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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

407-408

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Siegert, Folker

Titel/Untertitel:

Das Leben Jesu. Eine Biographie aufgrund der vorkanonischen Überlieferungen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 294 S. m. Abb. gr.8° = Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum, 8/2. Geb. EUR 70,95. ISBN 978-3-525-54205-7.

Rezensent:

Eduard Lohse

In der neutestamentlichen Wissenschaft gilt es seit Albert Schweitzer weithin als ausgemacht, dass aufgrund unserer Quellen, wie sie in den Evangelien vorliegen, ein Leben Jesu nicht hergestellt werden kann. Der Autor dieses Buches, Folker Siegert, hat den Mut, diese verbreitete Annahme beiseite zu schieben und den Versuch zu wagen, aus den ältesten Texten, die aus den vier Evangelien rekonstruiert werden, ein Leben Jesu zu zeichnen.
Die Voraussetzungen für dieses Unternehmen hat S. in zwei vorangegangenen Untersuchungen geschaffen: sowohl in seiner um­fangreichen Studie über »Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt – Wiederherstellung und Kommentar« (Göttingen 2008) als auch in der von ihm erstellten »Synopse der vorkanonischen Jesusüberlieferungen« (Göttingen 2010). Darin hat er aus dem vierten Evangelium zwei alte Quellen herausgeschält, die dem Evangelisten vorgelegen haben: einerseits die sog. Zeichenquelle (QS), andererseits einen vorjohanneischen Passionsbericht (PB). Für die synoptischen Evangelien wird die sog. Zwei-Quellentheorie vorausgesetzt, nach der auf der einen Seite das Markusevangelium, auf der anderen die sog. Spruchquelle (Q) den Evangelisten Matthäus und Lukas unabhängig voneinander vorgegeben waren. Indem diese vier Zusammenhänge als »vorkanonische Überlieferungen« be­wertet werden, sind nach dem Urteil S.s hinreichend verlässliche Voraussetzungen gewonnen, um das Wagnis zu unternehmen, ein Leben Jesu zu entwerfen.
Wie geht S. von diesen Voraussetzungen aus ans Werk? Den aus dem JohEv gewonnenen Quellen wird besondere Nähe zum Ge­schehen und mithin historische Zuverlässigkeit zuerkannt. Daher werden diese beiden Quellen dem Entwurf eines Lebens Jesu zugrunde gelegt. Die Zeichenquelle liefert hierzu den ersten Teil – von Johannes dem Täufer bis zur Peripetie, dem Weg Jesu zu Leiden und Sterben. Jesu Passion macht den Inhalt des vorjohanneischen Passionsberichts aus, dessen Erzählfaden als zweitem Teil bis zum Ostergeschehen gefolgt wird. Synoptische Texte, die sich zum Vergleich bzw. zur Ergänzung anbieten, werden möglichst passend in diesen Aufriss eingefügt. Diesem Verlauf erkennt S. einen historisch zutreffenden Rahmen für das Leben Jesu zu. Dem Weg Jesu wird nicht nur ein Aufenthalt in Jerusalem zugewiesen, der die wenigen Tage vor seinem Ende am Kreuz umfasst. Vielmehr wird – im An­schluss an Vorgaben des JohEv – ein zweiter, etwa ein halbes Jahr vorher anzusetzender Besuch der heiligen Stadt zum Laubhüttenfest angenommen. Das Leben Jesu, wie S. es beschreibt, umfasst dessen letztes Jahr, ein ganzes Jahr voller Ereignisse, Verkündigung und Taten Jesu. Die öffentliche Wirksamkeit Jesu wird auf dieses eine Jahr begrenzt, die sog. Kindheitsgeschichten werden als legendäre Erzählungen beiseite gelassen.
