Recherche – Detailansicht
Ausgabe: | März/2011 |
Spalte: | 333-336 |
Kategorie: | Systematische Theologie: Dogmatik |
Autor/Hrsg.: | Krasberg, Ulrike, u. Godula Kosack [Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | »… und was ist mit der Seele?« Seelenvorstellungen im Kulturvergleich. |
Verlag: | Frankfurt a. M.: Lembeck 2009. 230 S. m. Abb. gr.8°. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-87476-595-4. |
Rezensent: | Christof Gestrich |
Die Herausgeberinnen Krasberg und Kosack forschen und lehren am Institut für Vergleichende Kulturwissenschaft/Völkerkunde der Philipps-Universität Marburg. Die ersten beiden Beiträge, die sich aufs Prinzipielle der Seelenfrage beziehen, stammen aus ihrer Feder. Außerdem sind sie noch mit je einer Abhandlung aus ihren völkerkundlichen Forschungsgebieten vertreten. Neun weitere solcher Feldforschungen (aus Griechenland, Georgien, Haiti, Südamerika, Kamerun, Burkina Faso, Madagaskar und Indien) gesellen sich hinzu. Alle berichten über Seelen- und Jenseitsvorstellungen in heutigen Kulturen und Völkerschaften, die noch einigermaßen ihren Traditionen verpflichtet blieben. Es gibt am Ende des Bandes ein Verzeichnis, in dem die zehn Autoren und Autorinnen kurz vorgestellt werden. Ein übergreifendes Namen-, Sach- und Begriffsregister ist nicht erstellt worden. Doch schließen die einzelnen Beiträge, denen manchmal Zeichnungen oder Photos und meistens Glossare beigefügt sind, je mit einem Literaturverzeichnis ab.
Wie schon der Titel verrät, hat der Sammelband ein gemeinsames Anliegen, das man ein philosophisches nennen kann: Alle Beiträge provozieren Nachdenken darüber, ob die von der naturwissenschaftlichen Denkweise dominierte ›Welt des Westens‹ sich nicht vorschnell abgewendet hat von dem überall auf der Erde noch vorhandenen, lebenskundigen Umgang mit der menschlichen Seele. Ein bewusst aus dem Rahmen der übrigen Aufsätze fallender Essay über psychische Nöte bei heutigen medizinischen Organtransplantationen und Todesvorstellungen (33–52), der von der Witten/Herdecker Medizinethnologin Vera Kalitzkus stammt, verweist auf bei uns unbewältigte Probleme, mit denen traditionelle Kulturen möglicherweise besser umgehen können. Dazu gehört, erstens, bei Empfängern eines fremden Organs das Gefühl, dass in ihnen nun auch noch eine andere Person lebe. Sind, weil Körper nicht einfach nur biochemisch arbeitende Maschinen sind, gespendete und transplantierte Organe möglicherweise dynamische Energie-Systeme mit gespeicherten systemischen Erinnerungen (44)? Traditionelle Kulturen wissen allerdings noch mehr über das Eindringen fremder Personen in die eigene Person (bis hin zu Vorstellungen von einer ›Wanderseele‹ oder einer ›Mehrfachseele‹) und über Strategien, wie damit umzugehen wäre, um zum Seelenfrieden zurückzufinden. Zu den noch unbewältigten Fragen gehört, zweitens, die nur teilweise möglich gewordene Akzeptanz der neuen westlichen medizinischen Feststellung des Todeszeitpunktes als des Momentes, an dem die Gehirnströme aufgehört haben zu fließen. Wenn der Körper des für die Organentnahme heranstehenden ›Toten‹ durch künstliche Beatmung usw. weiterhin ›am Leben‹ erhalten wird, entsteht immer der Eindruck, dieser Mensch sei noch nicht ganz tot. Traditionelle Kulturen nun gehen ohnehin von einem stufenweise erfolgenden Übergang in den Tod aus. Ein Beispiel dafür ist der von Ulrike Krasberg (53–68) und Gisela Reppel (169–194) auf der griechischen Insel Lesbos und in Madagaskar beobachtete Brauch einer Sekundärbestattung der exhumierten Knochen Verstorbener – »nachdem diese ganz von Fleischresten frei geworden sind«. In der dazwischenliegenden eigentlichen Trauerzeit werden vielerlei religiöse Rituale zur Ablösung der Hinterbliebenen von den Gestorbenen praktiziert.
Das Buch stellt Fragen dieser Art. Aber es kann sie – verständlicherweise – nicht beantworten. Auch meinen die Autoren selbstverständlich nicht, eine Beseitigung westlicher Defizite bei der Seelenkunde könnte direkt mit Hilfe einiger aus archaischen Kulturen (re-)importierter Brauchtümer geschehen.
