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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

411-413

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Große, Ludwig

Titel/Untertitel:

Einspruch! Das Verhältnis von Kirche und Staatssicherheit im Spiegel gegensätzlicher Überlieferungen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009. 776 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02713-2.

Rezensent:

Rudolf Mau

»Die Akten lügen nicht!«, hieß es bald nach der Friedlichen Revolution im Blick auf die Namen vieler, die das DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als »Inoffizielle Mitarbeiter« (IM) geführt hatte. Schon eine Karteikarte schien die Verstrickung in die Ma­chenschaften der Stasi zu beweisen. Wer dies leugnete, weil er wissentlich und willentlich nie eine Verpflichtung eingegangen war, galt dennoch als überführt und obendrein als Lügner. Die Akten lügen nicht? Inzwischen weiß man es anders. Das aber hindert eine unseriöse Publizistik nicht, aus durchsichtigen Gründen weiterhin prominente Personen durch MfS-Decknamen (wie »IM Sekretär«, »IM Ingo«) zu brandmarken.
Mit seinem Einspruch wendet sich Ludwig Große gegen die Dominanz der monströsen MfS-Hinterlassenschaft, die seit der sensationsträchtig-unkritischen Erstveröffentlichung von Stasi-Akten zu kirchlichen Vorgängen und Personen (Besier/Wolf 1991) das Bild von der Kirche in der DDR verzerrt und sich als eine »giftige Mischung aus Denunziation, Kleingeisterei, Routine und Er­pressungswissen, von leider Richtigem und offensichtlich falsch Verstandenem« erwiesen hat (Geleitwort von Landesbischof Kähler). Das voluminöse Werk entstand in mehr als zehnjähriger Arbeit im Auftrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen und im Rahmen eines Forschungsauftrags der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Es zielt auf Klarheit hinsichtlich des Verhältnisses von Kirche und Staatssicherheit. Zur umfassenden Quellenkenntnis G.s gehört auch die vielfältige eigene Erfahrung im kirchlichen Dienst. Zu Recht betont G. die Unverzichtbarkeit von Zeitzeugen für ein Verständnis dessen, was in jenen Jahrzehnten geschah. Die regionale Beschränkung auf Thüringen aber verschafft der Untersuchung auch eine spezifische Brisanz. Denn auch aus gesamt kirchlicher Optik galt die thüringische Landeskirche besonders in den 1960er Jahren als »staatsnah« – zu Unrecht, wie G. meint und mit vielen Beispielen zu belegen sucht.
Große war seit 1957 Pfarrer, später Superintendent und zuletzt Ausbildungsdezernent seiner Landeskirche. Er leitete die nach wie vor aktive Lutherische Bekenntnisgemeinschaft in Thüringen. Jahrzehntelang war er selbst »Ziel-objekt des MfS« (107) im Zuge von IM-Werbungs-Versuchen wie auch in »Operativen Vorgängen« zur »Zersetzung« seiner Person. Nach der Friedlichen Revolution gehörte er zum landeskirchlichen Überprüfungsausschuss für Stasi-Kontakte. Sein Einspruch erwächst vor allem aus dem vielfältigen Erleben der geistlichen Realität von Kirche in den Jahrzehnten der ideologischen Diktatur; er zielt besonders auf den oft leichtfertigen Umgang mit dem IM-Begriff seit dessen Bekanntwerden. Das Recht und die Würde von Beschuldigten verlange in jedem Fall ein »genaues Recherchieren«, hinreichende »Skepsis gegenüber den Akten« und ein »gründliches Prüfen vor der Brandmarkung einer Person« als IM (112).
An über 100 »Fallbeispielen« mit genauer Darstellung von Vorgängen, Situationen und Problemaspekten expliziert G. die weitverzweigte Thematik des Buches. Journalistisch-griffige Titulierungen bieten Zugänge an beliebigen Stellen. Viele Beispiele dienen dem Nachweis von Unstimmigkeiten in den Stasi-Akten wie auch und vor allem beim späteren Umgang mit den MfS-Hinterlassenschaften. Als Einstiegs-Paradigma dient der MfS-Umgang mit der Staat-Kirche-Konfrontation 1982, die sich auf das Friedenssymbol »Schwerter zu Pflugscharen« bezog (»Prolog auf der Straße«, 21–40).
