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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

400-402

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Edwards, James R.

Titel/Untertitel:

The Hebrew Gospel and the Development of the Synoptic Tradition.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2009. XXXIV, 360 S. gr.8°. Kart. US$ 36,00. ISBN 978-0-8028-6234-1.

Rezensent:

Armin D. Baum

Obwohl die Zweiquellentheorie nach wie vor die meisten Anhänger aufzuweisen hat, wird sie von einer beträchtlichen Zahl von Forschern als unzureichend angesehen und teilweise erheblich modifiziert. Auch J. R. Edwards setzt zwar die Markuspriorität als gesichert voraus, plädiert aber darüber hinaus für ein komplexeres Lösungsmodell, das das Hebräerevangelium einbezieht und sich aus mehreren Beobachtungsreihen ergibt:
1. Das verlorene »Evangelium nach den Hebräern« wird bis zum 9. Jh. von etwa 20 Autoren insgesamt rund 75 Mal erwähnt und von Ignatius und sieben weiteren Vätern (vor allem Epiphanius und Hieronymus) vielfach zitiert, häufiger und positiver als jeder andere außerkanonische Text. Diese Erwähnungen und Zitate bespricht E. in den Kapiteln 1 und 2 (1–96) und zitiert die wichtigsten von ihnen in Appendix I (263–291). Die Kirchenväter bezeichnen das EvHebr E. zufolge auch als »Nazarenerevangelium« und berichten, dass es auch bei den Ebioniten Verwendung fand. Ihre Angaben böten aber (gegen Ph. Vielhauer und G. Strecker in NTApo 5I, 138–147, sowie D. Lührmann, Apokryph gewordene Evangelien, 32–55) keinen Anlass, drei judenchristliche Evangelien anzunehmen. Auch in der Papiasnotiz zum hebräischen Matthäusevangelium und den davon abhängigen Väterangaben sei dasselbe EvHebr gemeint. Es wird von zwölf Autoren dem Apostel Matthäus und nie einem andern Verfasser zugeschrieben. Es habe im Laufe der Zeit (wahrscheinlich von Judenchristen vorgenommene) Veränderungen erfahren, die sich allerdings, soweit die Angaben der Kirchenväter erkennen ließen, in einem relativ engen Rahmen hielten. Das EvHebr war E. zufolge nicht in Aramäisch, sondern in Hebräisch geschrieben. Hebräisch wurde in der Zeit des zweitens Tempels sowohl als Alltags- als auch als Literatursprache verwendet, be­sonders in religiösen Schriften und im Gottesdienst (166–182). – Kein Kirchenvater hat die Synoptiker als Quelle des EvHebr eingestuft. Origenes und Hieronymus implizieren sogar, dass das EvHebr älter war als die Synoptiker. Nach E. stellte es (gegen Vielhauer, Strecker, Lührmann u. a.) keine Kompilation aus den synoptischen Evangelien dar, da nahezu alle Zitate aus dem EvHebr Details enthalten, die über die synoptischen Parallelberichte hinausgehen.
2. Beim griechischen Mt handelt es sich für E. nicht um eine Übersetzung des EvHebr, da es viel ärmer an Hebraismen ist als Lk und sich nur äußerst schwierig ins Hebräische zurückübersetzen lasse. Außerdem erwiesen sich matthäische Perikopen gegenüber ihren lukanischen Parallelen häufig als sekundär, so dass Mt (mit M. Hengel) nach Lk entstanden sein muss. Seinen Namen erhielt der kanonische Mt wahrscheinlich, weil er wie das EvHebr für judenchristliche Gemeinden geschrieben wurde (243–258). Die altkirchlichen Zitate aus dem EvHebr berühren sich stärker mit Lk als mit Mt und Mk, und zwar besonders stark mit dem lukanischen Sondergut (97–111). Gleichzeitig gehören 505 (das sind 72 %) der 703 von E. (im Anschluss an G. Dalman, A. Schlatter, J. Fitzmyer, u. a.) identifizierten Semitismen zum lukanischen Sondergut, und 148 (das sind 21 %) finden sich über Mt und/oder Mk hinaus in den synoptischen Paralleltraditionen (125–148 mit dem Appendix II auf S. 292–332). Diese lukanischen Semitismen (»es geschah«, »und siehe« usw.) lassen sich nach E. weder durchgehend als Septuagintismen (gegen M.-E. Lagrange, J. Fitzmyer) noch durchgehend als Aramaismen, durchaus aber vollständig als Hebraismen deuten (154–166).
