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Ausgabe: | April/2011 |
Spalte: | 394-397 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Baumert, Norbert |
Titel/Untertitel: | Der Weg des Trauens. Übersetzung und Auslegung des Briefes an die Galater und des Briefes an die Philipper. |
Verlag: | Würzburg: Echter 2009. 501 S. 8° = Paulus neu gelesen. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-429-03156-5. |
Rezensent: | Dieter Sänger |
Mit dem Galater- und Philipperbrief legt Norbert Baumert, Professor em. für Neues Testament an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt a. M., innerhalb kurzer Zeit den dritten Band in der Reihe »Paulus neu gelesen« vor. Den Auftakt bildete die 2007 und 2008 erschienene Auslegung der beiden Korintherbriefe. Kann B. das Tempo durchhalten, ist mit den noch ausstehenden Bänden zum Corpus Paulinum schon in naher Zukunft zu rechnen.
Wie dem Vorwort zu entnehmen ist, bietet das Kommentarwerk »eine in über 45 Jahren erarbeitete neue Gesamtsicht der Paulusbriefe« (5). Wesentliche Impulse verdankt sie dem »Frankfurter Pauluskreis« (478), den B. initiiert hat und dessen spiritus rector er war. Nicht von ungefähr verweist er zur Begründung seiner zum Teil sehr speziellen Sicht der Dinge immer wieder auf Publikationen, die aus diesem Kreis hervorgegangen sind. Ob die im schulinternen Diskurs gewonnene neue Gesamtschau jedoch auf breitere Akzeptanz stoßen wird, erscheint höchst fraglich. Für diese wenig günstige Prognose gibt der vorliegende Kommentar Anlass genug. Das Charakteristikum der in ihm entfalteten Perspektive auf den Gal und Phil besteht nämlich darin, dass sie auf einer Fülle theologisch relevanter Vorentscheidungen basiert, deren Plausibilität sich all jenen, die nicht zur Konsensunion des »Frankfurter Pauluskreises« gehören, nur schwer erschließen dürfte.
Der vielversprechende Reihentitel »Paulus neu gelesen« macht gespannt auf die zu erwartenden Novitäten. Zumindest in dieser Hinsicht wird man nicht enttäuscht. Denn »neu« im Sinne von ungewöhnlich ist so ziemlich alles, was B. den Lesern mitzuteilen hat. Das gilt zunächst für die Auskunft, der von p46 gebotene Text stelle die maßgebliche Bezugsgröße dar, an der sich die Auslegung zu orientieren habe (6). Er repräsentiere wenn nicht die Mutter der Überlieferung, so doch den am besten erhaltenen und zuverlässigsten Text. Unter Berufung auf seinen Gewährsmann K. Jaroš datiert ihn B. extrem früh (um 80 n. Chr.). Die Konsequenz: Ihm wird selbst dort der Vorzug gegeben, wo er aus inneren Gründen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht ursprünglich ist.
Ich beschränke mich auf drei Beispiele: a) In Gal 2,5b ändert B. mit p46 ἀλήθεια τοῦ εὐαγγελίου (vgl. 2,14) in ἀλήθεια τοῦ θεοῦ, eine Lesart, die im textkritischen Apparat von Nestle/Aland27 und GNT4 nicht einmal verzeichnet ist. Zu Recht! Denn das Argument, es gehe »hier nicht um einen Streit zwischen Menschen …, sondern … um das, was Gott geoffenbart hat« (31, Anm. 13), lässt völlig außer Acht, dass der Kopist ganz offensichtlich an Röm 1,25; 3,7; 15,8 angeglichen und »Evangelium« durch »Gott« ersetzt hat. Erst beim zweiten Vorkommen der Phrase in 2,14 war er von ihrer Richtigkeit überzeugt und hat auf eine Korrektur verzichtet. b) In Phil 3,14 wird die bestens bezeugte Lesart τοῦ θεοῦ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ mit p46 auf θεοῦ verkürzt und damit der Aussage ohne zureichenden Grund die christologische Spitze abgebrochen (375 f. 463). c) Der bekannten Schwierigkeit, die syntaktische Struktur von 3,18 auf der Basis des positiven Wortbestandes zu bestimmen, entzieht sich B., indem er nach V. 18a eine Zäsur setzt, mit V. 18b einen neuen Satz beginnen lässt und anschließend wieder p46 folgt, der in V. 18c βλέπετε einfügt und damit das zuvor fehlende Prädikat ergänzt (387 f.444). Textkritisch handelt es sich zweifellos um eine sekundäre Variante. Der Einfluss von 3,2 ist unverkennbar. Mit entwaffnender Offenheit verrät B., warum er sie dennoch bevorzugt: »Alles löst sich, wenn man die Lesarten von P46 annimmt« (444). Dass eben in der Beseitigung von Problemen das Ziel der Korrekturarbeit des Kopisten bestanden haben könnte, wird als denkbare Möglichkeit von vornherein ausgeblendet. Die genannten Beispiele lassen sich leicht um weitere vermehren (vgl. z. B. 176–178.409–412).