Folglich gibt das Buch nur versteckte Hinweise auf tiefere Einsichten, die auch wir im ›Westen‹ nach der Meinung der Autorinnen wiedergewinnen oder nicht verlieren sollten. Einen solchen Wink gibt etwa Krasberg, nachdem sie zunächst berichtet hat über auf Lesbos noch praktizierte Klagegesänge und Totenrituale, die geradezu an homerische Zeiten erinnern. Krasberg schließt ihre Beobachtungen über solche Kontakte mit der »allmählich schwindenden Seele« (66) ab mit einer eigenen Schlussfolgerung: Offensichtlich bedarf dabei das Konzept ›Seele‹ der Inszenierung in der Gemeinschaft. Damit ist ausgesagt, dass ›Seele‹ des Menschen immer auch eine Verwobenheit der Identität der Gestorbenen mit der Identität jener Menschen bedeutet, die mit ihnen zusammengelebt haben und noch leben. Krasberg fragt vorsichtig: Ist die »westliche Wissenschaft« nicht »an einem Punkt angekommen«, an dem die naturwissenschaftliche Erforschung des Lebens zwar »immer weiter Erfolge verspricht, die Einbeziehung traditionellen Wissens über den Menschen aber nicht mehr kategorisch abgelehnt werden muss« (15)? Offen bleibt freilich, wie das geschehen könnte.
Welche hermeneutischen Schwierigkeiten sich an dieser Stelle auftun, zeigt Godula Kosack in ihrer Betrachtung von »Seelenkonzepte[n] in anderen Kulturen« (17–32). Schwierig sei es, überhaupt sicher zu sein, dass wir mit ›Seele‹ zu übersetzen haben, was andere Kulturen/Religionen meinen, wenn sie von jenem ›Etwas‹ im Menschen reden. Wir verfügen ja im Westen selber gar nicht über einen eigenen, einvernehmlich geklärten Seelenbegriff. Wie also ordnen wir es richtig ein, wenn traditionelle Kulturen von ›Kräften‹, ›Geistern‹ und ›Mächten‹ oder von ›Ahnen‹ sprechen, die angeblich auf uns wirken? Oft ist auch ihr Reden von diesen Dingen sehr verschwommen, und es ist auf jeden Fall vielgestaltig. Es reicht von Bildern für die vorhandene Lebenskraft bis zu Umschreibungen dessen, was wir als Person zu bezeichnen pflegen. Wie kann also in diesem Sammelband überhaupt sicher ausgesagt werden, man lege hier Beiträge zum Thema Seele vor? Wie kann, bei der großen Unterschiedlichkeit der Kulturen, überhaupt von etwas thematisch Gemeinsamem berichtet werden? (Vgl. zu diesen hermeneutischen Fragen auch Mark Münzel, 104 f.) Zum Glück sind diese Fragen durch entsprechende Vorgaben der Herausgeberinnen kanalisiert worden. Vereinbart wurde Folgendes: Wir sprechen immer nur da von ›Seele‹, wo Zusammenhänge mit Todes- und Jenseitsvorstellungen vorliegen. Daran haben sich die Beiträge gehalten. Es blieb den Autoren bewusst, dass es unmöglich sein dürfte, einen schlüssigen Seelenbegriff für alle Kulturen zu definieren. Gibt es doch oft schon in einer Kultur synkretistische, untereinander nicht synthetisierbare Seelen- und Todesvorstellungen.
Gemeinsam ist vielen Kulturen ein starkes Beeindrucktsein sowohl durch den Beginn wie auch durch das Ende eines – stets einmaligen – Menschenlebens. Diese Ereignisse brauchen Zeit, um verarbeitet zu werden. Sie beinhalten Grenzerfahrungen, die an die Existenz ›transzendenter‹ Bereiche denken lassen. Immer wieder ist die Rede von »40 Tagen«. So lange könnten verstorbene Menschen noch ihrem Körper und ihrer bisherigen Umgebung nahe bleiben. In Georgien beispielsweise muss auch eine Mutter, die ein Kind entbunden hat, sich mit diesem Kind »40 Tage« außerhalb der menschlichen Gemeinschaft aufhalten, bis sie in der normalen Welt wieder als rein zugelassen wird. Beim Kommen und Gehen eines Menschen ist demnach derselbe Weg zurückzulegen. Sichtbar wird außerdem: Der Mensch wird als eine Verbindung von Reinem (›Seele‹) und Unreinem (›Fleischlichem‹) verstanden (vgl. Nino Mindadze, 75 ff.). Er soll in seinem Leben das Reine pflegen.
