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Ausgabe:

Februar/1996

Spalte:

134–137

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Heimbach-Steins, M., A. Lienkamp u. J. Wiemeyer

Titel/Untertitel:

[Furger, Franz]: Brennpunkt Sozialethik. Theorien, Aufgaben, Methoden. Für Franz Furger.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1995. 485 S. gr.8o. geb. DM 58,­. ISBN 3-451-23634-6.

Rezensent:

Ernst Brüggemann

Das Buch ist eine Festgabe anläßlich der Vollendung des sechzigsten Lebensjahres von Franz Furger: Langjährige Mitarbeiter am Institut für Christliche Sozialwissenschaften in Münster haben es für den katholischen Moraltheologen und Sozialethiker verfaßt, der u.a. am Grundlagenpapier für ein gemeinsames Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage Deutschlands mitgewirkt hat. Aufsätze von 26 Autoren sind in zwei Themenkreise unterteilt: Christliche Sozialethik als theologische Wissenschaft mit ihren Theorien und Methoden; der zweite Teil ist den konkreten Aufgabenfeldern sozialethischer Forschung, den material-ethischen Herausforderungen, gewidmet.

In systematischer Folge hinterfragt Klaus Demmer zunächst im Spannungsfeld von Glaube und Vernunft "Offenbarung und Naturrecht" als Quellen sozialethischer Erkenntnis. Naturrechtliche Erwägungen setzen ein rechtes Verständnis praktischer Vernunft voraus und dazu gehört die Einsicht, daß die Geschichte des Geistes weitergeht. Die geistesgeschichtliche "Wende zum Subjekt" belebte sukzessive den Teilhabegedanken thomasischer Naturrechtsspekulation neu: "Menschliche Vernunft hat an Gottes schöpferischem Erkennen teil". Praktische Vernunft kann sittliche Wertvorstellungen entwerfen und zu handlungseigener Absicht führen. So sieht er anthropologisch eine "konstruktive Kompetenz der praktischen Vernunft", für die die Kunst kritischer Reflexion und Argumentation Voraussetzung bleibt. Damit ist der Weg zur Diskursethik zwar offen, es bleiben jedoch Fragen: Es darf in ihr zwar keine privilegierten Positionen geben, dennoch ist aber nolens volens ein bestimmtes Menschenbild unterstellt.

Trotz der Anerkenntnis des transitorischen Charakters sittlicher Vernunft bleibt ein Vernunftoptimismus über: Gibt es nicht den Pseudokonsens; ist der Bonus für die Mehrheit nicht zu selbstverständlich? Aber auch die katholische Naturrechtslehre ist sich gewisser Schwächen bewußt. Die Geschichtsunterworfenheit birgt für beide intellektuelles Risiko. Daher wird die Diskursethik als Gesprächspartner akzeptiert. Im Pluralismus der Meinungen ist für das Glaubensargument die Letztbegründungsfrage weiterhin offen. Demmer versucht, die verbleibende Diskussion um autonome Moral mit dem Hinweis auf eine "innovative Kompetenz der sittlichen Vernunft" auf Linie zu bringen, zumal die Katholische Soziallehre sich der Problematik der von ihr unterstellten allgemeinen Konsensfähigkeit naturrechtlicher Sätze bewußt ist. Den Ort auszufüllen, an dem die Vernunft zum Ende kommt, vermag nur der Glaube.

Vernunft verlangt Reflexionen über Quellen der Ethik. Nach Andreas Lienkamp lassen dabei sowohl kirchliche Lehre als auch die Sozialwissenschaften eine relative Autonomie der Kultursachbereiche gelten. Wenn dennoch neuerdings seitens des Papstes (Veritatis Splendor) das Evangelium betont wird, "das die ganze Wahrheit über... den sittlichen Weg enthüllt", so geschieht das nur hinsichtlich des primären Naturrechts. Aussagen über die Kontextbezogenheit ethischen Urteils beziehen sich aber sowohl auf konkrete Situationen als auch auf lokale Gegebenheiten in Ortskirchen. Im übrigen sollte eine gewisse Abstufung der Verbindlichkeit von Lehraussagen erkannt werden, die sich aus der Spezies der Verlautbarung ergibt.

Eine Pluralität der Subjekte christlicher Soziallehre erkennt Friedhelm Hengsbach. Die Sichtweise der Betroffenen soll Maßstab des Handelns der Kirche sein. Dem trägt die Regionalisierung sozialpolitischer Überlegungen Rechnung, wofür Konferenzen der südamerikanischen Bischöfe ebenso Beispiel sind wie Beratungen unter Einschluß der Laien zum Wirtschaftshirtenbrief US-amerikanischer Bischöfe. Ermutigend ist der ökumenisch ausgerichtete Konsultationsprozeß für ein gemeinsames Wort der Kirchen "Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland". Allerdings unterschätzt Hengsbach die Sachgesetzlichkeiten des Wirtschaftsablaufs und die darauf beruhenden Erfahrungen der Praxis.

