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Ausgabe:

März/2011

Spalte:

350-352

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Löffler, Roland

Titel/Untertitel:

Protestanten in Palästina. Religionspolitik, So­zialer Protestantismus und Mission in den deutschen evangelischen und anglikanischen Institutionen des Heiligen Landes 1917–1939.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2008. 526 S. gr.8° = Konfession und Gesellschaft, 37. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-17-019693-3.

Rezensent:

Martin Lückhoff

Roland Löfflers Marburger Promotionsschrift widmet sich einer in der deutschsprachigen kirchengeschichtlichen Forschung wenig beachteten Fragestellung: der nach der Wechselwirkung zwischen Anglikanern und deutschen Protestanten in Palästina sowie ihren Beziehungen zu den jeweiligen Heimatländern.
Die seit 1881 von der zionistischen Bewegung aktiv betriebene Einwanderungspolitik, der damit einhergehende jüdische Nationalismus, die »Kaiserreise« Wilhelm II. 1898 und vor allem der Niedergang des Osmanischen Reiches haben Palästina seit Mitte des 19. Jh.s zu einer Region verstärkter Einflussnahme der europäischen Mächte werden lassen. Mit der Balfour-Erklärung von 1917 verpflichtet sich Großbritannien zum Eintreten für die Schaffung einer nationalen Heimstatt in Palästina. Der vielbeachtete Einzug General Edmund Allenby’s in Jerusalem im Dezember 1917, die Übertragung des Mandatsgebiets durch den Völkerbund auf Großbritannien 1920 und die Errichtung eines Haschemitischen Emirats Transjordanien 1921 markieren die politischen Rahmenbedingungen einer Epoche, der sich L. mit seiner Arbeit zuwendet. Mit dieser Veränderung gehen starke wirtschaftliche Veränderungen sowie eine zunehmende Rechtsunsicherheit der einheimischen Bevölkerung einher. Während das angespannte Verhältnis von anglikanischen und deutschen evangelischen Institutionen nach Beendigung des 1. Weltkriegs und infolge der Machtergreifung 1933 zusätzlichen Belastungen ausgesetzt ist, führen in Palästina das Entstehen eines arabisch-palästinensischen Nationalismus seit den 1920er Jahren und die arabische Erhebung 1936–1939 zu erheblichen innenpolitischen Verwerfungen.
Dieser wirkungsgeschichtlich markanten Zeit wendet sich L. mit drei »Fallstudien« zu. Eine erste untersucht die religionspoli­-tische Mentalität deutscher und englischer Protestanten (122–244), eine zweite deutet die Entwicklung des Syrischen Waisenhauses als »sozialen Protestantismus« (244–348) und eine dritte wendet sich den nationalen und konfessionellen Identitätsprozessen in den lutherischen und anglikanischen Gemeinden arabischer Sprache zu. Eine umfangreiche Einführung zur Palästinaarbeit im 19. Jh. (36–121) sowie eine prägnant gehaltene »vorläufige Bilanz« rahmen die Ausführungen ein.
Die Entwicklung der deutschen Gemeinden während der Mandatszeit und ihre Einbettung in die auswärtige Kulturpolitik werden vor allem von der Weltkriegsniederlage und dem Wechsel der politischen Systeme bestimmt. Anders als die anglikanische Kirche stehen die deutschen Gemeinden unter dem Eindruck sich stets verändernder Rahmenbedingungen. Nachlassende Finanzflüsse aus Deutschland führen zu verstärkten ökonomischen Schwierigkeiten, die unverändert bestehenden Spannungen zwischen Temp­lern und Landeskirche sowie der (für den Zeitraum typische) Streit um die deutschsprachigen Schulen im Kontext nationalsozialis­tischer Politik verstärken die Unsicherheit der örtlich Verantwortlichen. Exemplarisch zeigt L. dies an den umstrittenen Aktivitäten Gustaf Dalmans auf, der aufgrund früherer Äußerungen bei ar­chäo­logischen Einrichtungen und kirchlichen Institutionen Anfang der 1920er Jahre keinen echten Neuanfang herbeiführen konnte. An ihm wie später auch an dem religiösen Sozialisten Heinz Kappes zeigen sich in ähnlicher Weise die Auswirkungen der politischen Veränderungen auf das Zusammenleben in einer zunehmend international geprägten Stadt wie Jerusalem oder auch dem Großraum Palästina. Häufig sind es Einzelpersonen, die durch geschick­tes Verhandeln mit Vereinen und Förderern in Europa oder Nordamerika die Geschicke der Einrichtungen maßgeblich bestimmen.