Hier wie dort beruht die Auslegung auf einem Text, der sich letztlich als ein exegetisches Konstrukt erweist. Dadurch wird sie mit einer Hypothek belastet, die methodisch unkalkulierbar ist, und setzt sich überdies dem Verdacht aus, ihre Ergebnisse zu präjudizieren. Umso bedauerlicher ist es, dass B. eine kritische Reflexion über die Tragweite seiner Textpräferenz vermissen lässt und sich der Mühe enthebt, die ihr unterliegende Vorurteilsstruktur zu problematisieren.
Für Irritationen sorgt die häufig eigenwillige, ja befremdlich wirkende Übersetzung. Allzu oft hat es den Anschein, als sei sie interessegeleitet und verfahre nach dem Motto: Was Grammatik und Syntax nicht hergeben, wird durch Interpretationskunst wett- und passend gemacht.
Einige Kostproben mögen genügen. In Gal 1,6 macht B. Paulus zum Subjekt des καλεῖν und übersetzt: »Ich wundere mich, daß ihr so schnell überlauft von dem, der euch ›mit Gnade‹ gerufen hat (nämlich von mir)« (15), um später zu präzisieren: »[G]erufen aber habe ich euch, Paulus« (217). Dagegen spricht nicht nur 1,15, wo ausdrücklich Gott als der Berufende genannt wird, sondern auch die passivische Formulierung in 4,9b. In 5,8 ist ebenfalls von Gott als Subjekt des καλεῖν auszugehen, was B. im Übrigen konzediert (128 f.). Seine Begründung, das Tempus verbi (Präsens statt Aorist) lasse hier keine andere Möglichkeit zu (129, mit Anm. 77), erstaunt allerdings. Und zwar deshalb, weil er sie unmittelbar darauf vergessen zu haben scheint und den Aorist (!) ἐκλήθητε in 5,13 als ein passivum divinum versteht (133). Merkwürdig ist ferner die Wiedergabe von 3,5: »Habe ich (!) euch nun mit dem Geist versorgt und Machttaten unter euch vollbracht kraft eines (göttlichen) Werke-Gesetzes oder aufgrund einer Botschaft von Gottes Trauen?« (52, vgl. 56.226). Sie verkehrt das Gemeinte ins ungefähre Gegenteil. Die jeder soliden Grundlage entbehrende Referenz auf Paulus lässt sich auch nicht durch den Hinweis retten, schon »bei Gal 1,6 h[ä]tten wir gesehen, daß Paulus von sich spricht« (56). Wer immer das gesehen haben mag, es bleibt eine kühne Behauptung, die jedenfalls für 3,5 nichts austrägt. Ein klassischer Zirkelschluss! Angesichts dieser und zahlreicher anderer Versuche, den Texten einen neuen Sinn zu unterlegen, fällt es kaum noch ins Gewicht, dass aus den 15 Tagen in Jerusalem (1,18) plötzlich 14 werden (23 f.) und B. sich über den vom Apostel nirgends erwähnten Inhalt seiner Gespräche mit Petrus recht gut informiert zeigt (24).
