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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

397-400

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Braun, Heike

Titel/Untertitel:

Geschichte des Gottesvolkes und christliche Identität. Eine kanonisch-intertextuelle Auslegung des Ste­pha­nusepisode Apg 6,1–8,3.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XIII, 515 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 279. Kart. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-150227-9.

Rezensent:

Thomas Hieke

Schon der erste Blick in die Stephanusrede in der Apostelgeschichte zeigt, dass hier das Alte Testament als bekannt vorausgesetzt wird. Man muss die Geschichte Israels in ihrer biblischen Vermittlung kennen, um die Argumentation des Stephanus nachvollziehen zu können. Es drängt sich also geradezu auf, mit dem literaturwissenschaftlichen Methodenkonzept der »Intertextualität« an die Stephanusepisode der Apostelgeschichte heranzugehen. Genau das unternimmt Heike Braun in ihrer umfangreichen Monographie mit dem Untertitel »Eine kanonisch-intertextuelle Auslegung der Stephanusepisode Apg 6,1–8,3«.
Die Arbeit, die auf eine Dissertation an der Universität Regensburg (unter der Betreuung von Tobias Nicklas und Christoph Dohmen) zurückgeht, weist einen sehr schlüssigen Aufbau auf (s. u.) und zeichnet sich durch eine konzise Methodik mit präzisen Textanalysen aus. Die Auslegung, die dem Lektüreparadigma verpflichtet ist, gestaltet sich textzentriert und leserorientiert (446). Es geht somit um die wissenschaftliche Reflexion des Lesevorgangs, nicht primär um die hypothetische Rekonstruktion von Intentionen eines Autors. Doch der Gegenstand ist nicht irgendeine Lektüre irgendeines spätantiken Textes. Vielmehr ist die Stephanusepisode als Teil der christlichen Bibel auch Teil eines Konzeptes, das in seiner historischen Rezeption bereits den Anspruch überzeitlicher Gültigkeit in sich trägt und bis heute einen normativen Grundlagencharakter zur Identitätsbildung der Glaubensgemeinschaft ausweist – man nennt dieses Konzept »Kanon« oder »Heilige Schrift«. Als solche(r) hat der Text anamnetische und zeugnishafte Qualität für die »Ge­genwärtigkeit der Gottesbegegnung« (446). Damit ist die Stephanusepisode nicht einfach eine historische Quelle, sondern Teil einer »heilsgeschichtlichen Struktur«, die in die Vernetzung von Altem und Neuem Testament auch die darauf gründende Glaubensgemeinschaft und deren Geschichte und Identität einbezieht. Es ist B. hoch anzurechnen, dass sie diese weitreichenden Dimensionen in ihrer Auslegung gebührend zum Tragen bringt.
Der einleitende Teil (I) beginnt mit kirchengeschichtlichen Zeug­nissen über Stephanus als den ersten christlichen Märtyrer und der Fragestellung, ob es sich bei ihm um ein Symbol der Trennung (von Judentum und Christentum) handelt. Wird Stephanus als Symbol der Trennung aufgefasst (wie es allzu oft geschah und noch immer geschieht), führt dies zum Vergessen der identitätsstiftenden Wurzeln des Christentums im Judentum und damit zu einer verzerrten Sicht der Entstehung des Christentums. Die Deutung der Figur des Stephanus und seiner Rede in der Apg bedarf also einer differenzierten Sichtweise. B. fasst den Forschungsstand zusammen und resümiert, dass die Betrachtung der Stephanusepisode als bloße historische Quelle nicht weitergeführt habe und daher sich mehr und mehr die Überzeugung durchsetzt, den Text als Komposition in größeren literarischen Zusammenhängen (lu­-kanisches Doppelwerk, christliche Bibel) wahrnehmen zu müssen. Als Abschluss der Einleitung entwickelt sie ihre leitenden Fragestellungen, die sie am Ende in der zusammenfassenden Reflexion wieder aufgreift: 1. Wie funktioniert der Text Apg 6,1–8,3 als Erzählung innerhalb der Apg und des lukanischen Doppelwerks? 