Stellte das in den 1860er Jahren von Johann Ludwig Schneller aufgebaute Syrische Waisenhaus eine herausragende Berufs- und Ausbildungsstätte im Vorderen Orient dar, so gerät dessen organisatorische Weiterentwicklung während der Mandatszeit ins Sto­-cken. Die vielfältigen ökonomischen Krisen, patriarchale Leitungsstrukturen und der Versuch, das Syrische Waisenhaus als Einrichtung der Inneren Mission im Ausland zu sehen, gefährden die pädagogische Einrichtung wiederholt. Dass sich L. wesentlich auf die Familie Schneller und die Jerusalem-Aktivitäten des Syrischen Waisenhauses konzentriert, ist Stärke und Schwäche zugleich. Exemplarisch werden religiöse Faktoren und frömmigkeitsgeschichtliche Beweggründe im Kontext ökonomischer und politischer Überlegungen verdeutlicht sowie Bezüge zum sozialen Protestantismus aufgezeigt.
So hilfreich und mutig es ist, Religionspolitik, sozialen Protestantismus und Mission in den deutschen Institutionen des Heiligen Landes (vgl. den Unter­titel) am Beispiel der Familie Schneller aufzuzeigen, wäre doch eine vergleichende Einbeziehung der ambitionierten Kaiserswerther Arbeit weiterführend und gelegentlich hilfreich gewesen. Die unterschiedlichen pädago­gischen Ansätze zu koedukativem Unterricht, die Bedeutung von religiöser Erziehung und Sprache als Kulturträger zeigen die Vielfalt deutscher evangelischer Palästinaarbeit auf.
Das machtpolitische Vakuum der Mandatszeit erlaubt den arabischsprachigen protestantischen Gemeinden zunehmend größere Eigenständigkeit. Die Bindekraft konfessioneller Ausprägungen ist gering, in Europa ansässige Trägervereine, allen voran der Berliner Jerusalemverein, reagieren konzeptlos auf diesen Prozess. Die un­klaren innen- und außenpolitischen Aktivitäten Deutschlands wie Englands verstärken die Verunsicherung. Auf deutscher Seite kommt zu der nachlassenden nationalen Bindekraft die begrenzte konfessionelle oder soziale Bindekraft des Luthertums hinzu. Auf anglikanischer Seite müssen sich die Judenmission und mit ihr die einflussreichen Missionsgesellschaften mit einem religionspo­-li­tischen Abstieg abfinden. So erscheint die Mandatszeit als Zeit des Übergangs, der Emanzipationsprozess arabischsprachig-luthe­rischer und anglikanischer Gemeinden eher als Resultat schwacher europäischer Kirchen denn als der Stärke lokaler Gemeinden.
L. ist eine bemerkenswerte Untersuchung gelungen, die sich durch viel Fleiß und den Mut, organisatorisches Scheitern zu benennen, auszeichnet. Sein Verdienst besteht darin, Archivstudien mit angelsächsischer Sekundärliteratur zu verbinden und diese für die deutschsprachige Forschung fruchtbar zu machen. Damit gelingt es L., eine komplexe Forschungslage zu bündeln und eigene Akzente zu setzen. Seine auch methodologische Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur bildet einen wichtigen Beitrag zur Erforschung Palästinas während der Mandatszeit.
Ein Nachteil der gewählten Schwerpunktsetzung besteht in der Vernachlässigung vergleichbarer Fragestellungen zur Mandatszeit durch die Fokussierung allein auf Protestanten und Anglikaner. Allenfalls am Rande finden die in Pa­läs­tina stark vertretenen orthodoxen und mit Rom unierten Kirchen Erwähnung, ebenso vermisst man Informationen über die aufgrund der Pogrome stark anwachsende armenische Kirche. Kaum etwas erfährt man über die auch kulturgeschichtlich prägenden Auswirkungen der revolutionären Entwick­lung Russlands auf Palästina. Hier bleibt L. hinter seinem Anspruch einer »transnationalen Christentumsgeschichte«, die »verschiedene Aspekte der christentums-, gesellschafts-, sozial- und mentalitätshistorischen Entwick­lungen während der Mandatszeit« (15) analysiert, zurück. Ähnlich knapp gehalten sind die Bezüge zur arabischen Nationalbewegung wie auch zur sich differenzierenden zionistischen Bewegung.
Doch wer sich für die christliche Geschichte Palästinas während der Mandatszeit interessiert oder mit der Entwicklung evangelischer Palästinaarbeit beschäftigt, wird in der gut gearbeiteten Studie viele Ansatzpunkte finden. Darüber hinaus führt die Arbeit zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, der Beitrag der Palästinamission sei »von einer bemerkenswerten Vitalität gekennzeichnet« (463). Doch büßten die großen Visionen »im historischen Prozess und vor allem in politisch schwierigen Zeiten« schnell an Wirkungskraft ein. So gesehen gibt die Studie auch instruktive Einblicke in das Scheitern unterschiedlicher Ansätze evangelischer und anglikanischer Palästinamission.