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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

392

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Mutius, Hans-Georg von

Titel/Untertitel:

Nichtmasoretische Bibelzitate im Midrasch Ha-Gadol (13./14. Jahrhundert).

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2010. XXI, 125 S. 8° = Judentum und Umwelt. Realms of Judaism, 80. Geb. EUR 32,80. ISBN 978-3-631-60826-5.

Rezensent:

Andreas Lehnardt

Die von dem Münchener Professor für Judaistik Hans-Georg von Mutius vorgelegte Studie über abweichende Bibelzitate im mittelalterlichen Midrasch ha-Gadol (MhG) ist ein bemerkenswerter Beitrag zur Textgeschichte der hebräischen Bibel. Dass der masoretische Bibeltext (MT) nicht so stabil und einheitlich war, wie dies für das Judentum gelegentlich angenommen wird, ist für die rabbinische Literatur bereits in der klassischen Studie von V. Aptowitzer, Das Schriftwort in der rabbinischen Literatur (1906–1915), aufgezeigt worden. Der Vf. möchte nun klären, ob, wie und gelegentlich auch warum der masoretische Text in diesem von David ben Am­ram im 13./14. Jh. im Jemen verfassten Midrasch verändert, ergänzt oder korrigiert wurde. Bemerkenswert sind zunächst nicht nur die Zahl der Abweichungen vom MT, sondern auch die offensichtlich an einigen Stellen erhaltenen »älteren«, d. h. möglicherweise auf Vorformen des MT zurückgehenden Lesarten. In MhG finden sich etwa Bibelverse mit umgekehrten Wortreihenfolgen und Satzteile, die völlig anders formuliert sind; seltener sind »Agrapha«, d. h. Zitate, die so in keiner bekannten Handschrift oder Version des Tanakh belegt sind. Als ursprünglichere Lesarten schwierig verifizieren lassen sich sekundäre Erweiterungen aufgrund benachbarter oder paralleler Verse und Veränderungen eines Bibelzitats unter dem Einfluss der »targumischen Tradition« (vgl. etwa 27). Insgesamt ist dem Vf. in seiner Analyse zuzustimmen, dass viele der diskutierten Varianten nicht einfach »als Nonsens zur Seite geschoben werden« (41) dürfen; einzelne Abweichungen vom textus receptus bleiben in ihrer Erklärung gleichwohl »rätselhaft« (96).
Schon Yosef Tobi, Midrasch ha-Gadol. The Sources and Structure, Jerusalem 1994 (hebr.), hat darauf aufmerksam gemacht, dass wichtige Handschriften in den Standardausgaben des MhG noch nicht berücksichtigt worden sind. An mancher Stelle kann der Vf. daher nur auf »eine Handschrift« (7) verweisen, was die Beurteilung einer lectio difficilior oder Abweichung unsicher macht. Nicht unproblematisch ist die Analyse einer in MhG verwendeten Quelle: 98, Anm. 344 wird auf Midrasch Tannaim zu Dtn 33,7 verwiesen, und zwar nach der Ausgabe von D. Hoffmann. Diese Edition beruht an dieser Stelle auf einer Rekonstruktion aus einer bekannten Berliner Handschrift des MhG (Steinschneider Nr. 148); die zitierte »Quelle« ist also selbst einer MhG-Handschrift entnommen.
Wie vom Vf. erläutert, konnte wegen schwieriger Arbeitsbedingungen nur die Hälfte des relevanten Materials bearbeitet werden. Nach dem Buch Jesaja bricht die Untersuchung ab; eine Fortsetzung ist nicht geplant. Die tatsächlich »brisante« Frage, ob es so etwas wie einen »Diaspora-Bibeltext« gegeben hat, sollte auf breiterer Basis (unter Einbezug möglicher antimuslimischer Textmanipulationen im MT; XXI) weiter diskutiert werden. Das wäre nicht nur für das Verständnis der rabbinischen Literatur, die offenbar noch lange durch einen »hochgradig flüssigen Zu­stand des hebräischen Bibeltextes« (40) gekennzeichnet war, sondern auch für das Verständnis des Werdens des MT insgesamt von Relevanz.