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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

417-419

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hauptmann, Peter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Johann Gottfried Scheibel – Vom innersten Wesen des Christentums. Auszüge aus dem Schrifttum des Breslauer Lutheraners (1783–1843).

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2009. 531 S. m. 28 Abb. gr.8°. Geb. EUR 62,90. ISBN 978-3-89971-527-9.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Mit dem vorliegenden Werk hat sich der Herausgeber, ehemals Kirchenhistoriker in Münster, das Ziel gesetzt, den »zu Unrecht in ein Halbdunkel abgedrängt[en]« (9) J. G. Scheibel durch Auszüge aus seinen Schriften einem breiteren Publikum zugänglich und dessen Werk »für die theologische Besinnung unserer Tage« (10) fruchtbar zu machen. Damit soll Scheibel, ähnlich wie C. Harms und W. Löhe, von denen bereits eine Auswahl- bzw. Gesamtausgabe vorliegt, »unmittelbar zu uns sprechen können« (9). Als formales Vorbild der nach Stichworten alphabetisch gesammelten Auszüge diente das Lutherlexikon K. Alands, wobei allerdings das dortige interne Verweisungssystem durch Register ersetzt wurde. Da es bislang an einer verlässlichen Scheibel-Biographie fehlt, ist den Textauszügen eine längere, aber lesenswerte Einleitung zu Leben und Werk vorangestellt (21–125). Noch spielt hierfür G. Fenglers »Lebensbild« von 1883 eine wichtige Rolle. Einiges sei hier in Erinnerung gerufen.
Eine prägende Wirkung für Scheibels bibelzentrierte Theologie und seine Wertschätzung der Herrnhuter Brüdergemeine ging von G. Chr. Knapp (1753–1825) in Halle aus. Seine kurzfristige Begeisterung für naturphilosophisches Denken (Novalis, Schelling, Steffens) wurde durch eine Art Bekehrungserlebnis bei der Bibellek­türe beendet (1804). Schon in der Frühzeit seines Wirkens als Erwe­-ckungsprediger und Professor in Breslau trat die Ablehnung der Unionspläne Friedrich Wilhelms III. und jeglichen Konfessionsausgleichs deutlich zutage. Hierbei spielte die Neuentdeckung der lutherischen Abendmahlslehre zwischen 1815 und 1817 für Scheibel eine entscheidende Rolle. Sein Abrücken von Knapps angeblich »zwinglianischem« (51) Abendmahlsverständnis – er hatte in der Tat das »Andenken« als einen der Hauptzwecke des Abendmahls bezeichnet – ergab sich für ihn interessanterweise aus religionsgeschichtlichen Studien zum Zusammenhang von Opfer und Opfermahl. Diesen fand er in den zentralen biblischen Texten 1Kor 10,14–28 und der – bekanntlich von M. Luther keineswegs eucharistisch gedeuteten – Brotrede Jesu in Joh 6 wieder. Wie die Textauszüge im Hauptteil zeigen, konnte so das Abendmahl dezidiert als Opfermahlzeit und Feier der unio mit dem verklärten Christus be­stimmt werden. Zu Recht wird auf die zentrale Stellung von Scheibels Abendmahlsbuch von 1823 für seine Theologie und damit auch seine Ablehnung der Union hingewiesen (55). Feinere Unterscheidungen scheinen hier weder Scheibel noch den Herausgeber zu interessieren: »zwinglianisch«, »calvinisch« (55) und »reformiert« (54) gelten ihnen als dasselbe. Im Zuge der Polarisierungen zwischen 1817 und 1830 vereinsamte Scheibel, doch gewann er auch wichtige Freunde, unter ihnen den Naturphilosophen H. Steffens (1773–1845) und die Juristen G. Ph. Huschke (1801–1886) und G. von Haugwitz (1797–1863). Sie alle wurden nach 1830 wichtige Stützen des Kampfes für eine lutherische Freikirche (sog. Altlutheraner). Nachdem Scheibel 1832 seine Ämter verloren hatte, folgte eine unruhige Zeit im sächsischen Exil. Auch hier trat er sogleich mit einer Aufsehen erregenden unionskritischen Predigt in Dresden am Reformationsfest 1832 hervor. Der Herausgeber sieht Scheibel dabei auf demselben Weg mit F. V. Reinhard und seiner be­kannten Reformationspredigt aus dem Jahr 1800. Beide wollten demnach, Letzterer eher schüchtern, der Erstere entschieden, »das Erbe der lutherischen Reformation vor rationalistischer Entstellung … retten« (90).