2. Wie funktioniert er innerhalb der christlichen Bibel? 3. Welches Bild der Geschichte Gottes mit Israel wird vermittelt und welche Funktion hat die derart interpretierte Geschichte für den Text?
Im zweiten Teil formuliert B. hermeneutisch-methodische Überlegungen (II), um ihre Herangehensweise auch methodo­logisch abzusichern. Sie reflektiert darin die angezielten Groß-kontexte »christliche Bibel«, »lukanisches Doppelwerk« und »Apos­telgeschichte«. Sodann skizziert sie »Grundlinien kanonisch-in­tertextueller Auslegung« und erläutert, was »textzentriert« und »le­serorientiert« bedeutet. Sie tut dies in fundierter und reflektierter Weise, indem sie auf wichtige Publikationen und Beispielarbeiten aus den Bereichen »kanonisch-intertextuelle Lektüre« und »Biblische Auslegung« zurückgreift und die dort von Exegeten wie Georg Steins, Christoph Dohmen, Tobias Nicklas (und dem Rezensenten) vorgelegten Ansätze weiterdenkt. An dieser Stelle wird auch plausibel begründet, warum die Septuaginta in Verbindung mit dem griechischen Neuen Testament dasjenige Korpus ist, das als primärer intertextueller Raum für die Text-Text-Relationen herangezogen wird (73–76).
In ihrem Hauptteil (III) unternimmt B. eine »Biblische Auslegung« (von ihr – mit Recht – synonym zu »kanonisch-intertextueller Lektüre« verwendet) der Stephanusepisode. Sie schickt eine ausführliche Strukturanalyse des gesamten Textes voraus und widmet sich dann den einzelnen Segmenten. Jeder Ab­schnitt ist weitgehend gleich aufgebaut: Auf eine Strukturanalyse folgt die Reflexion der »Lektüre«, in der insbesondere die Bezugnahmen zum Alten Testament aufgedeckt und für die Interpretation fruchtbar ge­macht werden. Ein Fazit schließt jeden Bereich auswertend ab.
Die Ergebnisse werden im abschließenden vierten Hauptteil »Zusammenfassende Reflexion« (IV) gebündelt. Nach Art eines Palindroms geht B. auf ihre Ausgangsfragen ein: In der hermeneutisch-methodischen Skizze (IV, 1; siehe Teil II) reflektiert sie, wie die Methodik der »kanonisch-intertextuellen Auslegung« den Blick geweitet hat, so dass die Stephanusepisode als viel weiterreichend erkannt wurde denn als bloße historische Quelle über das erste christliche Martyrium. Dieser Text ist eine »Schwellenerzählung der Geschichte des Gottesvolkes« (IV, 2; siehe Teil I und die dort notierten Defizite der bisherigen Forschung): Sie ist auf dem »Weg des Heils« (als Begriff für das lukanische Doppelwerk) ein entscheidender Markstein des Innehaltens – die Stephanusrede stellt das Christusgeschehen in die Tradition der alttestamentlichen Propheten und knüpft es als »Weg des Herrn« an den spannungsvollen Weg Gottes mit seinem Volk an. Die Geschichte Gottes mit seinem Volk setzt sich in der Geschichte Jesu Christi und der Geschichte seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger fort; Geschichte wird so nicht nur erinnert, sondern vergegenwärtigt. Vor dem Eintritt in die neue Etappe der Verkündigung »bis ans Ende der Erde« bedeutet die Stephanusrede eine Selbstvergewisserung der eigenen christlichen Identität vor dem Hintergrund der bisherigen Heilsgeschichte Gottes mit Israel (448).
