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Ausgabe:

April/2011

Spalte:

384-385

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gutmann, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Gewaltunterbrechung. Warum Religion Gewalt nicht hervorbringt, sondern bindet. Ein Einspruch.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009. 188 S. 8°. Kart. EUR 22,95. ISBN 978-3-579-08112-0.

Rezensent:

Joachim Willems

Religion und Gewalt – das ist eines der Topthemen in den Massenmedien. Der Eindruck drängt sich auf, dass die vielbeschworene Wiederkehr der Religion vor allem eine Wiederkehr der gewaltförmigen Religion ist: islamistische Terroranschläge, religiös begründete Ehrenmorde, Kriegsparteien, die behaupten, »heilige Kriege« und »Kreuzzüge« zu führen. In diese Situation hinein spricht Hans-Martin Gutmann und erklärt, »warum Religion Gewalt nicht hervorbringt, sondern bindet« – so der Untertitel seines Buches über »Gewaltunterbrechung«.
Religion also nicht als Brandbeschleuniger, sondern als Löschmittel. Ist G. ein Gutmensch? Zumindest kein naiver, der die Augen verschließt und offensichtliche Missstände leugnet, die nicht in sein Weltbild passen. Im Gegenteil: G. schaut sehr genau hin, schärft durch theoretische Überlegungen seinen Blick, wählt un­terschiedlichste Einstellungen und Fokussierungen und verbindet seine Beobachtungen mit Theorien verschiedenster Herkunft.
G. geht davon aus, dass Gewalt eine Faszination besitzen kann, die Menschen mitreißt und zur ekstatischen Nachahmung treibt. Um Gewalt zu unterbrechen, reiche es nicht, allein an die Vernunft zu appellieren, vielmehr müsse die Faszination der Gewalt gebrochen werden durch die Faszination der Gabe, durch eine Verbundenheit, die sich der Exklusion und der Dämonisierung der Anderen entgegenstellt: »Religiöse Verbundenheit kann Handlungsrationalität abstützen; und in den entscheidenden Augenblicken der Alternative, ob ich mich der Macht der Gewalt hingebe oder auf Gewaltunterbrechung, Einführung, Wertschätzung, auf aimance setze, wird sie Handlungsrationalität sogar ersetzen. Die Alterna­tive legt sich zwanglos-zwingend nahe, weil im Glauben eine meinem eigenen und allem anderen Handeln vorauslaufende Gabe Gottes vorausgesetzt wird, die ich in meinem Handeln nicht provoziere, sondern auf die ich antworte – in der Haltung der Dankbarkeit, aber auch durch Imitation.« (53)
Zum Aufbau des Buches: In einem einleitenden Teil (9–28) entfaltet G. seine Fragestellung und skizziert seine folgende Argumentation.
Im ersten Hauptteil »Der Augenblick der Dankbarkeit« (29–117) spürt G. der Faszination von Gewalt nach, unter anderem am Beispiel des Falls der amerikanischen Soldatin Lynndie England, die wegen Folterungen im irakischen Gefängnis Abu Ghureib vor Ge­richt stand, aber auch am Beispiel von Stephen Kings Romanen. G. arbeitet heraus, wie sich in einem – mehr oder weniger lange vorbereiteten – Augenblick Gewalt entfaltet und ausbreitet. Deshalb müsse und könne Gewaltunterbrechung ebenso im »Augenblick« wirksam werden, in derselben Zeitstruktur, in der die Gewalt ihre Faszination entfaltet. Um dies zu begründen, klärt G., was »die Rede vom ›Augenblick‹ in einem lebensfreundlichen … Verständnis« meint (32).
Erhellend sind dazu die phänomenologisch orientierten Be­schreibungen und theologischen Einordnungen der Zeitverständnisse von alttestamentlicher Zeit und griechischer Antike bis in die Gegenwart. Diese Überlegungen münden in die Analyse der Wirkung des Augenblicks der Gabe:
Gelänge es, »Erfahrungen wie Selbstentgrenzung, Macht, Grandiosität und Freiheit, die durch Gewalthandeln gesucht werden, durch den Kontakt mit Widerfahrnissen und Erfahrungen von Fülle, dem überfließenden Ge­schenk, der nicht selbst besorgten, sondern geschenkten und zugesagten Lebensgewissheit« zu transformieren, so gebe es »im Augenblick der Gewaltkrise« eine Alterna­-tive zur Wahl der Gewalt. Denn: »Der Augenblick der Gabe« »steht in seiner Intensität dem Augenblick der Gewaltfaszination nicht nach« (54). Voraussetzung sei allerdings, dass entsprechende Haltungen und Verhaltensbereitschaften längerfristig aufgebaut würden. Um zu zeigen, wie dies gelingen kann, analysiert G., wie in biblischen Erzählungen Gewalt transformiert wird, wie in Ritualen Innen-Außen-Grenzen umgewertet und Raum-Erfahrungen von Enge auf Weite umgestellt werden können und wie christliche Ethik zur Unterbrechung zerstörerischer Gewaltreziprozität an­-leitet.
Im zweiten Hauptteil, der mit »Horizonte und Hintergründe« überschrieben ist (119–188), ordnet G. diese Überlegungen in ge­genwärtige Kontexte und wissenschaftliche Diskurse zum Thema »Religion und Gewalt« ein, die hier nicht im Einzelnen referiert werden können. G. zeigt, wie ältere Formen der Gewalt- und Gabenreziprozität und der Mimese in modernen Gesellschaften weiterhin wirksam sind und unter welchen Bedingungen im Falle von Gewaltkrisen zerstörerische in verbindende Reziprozität um­gewandelt werden kann.
Ein Ausblick auf geplante Forschungsprojekte (»best-practice-Unter­suchun­gen«) dazu, wie durch religiöse Verbundenheit Ge­walt unterbrochen werden kann, beschließt das Buch.
Die Stärke von »Gewaltunterbrechung« besteht nicht nur darin, ein höchst relevantes Thema umfassend analytisch zu durchdringen. Darüber hinaus zeigt das Buch exemplarisch, was Praktische Theologie heute leisten kann und muss – nämlich die Bearbeitung nicht nur binnenkirchlicher, sondern auch gesellschaftlich relevanter Fragen im Schnittfeld vielfältiger Perspektiven: biblisch-exegetisch, systematisch-theologisch, historisch, kultur- und sozialwissenschaftlich. Die praktisch-theologische Perspektive tritt dann nicht zu diesen Perspektiven hinzu, sondern ergibt sich aus der spezifischen Art, die Perspektiven miteinander ins Gespräch zu bringen und daraus ebenso Konsequenzen für die Theorieentwick­lung abzuleiten wie für kirchliche, gesellschaftliche und politische Praxis.