In den kurz gefassten Erklärungen, die den einzelnen übersetzten Texten beigegeben sind, wird nicht nur auf Daten der Umwelt, Daten alter religiöser Überlieferungen oder urchristlicher Verkündigung Bezug genommen. Es werden auch schwer verständliche Ausdrücke und Wendungen so wiedergegeben, dass ein heutiger Hörer und Leser sie verstehen können soll. So werden aus den »Schriftgelehrten« »Schreiber«. Und die Juden, die des Öfteren als Vertreter des feindlichen Kosmos dargestellt werden, werden als Judäer bezeichnet, so dass der Verdacht antijüdischer Tendenz ausgeräumt wird.
Besonders eingehend wird darüber nachgedacht, wie die Taten Jesu, die in der Zeichenquelle aufgeführt sind, in heutigem Urteil zu begreifen seien. S. betont, dass diese nicht als »Wunder«, sondern als »Zeichen« beschrieben werden. Jesus sei »nicht losgezogen, um Wunder zu tun, sondern das zu Verwundernde ergab sich am Rande seiner Botentätigkeit als Ankündiger des Gottesreiches« (54).
Zu den einzelnen Perikopen, die von außerordentlichen Taten Jesu berichten, werden dann Erklärungen gesucht, die möglichst wenige Zumutungen an die Verständnisbereitschaft der Leser unserer Zeit stellen. »Jesus beginnt mit seinen ›Zeichen‹ dort, wo er sich auskennt, in seiner Heimat Galiläa.« (55) Bei der Hochzeit zu Kana sei nicht von einem »Naturwunder« zu sprechen. »Als ob es Sinn machte oder auch nur nötig wäre, an dieser Stelle die Naturgesetze zu durchbrechen.« (57) Wie aber dann? Ist der Wein ausgegangen, »dann feiern wir eben mit Wasser!« (ebd.) Auf Jesu Wink hin werden »die Reserven des Hauses zugänglich« (ebd.). Wo von heilender Tätigkeit Jesu erzählt wird, lasse sich erkennen, »dass Jesus auf diejenigen Kranken zugeht …, denen er eine Chance ansieht« (122). Eine Totenerweckung deute auf »Wiederbelebung« hin, die jedoch noch nicht ewiges Leben sei (94). Die Perikope von der Auferweckung des Lazarus habe »so viele Ähnlichkeiten mit der Ostererzählung des PB, dass sie schon eher eine Allegorie ist auf das, was der Evangelist dann ›(ewiges) Leben‹ nennen wird« (155).
Mit Zurückhaltung wird das Problem eines Messiasbewusstseins Jesu angegangen. Es gehe dabei nicht darum, ihm den einen oder anderen Messiastitel zuzuerkennen, sondern einen »Hoheitsanspruch des Menschen Jesus Christus« zu bedenken (95).
In einem ausführlichen Anhang wird am Ende die Frage erörtert, welchen Ertrag historische Rückfrage an die alten Jesustraditionen für Lehre und Glauben der Christenheit einträgt: »Vom Jesus der Geschichte zum Christus der Kirche« (225–276). Dabei wird gefragt, welche Rückbindung die Dogmatik an die Geschichte aufweise (vgl. 255, Anm. 95). Als Bindeglied von der Historie Jesu zum Glauben der Kirche wird die Abendmahlsszene hervorgehoben. Geht es um »die Identität des historischen Jesus mit dem Christus der Kirche«, so kann die Antwort lauten: »Der historische Jesus und der Christus der Kirche haben ihre Verbindung in der ursprünglichen, und seither rituell wiederholbaren Abendmahlsszene.« (251)
Diese These wird in einem raschen Marsch durch 2000 Jahre Dogmen- und Theologiegeschichte des Näheren erläutert. Dabei spricht S. in spürbarer persönlicher Betroffenheit und zögert nicht, seine eigenen Urteile und Empfindungen in die Darstellung einzuflechten. So kann dann am Ende dieses ungemein eigenständigen Entwurfes, der manche neue, gewagte Hypothese enthält, erklärt werden, ebendieser Jesus Christus sei »Inhalt des Evangeliums als der Erhöhte, jedoch mitsamt der Geschichte seiner Erniedrigung, so wie die Evangelien sie uns erzählen. Mehr als dort steht, hat auch dieses Buch nicht sagen wollen.« (275)