3. Aus diesen Gründen war das EvHebr E. zufolge (der darin mit Modifikationen P. Parker und E. Schweizer folgt) die Hauptquelle des Lk. Diese habe Lk durch Stoffe aus Mk und einer (sehr knappen) Quelle mit matthäisch-lukanischen Doppeltraditionen ergänzt (112–118.182–186.209–242). Das EvHebr sei daher die wichtigste der im Lukasprolog erwähnten Quellenschriften (148–153). Es verschwand mit dem antiken Judenchristentum. Von der christlichen Bibelwissenschaft sei es nicht nur vernachlässigt worden, weil es nicht erhalten geblieben ist. E. findet auch, dass man seit der Aufklärung mit einer antijüdischen Grundhaltung hebräische Einflüsse auf die Entstehung des Christentums minimierte oder vernachlässigte (187–208).
E.s Präsentation und Erläuterung der antiken Evidenz zum EvHebr (die deutlich mehr Fragmente bietet als Lührmann) ist außerordentlich nützlich. Gegen seine Ansicht, dass die antiken Zeugnisse nicht von drei, sondern nur von einem judenchristlichen Evangelium sprechen, lassen sich angesichts der antiken Evidenz keine durchschlagenden Einwände erheben. Und sein Plädoyer, das vielfältig bezeugte EvHebr stärker in die Rekonstruktion der frühchristlichen Literaturgeschichte einzubeziehen, ist sicher grundsätzlich berechtigt.
Eine einigermaßen gesicherte Bestimmung der historischen Rolle, die das EvHebr gespielt hat, erscheint mir aber auch nach Lektüre von E.s gründlicher Untersuchung nicht möglich. Zwar hat die These, dass es sich beim EvHebr nicht um eine Kompilation aus den synoptischen Evangelien handelt, manches für sich. An anderen Stellen lässt E.s Rekonstruktion jedoch Fragen offen. Im Blick auf das Verhältnis des Lk zum EvHebr: Kann Lk sein Sondergut nicht auch aus anderen semitischen (bzw. hebräischen) Quellen geschöpft haben? Im Blick auf das Verhältnis des EvHebr zum semitischen Mt des Papias: Kann es sich beim EvHebr nicht auch um eine Weiterentwicklung eines semitischen Mt gehandelt ha­ben? Im Blick auf die Häufung von Semitismen (oder Hebraismen) in Lk: Kann die geringere Zahl an Semitismen bei Mt und Mk gegenüber Lk nicht auch daher rühren, dass Lk mit dem Wortlaut seiner Quellen konservativer verfahren ist als Mt und Mk?
Aufschlussreich erscheinen mir allerdings die (von E. nicht ge­nau bezifferten) Semitismen, durch die sich Lk in seinem Markusstoff (etwa in Lk 4,31–32; 4,33–37; 4,38–39 etc.) von Mk unterscheidet. Setzt man die Markushypothese voraus, so lassen sie sich als Elemente deuten, um die Lk seine Markusvorlage ergänzt hat, um ihren semitischen Klang zu verstärken. E. scheint es für plausibler zu halten, dass Lk auch Teile seines Markusstoffs einschließlich ihrer Semitismen dem EvHebr entnommen hat. Mir erscheint es mindestens ebenso erwägenswert, dass Lk für seinen Markusstoff auf eine einigermaßen stabile mündliche Tradition zurückgegriffen hat, deren semitischen Charakter er punktuell genauer be­wahrt hat als Mk oder Mt – natürlich nur, falls auch andere Indizien für den starken Einfluss eines mündlichen Faktors sprechen.
Diese Anfragen sollen nicht besagen, dass E.s Lösung der synoptischen Frage unmöglich ist. Sie werfen aber die Frage auf, ob die Art und Weise, wie E. die unbestreitbare Evidenz zum EvHebr und die eindeutig nachweisbaren Semitismen im Lukasevangelium zu einer Gesamthypothese zusammengeführt hat, alternativen Hypothesen tatsächlich überlegen ist.
Im Vorwort berichtet E., ein wohlmeinender Freund habe ihn gewarnt, durch eine Publikation seines Lösungsvorschlags zur synoptischen Frage würde er seine wissenschaftliche Karriere gefährden (XXI). Glücklicherweise hat E. sich durch solch eigenartige und sachfremde Erwägungen nicht in seiner Arbeit an der historischen Evidenz beeinflussen lassen. Das für die Erforschung des EvHebr erforderliche Quellenmaterial hat er gut aufbereitet, und für die Einbeziehung desselben in die synoptische Frage bietet seine gründliche Untersuchung viele wertvolle Anregungen. Davon, dass das verfügbare Material ausreicht, um zum Zusammenhang des EvHebr mit den Synoptikern einigermaßen belastbare Aussagen zu machen, bin ich allerdings nach wie vor nicht überzeugt.