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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

421-423

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Leppin, Volker

Titel/Untertitel:

Thomas von Aquin.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2009. 138 S. 8° = Zugänge zum Denken des Mittelalters, 5. Kart. EUR 14,80. ISBN 978-3-402-15671-1.

Rezensent:

Otto Hermann Pesch

Es ist eine Freude zu lesen, wie evangelische Theologen (Ulrich Kühn, Brian Davis, Stefan Gradl, Miriam Rose, Rochus Leonhardt, um nur einige Namen zu nennen) sich seit einiger Zeit auf Thomas von Aquin einlassen, gänzlich unbeeindruckt durch die Verbalinjurien Martin Luthers (Thomas ist »lo­qua­cissimus«; er ist »Brunnen und die Grundsuppe aller Ketzerei« usw.). Dies nicht zuletzt, um Stolpersteine des ökumenischen Dialogs aus dem Weg zu räumen, die Unkenntnis und Ressentiment aufgestellt haben. In der Reihe »Zugänge zum Denken des Mittelalters« hat nun Volker Leppin als Band 5 eine Einführung zu Thomas vorgelegt.
Knapp, aber auch für Uneingeweihte verständlich, wird zu­nächst der Lebensweg des Thomas in seinem gesellschaftlichen und geistigen Umfeld geschildert – mit einer faszinierenden Hervorhebung der entscheidenden Quellen seiner intellektuellen Prägung, wie man sie in dieser Knappheit und Anschaulichkeit zu­gleich nur selten in Darstellungen dieses Typs findet (7–22). Ausführlich und subtil, genaues Mitdenken fordernd, wird sodann die Denkweise des Thomas in seinen Auseinandersetzungen um die Integration des aristotelischen Wissenschafts-Ideals in die Theologie geschildert. Das Ergebnis ist die bekannte, letztlich unaufhebbare Paradoxie: Die Theologie ist eine »untergeordnete Wissenschaft« ( scientia subalternata), untergeordnet wie (nach mittelalterlicher Theorie) die Musik der Mathematik. Nur empfängt die Theologie ihre subalternierenden Prinzipien aus der Offenbarung, »so dass die Evidenz der Prinzipien dem wissenschaftlich arbeitenden Theologen nicht aus veränderlichen, kontingenten, sondern aus unveränderlichen, notwendigen Gründen verschlossen bleibt. Kurz gesagt: Während der Musiker auch Mathematiker sein könnte, kann der Mensch nie Gott sein« (31). Das ist der Preis für die intellektuelle Zuversicht, im Licht des Glaubens an die »Prinzipien« die Gegenstände des Glaubens in ihrem immanenten Zusammenhang nach aristotelischer Methode bis zum Äußersten durchdenken zu können – und eisern bei der Einheit der Wahrheit in Philosophie und Theologie zu bleiben. Nach einer genauen – gelegentlich aber doch den Uneingeweihten leicht überfordernden – Analyse der »Metaphysik« des Thomas, also seiner trotz aller theologischen Vorzeichen doch in sich selbst schlüssigen Gedanken über Sein und Natur (Ordnung des Seins, Materie und Form, Möglichkeit und Wirklichkeit, Substanz und Akzidenz, Ursachen, 23–47), folgt eine subtile Analyse der »Gottesbeweise« und des Er­kenntnisvorgangs, wiederum mit Betonung der einen Vernunft in Philosophie und Theologie – was freilich nicht heißt, dass diese eine Vernunft auch von sich aus Gott, wie er sich geoffenbart hat, erkennen könnte. Immer wieder wird auch mit Recht der latent plato­nische Unterstrom hervorgehoben, der das aristotelische System aus Gründen des Schöpfungsglaubens verflüssigt (48–67). Nach diesen Schwerpunkten der Philosophie des Thomas bietet L. einen Einblick in dessen Theologie – und zwar beschränkt auf Themen der Gnadenlehre und der theologischen Ethik. Ebenso genau wie bei den Gottesbeweisen