Abschließend reflektiert B. die Figur des Stephanus als stehend an der »Schwelle zwischen Judentum und Christentum« (IV, 3; siehe in Teil I die einleitende Frage nach Stephanus als Symbol der Trennung). Sie arbeitet zum einen zusammenfassend diejenigen Aspekte des Textes heraus, die tatsächlich eine (unter Umständen sogar polemisch intendierte) Abgrenzung vom Judentum nahelegen (die Darstellung der Geschichte Israels als »Unheilsgeschichte«, Stephanus als Prophet, der die Verstocktheit des Volkes kritisiert, die Schilderung der Gegner, die Ablehnung der Christusbotschaft). Ist somit das Trennungsverhältnis auch ein Ersetzungs- und Überlegenheitsverhältnis? B. zeigt, dass das letztlich nicht funktionieren kann. Die Gegnerschaft des Stephanus besteht nicht aus »den Juden« allgemein; vielmehr ist die Personenkonstellation viel differenzierter, Stephanus selbst und seine Anhänger stammen aus dem hellenistischen Diasporajudentum. Die Stephanusrede betont zahlreiche Kontinuitätslinien zwischen Judentum und Christentum (»unsere Väter«; Jesus als der Messias des Volkes Israel – Dialektik von Gemeinschaft und Trennung!). Stephanus als prophe­tische Gestalt verkörpert als solche die Verbindung zum Judentum; Erinnerung schafft Verbindung (nicht Trennung). Christliche Identität ist somit nicht durch bloße (polemische) Abgrenzung vom Judentum zu gewinnen, sondern geschieht in der Stephanus-episode einerseits durch die Erinnerung an die Geschichte Israels als Geschichte der Anwesenheit des »Gottes der Herrlichkeit« und damit als Wurzel der Geschichte Jesu Christi, andererseits durch die Abgrenzung von der Geschichte Israels als einer Geschichte der Ablehnung der prophetischen Mittler Gottes, insbesondere Jesu (465). »Vor diesem Hintergrund wird mit der Gestalt des Stephanus ein neuer Weg angeboten, der darin besteht, die Geschichte Jesu Christi als (weitere) Antwort auf die Frage nach der Gegenwart Gottes zu verstehen. Die Stephanusepisode erinnert also daran, dass Judentum und Christentum einen gemeinsamen Ursprung im Weg Gottes mit seinem Volk haben, von diesem aber ein ›neuer Weg‹ abzweigt« (ebd.). B. verweist abschließend darauf, dass das lukanische Doppelwerk als »Erzählung des Weges des Heils« ein »ambivalentes Israelbild« zeichnet, in dem trotz der Widerstände des Gottesvolkes immer wieder die Priorität Israels im Heilswillen Gottes vor Augen geführt wird (466). Dieser Heilswille Gottes für Israel ist keineswegs beendet, so dass vorerst – und hier liegt aus meiner Sicht die wichtigste Schlussfolgerung vor – »eher zwei ›Wege des Heils‹ nebeneinander herlaufen« (468–469). Der Weg Israels mit Gott geht weiter; dass Israel den Weg des Heils durch Jesus Christus ablehnt, macht ihn nur »breiter«, indem sich so der Weg zu den Völkern öffnet: »Licht zur Offenbarung für Völker und Herrlichkeit für dein Volk Israel« (Lk 2,32).
Präzise Textanalyse im Einzelnen und methodologischer Weitblick, textzentrierte Interpretation und theologische Gesamtschau zeichnen die Arbeit von B. aus, die als Meilenstein in der Exegese der Apostelgeschichte gelten darf und zugleich ein ganz starker Impuls für den christlich-jüdischen Dialog ist. Die am Text der Apg aufgezeigte Rede von den »zwei Wegen des Heils« ist vielleicht auf den ersten Blick nicht zu sehen, doch im Grunde der zwei-einen christlichen Bibel inhärent. B. erinnert mit großer Überzeugungskraft und gutem Recht daran.