Unabhängig von der Frage, wie treffend dieser Vergleich ausfällt, erstaunt doch hier wie an anderen Stellen die unbesehen fortgeschriebene Frontstellung gegen den »Rationalismus« in Theologie und Kirche (vgl. 125), ohne dass mehr zum Vorschein kommt als ein polemischer Kampfbegriff. Insgesamt wird deutlich herausgestellt, wie Scheibel zumindest für die erste Hälfte der 1830er Jahre zum »heimliche[n] Bischof der Altlutheraner« avancierte, er seine konfessionell bestimmten Missionsinteressen durchzusetzen wusste (später bekannt als »Leipziger Mission«) und schließlich ab 1839 in Nürnberg eine letzte Zuflucht fand. Eine nähere Verbindung mit dem anfangs abweisend eingestellten W. Löhe (1808–1872) ergab sich nicht, doch äußerte dieser später viel Verständnis für Scheibel und die Altlutheraner.
Der Hauptteil des Buches präsentiert Auszüge aus dem Schrifttum Scheibels nach Stichwörtern in alphabetischer Ordnung, von »Abendmahl« bis »Zwingli, Ulrich« (127–449). Die den Stichwörtern zugeordneten Texte sind in zeitlicher Reihenfolge abgedruckt, den (wenigen) lateinischen Abschnitten sind Übersetzungen beigegeben. Naturgemäß ergeben sich längere, für einschlägig Interessierte durchaus lesenswerte Auszüge zu Stichwörtern wie »Abendmahl«, »Agende«, »Exegese«, »Luthertum«, »Pietismus«, »Reformierte«, »Schrift und Bekenntnis«, »Union protestantischer Kirchen«. Ein zentrales Stichwort wie »Rationalismus« sucht man vergebens. Offenbar fanden sich trotz oder gerade wegen der abundanten Verwendung des Begriffs keine wirklich aussagekräftigen Texte. So respektabel das Interesse des Herausgebers an Scheibels theolo­gischer Gegenwartsbedeutung auch sein mag, so irritierend wirkt doch der Anspruch, zwischen »heute nicht mehr belangvollen Ausführungen« und »zeitlos gültigen Aussagen« zu unterscheiden (11).
Man fragt sich unwillkürlich, was den Lesern in den Textauszügen mit ihren zahlreichen Auslassungen möglicherweise vorenthalten wird. Die Texte selbst bieten wenig Anlass, an zeit­lose Wahrheiten zu denken. Gelegentliche Wiederholungen (so zitiert sich Scheibel in der Abendmahlsfrage in verschiedenen Schriften selbst, was unvermerkt bleibt, vgl. 130 f. mit 141), die stets von Neuem eingeübte polemische Abgrenzung gegenüber der reformierten »Irrlehre« und deren »Rationalismus«, die Stilisierung der »lutherischen Bibelkirche« zur exklusiven Hüterin der einen christlichen Wahrheit (vgl. Scheibels interessante Konfessionstypologie [310–313], die das pietistisch revitalisierte Luthertum als Erneuerung der biblisch-ephesinischen Gemeinde sah) sowie Details wie die traditionelle Schmähung der Onanie als »Gomorrhas Höllengreuel« (210) sprechen ihre eigene Sprache. Von besonderem Interesse bleiben Scheibels Reflexionen über Kirchenverfassung und Demokratie sowie seine Motivation im Kampf gegen die preußische Obrigkeitskirche. Eine Bereicherung des Gesamtbildes bietet der Anhang (451–483), der Scheibel im Urteil einiger Zeitgenossen vorstellt. Unter anderem kommen hier der Potsdamer Hof- und Garnisonsprediger R. F. Eylert, ein scharfer Gegner Scheibels, sowie H. Steffens und W. von Kügelgen zu Wort.
Trotz einiger Bedenken, die man gegen eine solche Textauswahl und ihre die konsequente Historisierung eher scheuende Zielsetzung haben mag – im Grunde bleibt für jede ernsthafte Auseinandersetzung nur der Rückgriff auf die Quellen –, leistet das Buch in jedem Fall eines: auf Scheibel als einen Theologen aufmerksam zu machen, der mehr war als ein unbelehrbarer Gegner der Union. Der wohlwollend, doch nicht unkritisch urteilende H. Steffens scheint es so schlecht nicht getroffen zu haben, wenn er Scheibel als einen Menschen charakterisierte, der zwar »für das freie Denken ganz unfähig« war, seine Ziele aber auf eine persönlich durchaus integre Art in religiöser Ergriffenheit, gleichsam instinktsicher, zu verfolgen wusste (458 f.). Auf welche Weise Scheibel gerade darin nicht nur, wie Steffens meinte, ein »Kind des 16. und 17. Jahrhunderts« (463), sondern auch seiner eigenen Zeit im noch keineswegs hinreichend erhellten Spannungsfeld der sich neu herausbildenden konfessionellen Orthodoxie und der Erweckungsbewegung war, bleibt weiteren Deutungsversuchen seiner Person und der altlutherischen Bewegung insgesamt vorbehalten. Die vorliegenden Textauszüge könnten dazu anregen.
Ein Schriftenverzeichnis (ohne Trennung zwischen Quellen und Sekundärliteratur), Personen-, Orts-, Sach- und Bibelstellenregister schließen den Band ab.