Ende die zehn Aufsätze jeweils mit einer kurzen Replik würdigt. Das macht die Lektüre des ohnehin gelungenen Buches besonders interessant, weil man sich fragt, wie Ulrich darauf reagiert. Mit Markus Breuer und Bernhard Waxenberger sind zwei ehemalige Mitarbeiter des Instituts als Herausgeber tätig. Philippe Mastronardi lehrt Öffentliches Recht in St. Gallen und ist Mitglied des Geschäftsleitenden Ausschusses des Instituts für Wirtschaftsethik.
Der Aufsatzband gliedert sich nach den drei Ebenen der Wirtschaftsethik, nämlich: Systemebene (Rahmenordnung), Institutionenebene (Unternehmen) und Individualebene (Führungskraft, Bürger). Leitthema der Herausgeber ist die Frage, wie eine »Moral der Freiheit«, die eng gekoppelt ist an die Verantwortung, in der heutigen Welt bestimmt werden kann.
Den Beginn machen Nick Lin-Hi und Andreas Suchanek mit ihrem Aufsatz »Marktwirtschaft – eine ethische Herausforderung« (21 ff.). Nach einer Untersuchung der ethischen Rahmenbedingungen der Marktwirtschaft sowie der Erwartungen, die der Bürger an diese stellt, wenden die Autoren den Blick auf das Verhalten der individuellen Akteure und kommen zum Ergebnis: »Zweifelsfrei gibt es eine Vielzahl an global zustimmungsfähigen moralischen Erwartungen an den Markt – bzw. das Verhalten von individuellen und korporativen Akteuren – gleichwohl können diese Erwartungen, sollen sie legitim sein, nicht unbegrenzt sein; und die entsprechenden Grenzen werden vorgegeben durch empirische Bedingungen.« (32)
Karl Homann setzt sich in »Moral oder ökonomisches Gesetz?« (35 ff.) mit der Spannung von Gewinnprinzip und Ethik anhand des Ansatzes des österreichischen Ökonomen Eugen von Böhm-Bawerk auseinander. Homann vertritt in dem in seiner Kompaktheit und Geschlossenheit beeindruckenden Aufsatz die (bei ihm nicht ganz neue) These, dass »die Marktwirtschaft als Ganze, wenn auch immer von Defiziten durchsetzt, ein sittliches Unternehmen [ist], das der nachdrücklichen Unterstützung bedarf. Nur eine marktwirtschaftliche Ordnung wird in der Lage sein, allen Menschen die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen ihrer Freiheit zu schaffen – aber nicht gegen die ökonomische Logik, sondern mit und in ihr« (52).
In eine andere Richtung zielen Olaf Schumann und Hans Nutzinger in ihrem Beitrag »Ordoliberalismus und Gerechtigkeit: Zum Verhältnis von Eu­-cken und Kant« (55 ff.). Die Autoren vertreten die Meinung, dass Walter Eucken stark von Immanuel Kant beeinflusst war. Sie führen das auf den Einfluss seines Vaters Rudolf Eucken sowie auf die Freiburger Tradition des Neukantianismus zurück, in die Walter Eucken akademisch hineingewachsen war. Gleichwohl erweitere Eucken den Kantschen Freiheitsbegriff um die faktische, reale Freiheit des Menschen in der Wettbewerbsordnung, die nach Eucken »sowohl dem System des Laissez faire wie auch dem der Planwirtschaft überlegen ist« (76).
Die Aufsätze zur Unternehmensethik beginnen mit dem Beitrag von Guido Palazzo und Andreas Scherer über »Entfesselung und Eingrenzung – Konsequenzen einer global entfesselten ökonomischen Vernunft für die soziale Verantwortung von Unternehmen«. Nach einer Analyse der wirtschaftsethischen Debatte im deutschsprachigen Raum lokalisieren die Autoren eine verstärkte Verantwortung bei Unternehmen, die ihrer Rolle als politischer Akteur wahrnehmen müssen unter Berufung auf die hippokratische Tradition (und für die Unternehmen: Verpflichtung) des primum non nocere (zuerst keinen Schaden anrichten). Diese erste Aufgabe wird für die Verantwortung der Unternehmen in einer global agierenden Wirtschaft entfaltet.