Um eine eigenständige Friedensbewegung zu unterdrücken, waren Polizei und Schulleitungen rigoros gegen die jugendlichen Träger des Symbols vorgegangen. Kirchliche Gremien, auch die thüringische Synode, stellten sich öffentlich hinter die Träger des Symbols. Bei einer Konfrontation der Konferenz der Kirchenleitungen mit Staatssekretär Gysi trug der thüringische Landesbischof Leich den Protest des Kirchenbundes vor. In einer späteren MfS-»Einschätzung« aber wurde aus diesem Ereignis eine »Maßnahme zur Zurückdrängung« der eigenständigen Bewegung: Kirchlicher Widerspruch mutierte also, ideologiegeleitet entstellt, zu staatlich programmierter Planerfüllung. Die Stasi-Textsammlung von Be­sier/Wolf präsentierte dann 1991 diese Sicht als zutreffende Darstellung kirchlichen Verhaltens.
G. behandelt die Gesamtthematik in sehr kleinteilig untergliederten Kapiteln; das Inhaltsverzeichnis umfasst elf Seiten. Auf eingehende Erörterungen zu den mehrfach geänderten Zugangsrechten zu den MfS-Akten folgen hermeneutische Überlegungen zu den Stasi-Texten und dem Umgang mit ihnen (unter dem Talleyrand-Sarkasmus »Die Sprache ist dem Menschen gegeben, dass er seine Gedanken verberge«), so zur Frage der je spezifischen Zwecke von Texten, persönlicher Ambitionen ihrer Schreiber und des Fortwirkens von Texten bis heute (139–224). Wo erwünschte Informationen fehlten, wurden solche »beschafft« (erdichtet). G. illustriert die »Sprache der Macht« – von Abschöpfen über Disziplinieren, Legendieren (= geplante Täuschung im Zuge einer IM-Werbung) bis Zermürben, Zersetzen und Zerschlagen (153–199), verweist auch auf »Sondersprachen« des MfS samt bis heute nicht vollständig erfassten, den höchsten MfS-Rängen vorbehaltenen Abkürzungen, er­innert aber auch an die verdeckte Redeweise der Bevölkerung als kritisches Potential (wenn auch heute kaum noch so erkennbar), an die Sprache der Lieder – und an die »Sprache Kanaans«, das biblische Wort als befreiende Gegensprache.
Die längsten Kapitel gelten der vielgestaltigen Wirklichkeit der Kirche (225–336) und dem fast omnipräsenten Agieren der Stasi (337–505). Deren »Zerstörungsabsichten« begegnet die Kirche im Sinne von CA 7 als »geistliche Gemeinschaft« mit universalem Seelsorgeauftrag (227). Ihre Chance gegenüber dem Staatsapparat wa­ren die Menschen als »Lücken« im System (283–285). Doch wie hält G. es mit CA 8? Dass die Kirche in Thüringen durch »Staatsnähe« der Stasi »Einfallstore« geöffnet habe, weist er entschieden zurück, so auch durch den Hinweis auf Predigtvorbereitungskreise unter Beteiligung aus Kirchenmusik, Diakonie und Verwaltung: Dies nenne er »Kirche in Thüringen, nicht einzelne eingeschleuste oder gedungene MfS-Knechte« (596). Auch von »kirchlichen Konspirationen« könne »per definitionem« keine Rede sein, da »Kirchen« nicht konspirieren können (270). Kaum ein Schatten fällt auf Bischof Mitzenheim, der die Kirche beauftragt wusste, »die heilenden Kräfte des Evangeliums ins Volk« zu tragen (323 u. ö.), auch nicht auf dessen Nachfolger Braecklein, der stets in Abstimmung mit anderen Verantwortlichen handelte und ganz zu Unrecht als IM registriert wurde. Kritische Anmerkungen zu Mitzenheim betreffen dann aber doch dessen statische Auffassung der Zwei-Reiche-Lehre und seine Entschlossenheit, als richtig Erkanntes »notfalls allein« durchzusetzen (335). G. spricht auch vom »Zorn« darüber, dass Mitzenheim sich 1961 dazu überreden ließ (durch OKR Lotz, der wegen einer frühen Verfehlung Stasi-erpressbar war und im Sinne der SED-hörigen Ost-CDU agierte), nur Tage nach dem Mauerbau den Vaterländischen Verdienstorden anzunehmen (520). Unerwähnt bleiben das »Wartburg-Gespräch« 1964 (mit Ulbricht), die Sonderrolle Mitzenheims bei der Einführung der neuen DDR-Verfassung 1968 und seine Vereitelung eines gesamtkirchlichen Wortes zum Überfall auf die Cˇ SSR. Wird die als kränkend empfundene Rede vom »Thüringer Weg« schon gegenstandslos durch den Hinweis, die thüringische Kirche, d. h. Pfarrerschaft und Gemeinden, hätten sich eins gewusst mit der Gesamtkirche?
G. hat sich verdient gemacht um die Erschließung eines umfassenden Stasi-Materials zum Weg der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen und dessen hermeneutisch sorgsame wie theologisch engagierte Verarbeitung. Seite für Seite zeigt er auch anhand vieler kirchlicher und Zeitzeugen-Quellen, wie die Kirche in Thüringen jahrzehntelang unter heiklen Bedingungen ihren Weg suchte und fand. Beigegebene Dokumente belegen u. a. das entschiedene Eintreten der Kirche vor Ort für die Rechte der Bürger (Superintendentur Saalfeld 1983 an den Rat des Bezirkes Gera, 742–764).