Auch die Auslegung des Phil erweckt nicht selten den Eindruck, als würden die Texte in das Prokrustesbett der veränderten Gesamtsicht gezwängt und sollten ihr den materialen Unterbau liefern. Nur so lässt sich m. E. die paraphrasierende Übersetzung von 2,6 erklären: »Er (Christus Jesus), der (in seinem irdischen Leben) in Art und Form von Gottes Wesensgestalt war (also zugleich Gott war)« (292, vgl. 452). Kein Wunder, dass bei diesem Textverständnis der Gedanke »eigenartig« erscheint, »Ausgangspunkt des Denkens und Subjekt der Aussage von V 6« sei »der ›ewige, transzendente Sohn‹«. Durch die in Klammern gesetzten Erläuterungen wird deutlich gemacht, wer allein gemeint sein kann: »[D]er geschichtliche Jesus, jener, der bereits Mensch geworden war« (294). Folglich beschreiben nach B. die V. 6–8, »wie er sich als Mensch unter Menschen verhielt« (ebd.). Damit wird der im Hymnus aufgebaute Spannungsbogen von Präexistenz – Inkarnation und Kreuzestod – Erhöhung des Gekreuzigten verkannt, weshalb Anfang und Ziel des abgeschrittenen Weges theologisch unterbestimmt bleiben. Sollte es ein Zufall sein, dass B. sich hier wie anderswo aus dem Diskurs mit der aktuellen Forschung weitgehend verabschiedet hat, sie allenfalls partiell wahrzunehmen scheint? Von den zahlreich vorhandenen Kommentaren werden lediglich vier intensiver herangezogen, jeweils zwei zum Gal (F. Mußner, J. Rohde) und Phil (J. Gnilka, U. B. Müller). Über das Auswahlprinzip verlautet nichts. Man wüsste z. B. gerne, warum der epochale Gal-Kommentar von H. D. Betz kaum berücksichtigt wird. Die maßgeblich von ihm inspirierte und nach wie vor kontrovers geführte Debatte über Recht und Grenze des rhetorischen Interpretationsansatzes spielt im Darstellungskonzept denn auch keine Rolle. Überhaupt wird die Auseinandersetzung mit alternativen Positionen auf ein Minimum reduziert. Dafür finden sich im bibliographischen Anhang unter der Rubrik »Aus dem Frankfurter Pauluskreis« einige monographische Studien (479), die bis heute (Dezember 2010) weder im Druck erschienen noch sonstwie zugänglich sind, obwohl im Text mehrfach begründend auf sie verwiesen wird.
Der Titel des Bandes ist insofern Programm, als er das zentrale Anliegen des neuen Lektüremodells auf den theologischen Begriff bringt. Den Schlüssel zu seinem Verständnis liefert die Wiedergabe von πίστις mit »Trauen« statt »Glauben«. Für B. drückt »Trauen« die »personale Zuwendung Gottes« zu den Menschen aus. Er komme »ihnen mit Trauen entgegen, um ihr Trauen herauszulocken« (282). Da πίστις eine doppelte Bewegung in sich schließe und neben der »primär von Gott ausgesagt[en]« (57) Haltung des Trauens auch die ihr gemäße Antwort des Menschen zur Sprache bringe (42), sei der Terminus »umfassender, aktualisierter und personaler … als das eher sachhafte ›Glauben‹« (5). Im Gal sei πίστις von Beginn an das angezielte Stichwort (1,23; 2,16) und bleibe es bis 6,10. Im literarisch uneinheitlichen Phil erscheine das Lexem am Ende des ersten Hauptteils (1,25) von Brief A (1,1–3,1; 4,4–7.10–23) und rahme dann den zweiten (1,27; 2,18). Darüber hinaus begegne es in 3,9, der Kernaussage von Brief B (3,2–4,3; 4,8–9). Während der Gal dieses »Prinzip Trauen« (5.42.60.125.368 u. ö.) im Kampf gegen heidenchristliche (!) »Evangeliumsverdreher« (27.54.92) entwickele, markiere es im kanonischen Phil den Dissens zwischen Paulus und seinen innergemeindlichen Gegnern, die zwischen Brief A und Brief B ihren Widerstand gegen den Apostel verstärkt hätten (251.345). Auch bei ihnen handle es sich um Heidenchristen, nicht um Juden oder Judaisten (346). Beide Gruppierungen hätten gemeinsam, dass sie dem Kreuz ausweichen und die » Grundhaltung des ›Trauens‹ verlassen« (347) wollten. Doch insistierten sie nicht auf der Beschneidung, weil sie die Beziehung zu Gott von Gesetzeserfüllung abhängig machten, sondern weil sie das in der Tora grundgelegte Werke-Gesetz Gottes (ἔργα νόμου) als »Weg der Vergebung« (54) missdeutet und über das Trauen Gottes gestellt haben. Beide »Prinzipien« seien aber nicht einander entgegengesetzt. Vielmehr erblicke Paulus in ihnen »zwei Weisen des Handelns … (aus Gottes Gnade und aus Gottes Gesetz)« (361, vgl. 369), die für ihn »gut Hand in Hand« (71) arbeiten. Denn »wo das Gesetz Gottes seine Grenze hat, da kommt das Trauen Gottes zur Hilfe« (71 f.). Der Glaube tritt demnach nicht an die Stelle des Gesetzes, sondern füllt eben jene Lücke, die es aufgrund seiner soteriologischen Insuffizienz hinterlässt.