analysiert er die Gnadenlehre in Abgrenzung von hochscholastischen (und spätscholastischen) Ideen vom sog. meritum de congruo im Sinne eines, wenn auch nur abgeschwächten, »Verdienstes« der rechtfertigenden Gnade und stellt klar, dass das Mit-Dabeisein des Menschen im Geschehen der Rechtfertigung in keiner Weise ein »Beitrag« des Menschen zu seiner Rechtfertigung ist (67–77). In Bezug auf die theologische Ethik stellt L. mit Recht eine Zweistufigkeit fest, die aber nicht im Sinne einer Zwei-Stockwerk-Vorstellung zu verstehen ist. Der christliche Theologe benutzt das antike Erbe zur Be­schreibung der ganzheitlichen Ausrichtung des Menschen auf Gott als sein Ziel, das die natürliche Vernunft nicht einmal erkennen, geschweige denn von sich aus erreichen kann. In diesem Zusam­menhang werden die »theologischen« und die »Kardinaltugenden« betrachtet (77–85).
Es folgen eine Beschreibung wichtiger Werke des Thomas von seinem Frühwerk De ente et essentia aus seiner »Assistentenzeit« an bis zur Summa Theologiae (86–104) und ein kurzer Blick auf die Wirkungsgeschichte (105–108). Danach werden wichtige Texte in deutscher Übersetzung abgedruckt, ausgewählt nach den Themen des Buches (109–131). Ein Verzeichnis von Quellen und wichtiger Literatur, Sach- und Personenregister (134–138) beschließen den Band.
Zu fragen wäre, warum bei den Werkbeschreibungen die Schriftkommentare fehlen – immerhin die, teilweise von Thomas selbst redigierten, Mitschriften seiner täglichen Vorlesungen über die Heilige Schrift – die Hauptaufgabe und das Vorrecht des Magisters an der Theologischen Fakultät in Paris. Und warum stehen neben De veritate nicht andere Quaestiones disputatae, mit denen Thomas teilweise seine Arbeit an der Summa Theologiae vorbereitete? – Hat die Erarbeitung der Summa contra gentiles wirklich gar nichts mit den Muslimen zu tun? Die Nachricht, Mitbrüder aus Spanien hätten den jungen Magister Thomas gebeten, eine Art Missions-Handbuch zur Bekehrung der Muslime vor der christlichen Haustür in Spanien zu schreiben, kommt erst im 16. oder 17. Jh. auf. De facto aber handelt es sich bei dem 1257 noch in Paris begonnenen Werk »um eine groß angelegte Apologie, in der der Theologe Thomas die Denkbarkeit des christlichen Glaubens gegen tatsächliche und mögliche Einwände auf dem Hintergrund paganer Philosophie verteidigt« (95). Adressaten der »Verteidigung« sind christliche Theologen, die in Auseinandersetzung mit Ungläubigen aller Art stehen und diese Auseinandersetzung nur auf der Basis der Vernunft, nicht der Heiligen Schrift führen können. Zumindest indirekt gehören dazu auch die Muslime, nicht zuletzt muslimische Aristoteles-Interpreten, wie Averroës, mit dem es Thomas ja auch sonst zu tun hat. – Ist übrigens Averroes mit seiner Aristoteles-Interpretation wirklich im Unrecht gegenüber dem »getauften« Aristoteles des Thomas (99 f.)? – Und warum findet sich kein Hinweis auf die jahrzehntelang andauernde Dis­kussion um den theologischen Sinn des »Plans« der Summa Theologiae, die ironischerweise fast zeitgleich mit der jahrzehntelangen Dis­kussion um Zeitpunkt und Inhalt des »reformatorischen Durchbruchs« Martin Luthers verlief? Die Diskussion war und ist bedeutsam für die Frage, ob Thomas einen Sinn für heilsgeschichtliches und geschichtliches Denken überhaupt hatte und ob er (auch) insoweit Autorität für heutiges (katholisch-)theologisches Denken haben kann. Doch die »pflichtschuldigen« Nörgeleien können die Freude an diesem großartigen kleinen Buch nicht trüben.