Zu den theologischen Ansatzpunkten christlicher Sozialethik gehört die Person. Wenngleich die evangelische Ethik hierbei mehr den relationalen Ansatz pflegt und die katholische die geistig-ethische Potenz, so haben sich beide so befruchtet, daß nach dem Aufweis von Hartmut Kreß "Person" als normativer Leitbegriff christlicher Ethik gilt.

Sozialethik weist weiterhin bestimmte konfessionelle Profile auf, die, wie M. Heimbach-Steins betont, nicht als Rückfall in konfessionelles Denken aufgefaßt werden dürfen. Bisherige Methodik verliert an trennendem Einfluß. weil durch eine stärkere "Wende zum Subjekt" der erfahrungsbezogene Ansatz an Bedeutung gewinnt. Den argumentativen Stellenwert von Bibelzitaten hinterfragt Werner Wolbert. Angesichts unterschiedlicher Interpretationen gleicher Stellen kommt es auf die rechte Hermeneutik sittlicher Aussagen der Bibel an.

Horizonte ethischer Argumentation werden zunächst von H.-J. Höhn behandelt, der die Frage der Diskursethik als Paradigma der christlichen Sozialethik stellt. Die Diskursethik lebt von Voraussetzungen, die sie nicht zu garantieren vermag; für christliche Sozialethik stellt sich das Problem, ihren theologisch-methaphysischen Sinnhorizont zustimmungsfähiger zu machen. Anthropologisch argumentiert Höhn mit dem im Menschen tief verwurzelten Streben nach Verläßlichkeit, das gegen die Fakten der Welt steht, die keine Infallibilität kennt. Religiöse Rede erhebt jedoch kontrafaktischen Anspruch und hat die Möglichkeit, vom Noch-nicht-Wirklichen zu sprechen und den Menschen zu sagen, daß mehr "drin" ist.

Eine Abkehr von der Eurozentrik der kirchlichen Soziallehre verlangt Bénézet Bujo mit überzeugenden historischen und ethnologischen Beispielen aus Schwarzafrika. Eine Eigentumsethik kann nicht nur als rationales sekundäres Naturrecht des Einzelnen begründet werden: kommunitaristisches Sippen- und Familienleben erfordert beispielsweise Überlegungen, die im Kontext dieses ethnischen Erbes stehen.

Interdisziplinäre Konstellationen sozialethischer Forschung behandelt Walter Lesch wissenschaftstheoretisch. Die verlorene Einheit der Wissenschaft wird oft dadurch überbrückt, daß sich Sozialethiker nur auf Spezialgebiete einlassen, in denen sie zusätzliche Fachkompetenz besitzen. Rationalität und Universalisierbarkeit ethischen Argumentierens werden gekoppelt, wodurch ein Boom von Fachethiken entsteht. Theologische Ethik könnte eine Rückgewinnung der Interdisziplinarität fördern, wenn sie nicht in neoklerikale Bevormundungspraktiken zurückfällt. In diesem Sinne hat nach André Habisch Wirtschaftsethik keinen Gestaltungsanspruch, wohl aber hat die Sozialethik auf Koordinierung hinzuarbeiten und Ordnungsprobleme aufzuzeigen. Dabei erweist sich das spezifisch Ethische nicht darin, daß Seriösitätsstandards, der Eingebung des empfindenden Herzens folgend, systematisch unterboten werden. Umsicht ist bei Beispielen aus AT und NT geboten: Sie sind im kulturellen Kontext zu würdigen

Das Verhältnis von Psychologie und Sozialethik erläutert Peter Müssen. Spannungsfelder liegen sowohl im Individuellen als auch in der Differenz "individuell: sozial". Alberto Bondolfi verweist darauf, daß "Krankheit" bzw. "Gesundheit" in der Bibel oft ursächlich im Verhältnis zu individueller Schuld (Sünde) gesehen werden. Heute wird die damit verbundene Neigung zur gesellschaftlichen Ausgrenzung oft, z.B. bei AIDS, rational (seuchenhygienisch) problematisiert.

Die Kirche als Objekt und Subjekt sozialethischer Reflexion wird von Peter Hünermann dogmatisch abgehandelt; Herbert Schlögel befaßt sich mit Kirchen- und Gemeindestrukturen als kommunikativen Gebilden und deren sozialethischer Wertung im Hinblick auf den Menschen als Person. Zur Kompetenz der Kirche in sozialethischen Fragen verweist Arno Anzenbacher darauf, daß ethische Grundorientierungen heute als "offene Optionen" ausgesprochen werden. Sie sind wenig differenziert und geraten deshalb leicht in die Komplexitätsfalle. Gegenüber rein philosophischer Ethik ist die Aussagekraft christlicher Ethik stärker, weil einige an sich liberale Rechte nur auf dem kirchlich vermittelten christlichen Weg verteidigt werden können: Hierzu gehören z.B. das Recht auf Leben gegenüber Abtreibung sowie einige Fragen der Behandlung im Rahmen des medizinisch-technischen Fortschritts.