In diesem so definierten Zuordnungsverhältnis von Glaube bzw. Trauen und Gesetz erblickt B. das theologische Proprium der in beiden Briefen entfalteten Erlösungslehre. Bewusst vermeidet er es, von »Rechtfertigungslehre« zu sprechen. Der Begriff könne dem Missverständnis Vorschub leisten, als denke Paulus in juridischen Kategorien. Rechtfertigung, wie der Apostel sie verstehe, umfasse weit mehr als der geläufige Sprachgebrauch suggeriere: nämlich die »Gerechtmachung von Sündern«, d. h. Vergebung, und damit verbunden, »die Befähigung zu einem von nun an gerechten Handeln« (467). Vor diesem Hintergrund erschließe sich die Funktion und Bedeutung des erstmals im Gal begegnenden Ausdrucks ἔργα νόμου. Trotz seiner missbräuchlichen Inanspruchnahme durch die »Evangeliumsverdreher« in Galatien sei das »Werke-Gesetz« ebenso wenig wie die ihm sachlich entsprechende Formulierung μὴ ἔχων ἐμὴν δικαιοσύνην τὴν ἐκ νόμου in Phil 3,9 rein negativ zu bewerten, sondern benenne im paulinischen Sinne den Maßstab, an dem gemessen niemand Sündenvergebung erlangen könne (72, vgl. 55.57.366).
B. ist sicher darin Recht zu geben, dass die paulinischen Texte und gerade auch der Gal und Phil sich gegen eine juridische Engführung der Rechtfertigungslehre sperren. Ihm ist ebenfalls zuzustimmen, wenn er betont auf den inneren Zusammenhang von Rechtfertigung und Ethik verweist (vgl. nur Gal 5,6.22–25; Phil 2,12 f.). Doch zeigt sich spätestens hier, dass die konkordante Übersetzung von πίστις mit »Trauen« exegetisch nicht trägt und in die Irre führt. Mit ihr entledigt sich B. von vornherein der Aufgabe, nach den theologischen und anthropologischen Implikationen der kontrovers diskutierten Nominalphrase πίστις (̓Ιησοῦ) Χριστοῦ (Gen. obj. oder Gen. subj.?) und der ihr korrespondierenden präpositionalen Wendung ἐκ (διὰ) πίστεως (̓Ιησοῦ) Χριστοῦ zu fragen. Wo findet sich in einem der beiden Briefe auch nur von Ferne der Gedanke, Rechtfertigung geschehe »durch Gottes vertrauensvolle Zuwendung zu uns – wenn wir sie mit Trauen erwidern« (43, vgl. 467)? Der nachgeschobene Konditionalsatz steht nicht nur im Widerspruch zum klaren Wortlaut von Gal 2,16, auf den B. konkret Bezug nimmt, und zu dem in Phil 3,8 f. Gesagten, sondern behauptet auch, was Paulus gerade vehement verneint: die Notwendigkeit einer Kooperation von Gott und Mensch im Rechtfertigungsgeschehen. Leitend für ihn ist jeweils die Opposition »Gerechtigkeit aus dem Gesetz/aus Werken des Gesetzes« und Gerechtigkeit aus bzw. durch den Glauben an (Jesus) Christus«. In diesem christologisch fundierten und explizierten Verständnis von Rechtfertigung ist kein Platz für ein synergistisches »Trauen«, mit dem der Mensch »auf das Angebot Gottes … reagieren« (468) kann – oder auch nicht.
Paulus war umstritten und ist es bis heute geblieben. Er provoziert und polarisiert. Schon zu seinen Lebzeiten schieden sich an ihm die Geister. Offen gestanden ist mir aber unerfindlich, was B. alles aus den beiden Briefen herauszulesen oder besser noch: in sie hineinzulesen vermag.
Der Eindruck, den der Band hinterlässt, ist zwiespältig. Wer ein besonderes Interesse an philologischen Quisquilien, semantischen und grammatisch-syntaktischen Fragestellungen hat, wird auf seine Kosten kommen. Wem allerdings die entfaltete, wiederum als »neu« deklarierte Paulusperspektive aufgrund der sie bestimmenden Prämissen und des methodisch nie geklärten Textzugangs nicht einleuchtet, wird auch das ihr zugeschriebene Innovationspotential in Zweifel ziehen. Trotz oder gerade wegen seiner sehr speziellen Betrachtungsweise fordert der Band dazu auf, und darin bin ich mit B. völlig einig, dem paulinischen Denken immer wieder von Neuem nachzuspüren und seine Tiefendimension auszuloten – exegetisch, hermeneutisch, theologisch.