Klaus Leisinger geht in »Stakeholderdialoge zwischen Theorie und Praxis« (97ff.) auf seine Erfahrungen mit diesem Instrument ein. Die Praxis mache deutlich, dass die theoretische Forderung nach gleichberechtigten Diskursen aufrecht erhalten werden muss, um die mühevoll errungenen Teilerfolge, die man mit der Einbeziehung möglichst vieler Gesprächspartner erreichen kann, nicht aus dem Blick zu verlieren.
Eine kritische Sicht auf die Marktwirtschaft vertreten Florian Wettstein und Kenneth Goodpaster in ihrem Aufsatz »Freedom and Autonomy in the 21st Century: What Role for Corporations?« (117 ff.). Sie vertreten – die nicht mehr ganz neue – These, dass sich der Neoliberalismus nicht auf Adam Smith berufen kann, und fordern ein republikanisch geprägten Freiheitsbegriff, der für Unternehmen auf internationaler Ebene Recht und zugleich Pflicht ist.
Den Blick auf das Individuum eröffnet Otfried Höffe mit dem Aufsatz: »Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger – Bürgerverantwortung in Zeiten der Globalisierung« (137 ff.). Mit dem Titel sind die verschiedenen Rollen des Einzelnen beschrieben, der diese jeweils im unterschiedlichen Kontext mit ihren je zu bewahrenden Tugenden auf die Waage legt. Dabei verändern die Entwicklungen der Globalisierung das jeweilige Rollenverständnis und dessen Gewichtung.
»Soziologische Überlegungen zum Verhältnis von Staats- und Wirtschaftsbürger« (151 ff.) stellt Sascha Liebermann an. Er spricht sich gegen eine Trennung der beiden Bürgerschaften aus, da der Mensch jeweils in beiden Feldern handle und sich so Rechenschaft über das jeweilige Handeln im anderen Bereich schuldig sei. Liebermann macht sich für den anerkannten Staatsbürger stark – eine Anerkennung dessen wäre das Grundeinkommen.
Auch Philippe van Parijs greift in seinem Beitrag »Egalitarian Justice, Left Libertarianism and the Market« (173 ff.) das Grundeinkommen auf, gleichwohl aus anderer Perspektive: Unter der Parole »real freedom for all« macht er deutlich, dass trotz aller theoretisch gleichen Ausgangsbedingungen in verschiedenen Gerechtigkeitskonzeptionen in der Realität die Erfolgsergebnisse unterschiedlich ausfallen – weil sie abhängig sind von vielen Faktoren, die nicht in der unmittelbaren Steuerung liegen. Deswegen schaffe ein Grundeinkommen für alle ein Maß an Gerechtigkeit, das Unabhängigkeit im Blick auf die Zufälligkeiten des Lebens biete.
Als erfolgreiche Unternehmer mit theoretischem Hintergrund präsentieren Götz Werner und André Presse unter dem Titel »Die zivilisierte Marktwirtschaft und ihre Feinde. Zum bedingungslosen Grundeinkommen als Wirtschaftsbürgerrecht« (193 ff.) die Idee eines Grundeinkommens, das »den Freiheitsbegriff über das demokratische Verständnis politischer Freiheit hinaus auf[füllt]« (209).
Mit »Markt, Mensch und Freiheit: Eine integrative wirtschaftsethische Perspektive« (215 ff.) antwortet Ulrich noch einmal aus seiner Perspektive auf die Beiträge: teils zustimmend, teils widersprechend, teils vermittelnd. Was dem Band fehlt, ist ein Schlusswort: Aber genau das sollte in der Debatte um die integra­tive Wirtschaftsethik nicht gesprochen werden. Ulrich will sie »in Gang halten« (216). Nachdenklich stimmt, dass es keinen evangelisch-theologischen Beitrag zum Thema (integrative) Wirtschaftsethik gibt – kein Versäumnis, das den Herausgebern zuzuschreiben wäre.