Teil II des Buches behandelt vier ausgewählte Aufgabenfelder sozialethischer Forschung. Karl-Wilhelm Merks untersucht Fragen zur Ethik politischer Entscheidungsprozesse. Private und öffentliche Moral fallen oft dann auseinander, wenn die Aufgabe des Staates nur teleologisch hinsichtlich seiner Ordnungsfunktion für friedliches Zusammenleben gesehen wird. Die politische Ethik weist daher eine geringere Tiefe auf. Dieses Defizit wird in der Praxis teilweise dadurch aufgehoben, daß in den modernen demokratischen Staaten a priori fundametale Prinzipien gelten: Gleichheit, Rechtssicherheit, Toleranz etc. Thomas Hoppe wertet, wie weit Menschenrechte als Basis eines Weltethos angesehen werden können. Eine große Kluft zwischen den menschenrechtlichen Normen und der Einrichtung geeigneter Instrumente erschwert ihre Umsetzung. Bei der Frage "gerechter Krieg" sieht Ernst Nagel nur semantische Unterschiede zur gerechten Gegengewalt als ultima ratio. Es gibt ethische Grenzen für Gegenreaktionen; sie sind z.B. bei Vergeltungsbombardements im 2. Weltkrieg überschritten worden.

Die Forderungen nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit behandelt am Beispiel des Nord-Süd-Gefälles Joachim Wiemeyer in klarer Analyse. Sowohl katholische als auch protestantische Gruppierungen hinterfragen die marktwirtschaftliche Ordnung, wobei erfahrungsgemäß neomarxistische Kräfte neben ihre Ablehnung keine realisierbaren Gegenvorschläge stellen. Weltweit wäre eine bessere Ausdifferenzierung von Problemen nach Regionen notwendig. Bedenken hinsichtlich der Verfahrensgerechtigkeit bestimmter Institutionen sollten durch systemkonforme pragmatische Lösungen ersetzt werden: Den ärmsten Ländern nützen keine Darlehen supranationaler Finanzinstitute, sondern nur zweckbestimmte Zuschüsse. Die Zusammenfassung von Armutsberichten durch Gerhard Kruip läßt wiederum die Notwendigkeit von Differenzierungen bei der Definition von Armut sowie den Orten ihres Vorkommens erkennen. In einem Forschungsbericht über deutschsprachige Beiträge zur Umweltverantwortung und christlicher Theologie zeigt Hans J. Münk, wie bibeltheologische Ansätze und theologische Reflexionen über die Schöpfung zu einer Ökologisierung der Ethik geführt haben. Bernhard Irrgang stellt Verantwortungsethik in der technischen Zivilisation vor; sachbedingte Folgenabschätzungen weisen die Grenzen der Theologen auf. Das Verhältnis Mensch und Technik sowie das von Mensch und Umwelt sind ­ wie Wilhelm Korff darlegt ­ nicht konkurrierend, sondern miteinander verbunden. Allerdings sind die "Experten" jeglicher Art noch weit auseinander, so daß die Akzeptanz von Restriktionen nicht durchgängig ist.

Dem Lebensschutz sind zwei Beiträge gewidmet. Nach einem geschichtlichen Überblick der Bioethik behandelt Antonio Autiero die aktuelle Spannung der Vernunftsüberlegungen: Qualität des Lebens zu Lasten seiner Dauer bzw. umgekehrt. Im übrigen plädiert er für einen Verhaltenskodex, der als offene Sache nach Authentizität der Berufsausübung gesehen wird.

Zum Thema verantwortete Elternschaft gibt Bernhard Fraling einen Überblick über Sichtweisen im II. Vaticanum und hinterfragt am Beispiel einer südamerikanischen Gemeinde die Voraussetzungen verantworteter Elternschaft und postuliert gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen.

Eine Gesamtbetrachtung des Werkes weist es als Kompendium der kontemporalen Probleme, Positionen und Forschungsmethoden christlicher Sozialethik aus. Es unterscheidet sich dadurch von vielen Festgaben, die nur Beiträge mit aktuellen Forschungsergebnissen bringen. Die Herausgeber haben die Themen so zusammengestellt, daß über die Katholische Soziallehre hinaus, wesentliche ökumenische Übergänge und Gemeinsamkeiten dargestellt und bearbeitet wurden.