Ganz besonders archaisch wirkende Konzeptionen wie z. B. die Bilder des seelischen Übertritts von Menschen in Tiere, Pflanzen, Götter usw. sind möglicherweise die philosophisch ›interessantesten‹ geblieben, weil sie eine Anthropologie repräsentieren, die den Menschen als ›verwandlungspflichtig‹ verstehen. Mark Münzel führten seine Begegnungen mit indianischen Seelenvorstellungen im Amazonasurwald (99–116) zu der verallgemeinernden Überzeugung: Wir haben das Schicksal, uns selbst gegenüber anders werden zu müssen. Der Mensch kann nur dann ethisch richtig leben, und er kann vor allem nur dann ›überleben‹, wenn er sich einfügt in die »allseitige Mutabilität« der Naturwesen und folglich, wie jene Indianer, mit mehren Seelen jongliert und mit mehreren Sprachen spricht von den Tier- bis zu den Göttersprachen (vgl. 113 u. ö.). Das ist mindestens ›weniger blass‹, als wenn der Westen von der psychischen Notwendigkeit überzeugt ist, Bewusstes und Unbewusstes bzw. Ich, Über-Ich und Es miteinander auszugleichen im Gang der menschlichen Biographie und Reifung.
Nicht überall konnte im vorliegenden Buch in dieser grundsätzlichen Weise von der eigentlichen Bedeutung, Kraft und Intention der Seele die Rede sein. Aber an Stellen wie der soeben genannten werden jedenfalls Anstöße gegeben, die weiter aufgegriffen werden könnten. Das führte dann auch zu der Einsicht: Es ist gerade dem Seelenleben eigen, dass wir daran gehindert werden sollen, nur eine Wirklichkeit für wahr, eine andere aber für unwahr zu halten. Auch sollen wir den Begriff der Ordnung nicht einfach durch Auswahl und durch systemische Fixierung des Ausgewählten inhaltlich füllen, vielmehr begreifen: Ordnung ist »zyklisch fortschreitender Wandel« (Hilde K. Link mit Beobachtungen aus Südindien, 195). So sehr jeder lebende Mensch ein einmaliges Individuum ist, lässt er sich – jedenfalls gemäß den östlichen Religionen – dennoch zugleich begreifen wie jenes ›Dazwischen‹, das zwischen Raupe und Schmetterling existiert. Aber auch hier, im Bereich der östlichen Religionen, über den im vorliegenden Buch auch Oliver Ohanecian berichtet (213–227), bleiben Fragen offen; zudem wird zwischen Buddhismus und Hinduismus auch Widersprüchliches über die Seele ausgesagt: Ist ein Mensch, wie er jetzt als Individuum da ist, wirklich das Produkt seines ›Karma‹, seiner früheren Taten; oder ist er das Produkt aller früheren Taten, ein Ausfluss des ›Weltkarma‹? Ließe sich diese Frage beantworten, dann gewönne man auch eindeutigere ethische Richtlinien.
Welches Wissen von der Seele ist in diesem völkerkundlich und philosophisch gleichermaßen anspruchsvollen Buch insgesamt ›pars pro toto‹ dargeboten worden? Wurde gemeinsam gesagt, dass der einzelne Mensch über seinen Tod hinausreicht, so wie er auch schon vor seine Geburt zurückreicht? Haben alle gezeigt, dass in jeder Menschenseele die ganze soziale oder unsoziale Gemeinschaft der Mit-geschöpfe mit anwesend ist? Kann man sagen, dass die meisten zu Reinkarnationsvorstellungen hin tendieren? Sind Reinheits- und Unreinheitsvorstellungen nahezu gemeinsam? In diese Richtung weisen die hier vorgelegten Beiträge in der Tat, und vor allem interpretieren die dargestellten traditionellen Seelenkonzepte allesamt Krankheit und Unglück als einen Kampf mit transzendenten Mächten. Etwas zu weit scheint mir allerdings Kosack zu gehen, wenn sie behauptet, im Westen sei seit den frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen etc. kein Wissen mehr darüber vorhanden, wie therapeutische Auseinandersetzungen mit solchen transzendenten Mächten erfolgreich bestanden werden könnten (29 f.). Angesichts der komplexen Gestalt dieser ganzen Thematik hätte ich mir eine noch weitergehende philosophisch-religionswissenschaftliche Bilanzierung der in diesem Buch zusammengetragenen Befunde gewünscht. Al-lerdings geht die – im Fehlen dieser Bilanz nochmals sichtbar werdende – Unsicherheit hinsichtlich der eigenen westlichen Tradition und Kultur nicht einfach zu Lasten der Autoren und Autorinnen dieses Buches. Die Defizite liegen bei der westlichen Philosophie und Theologie selbst. Deren Repräsentanten wären darum gut beraten, wenn sie sich kulturwissenschaftlichen Kenntnissen, wie sie hier zusammengetragen wurden, öffnen, und sich überhaupt des Seelebegriffs wieder stärker annehmen würden.