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Ausgabe:

März/2011

Spalte:

327-329

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Krüger, Hans-Peter

Titel/Untertitel:

Gehirn, Verhalten und Zeit. Philosophische Anthropologie als Forschungsrahmen.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2010. 181 S. gr.8° = Philosophische Anthropologie, 7. Geb. EUR 49,80. ISBN 978-3-05-004480-4.

Rezensent:

Rebekka A. Klein

Das Buch von Hans-Peter Krüger kann als eine Einführung in die Anthropologie H. Plessners im Spiegel der aktuellen bio-, neuro- und verhaltenswissenschaftlichen Forschungsdebatten gelesen werden. K. geht von der Prämisse aus, dass die Arbeit der Lebenswissenschaften von hermeneutischen Problemen durchdrungen ist, noch bevor sie zu funktionalen und kausalen Erklärungen gelangt. Daher kann die im Dialog mit den Erfahrungswissenschaften konzipierte Philosophische Anthropologie als Forschungsrahmen für deren Problemexpositionen fungieren: Sie erörtert die »praktischen Präsuppositionen« der empirischen Be­stimmungen des Menschen und verhindert, dass Letztere in begriffliche Konfusionen verwickelt, in Fehldeutungen überführt und ideologisch missbraucht werden.
Als Beispiel führt K. mereologische Fehlschlüsse an, in denen präzise empirische Erkenntnisse über den Menschen in ihrer Geltung auf das Wesen des Menschen im Ganzen übertragen werden. Sie lassen die Lebenswissenschaften hinter substantialistische und dualistische Theorien vom Menschen zurückfallen, die sie eigentlich überwinden wollen. Um dies zu verhindern, sind ihre Bestimmungen auf hermeneutische Kategorien menschlicher Selbstexplikation zurück zu beziehen.
Ausgehend von diesem Ansatz geht K. in drei Kapiteln den wichtigsten interdisziplinären Forschungsschüben nach, welche in den vergangenen beiden Jahrzehnten das öffentliche Bewusstsein beschäftigt haben. Das Kapitel zur Evolutionstheorie orientiert sich an der einflussreichen Auslegung der Theorie durch E. Mayr, die Evolution als kontingentes Zusammenspiel von Mutation und Selektion begreift. K. macht darauf aufmerksam, dass beide Grundbegriffe philosophisch reflektiert nur im »kategorischen Konjunktiv« (Plessner) zu gebrauchen sind: Die empirische Rede setzt a priori die biologische Möglichkeit der Selektivität und Angepasstheit des Lebens voraus. Deren Wirklichkeit ist also ausgehend von ihrer kontingenten Seinsmöglichkeit zu thematisieren, um Erklärungs- und Verstehensaufgaben im Hinblick auf die spezifische Lebensform des Menschen voneinander zu unterscheiden. Das Kapitel schließt mit einer kurzen Einführung in die Philosophische An­thropologie für Lebenswissenschaftler.
Kapitel zwei thematisiert die von der Neurowissenschaft ›entdeckte‹ Selbstreferentialität des Gehirns, die von dieser irrtümlich mit einer Beobachter- und Subjektfunktion gleichgesetzt wird (G. Roth, W. Singer). Letztere identifiziert K. als »hermeneutische Projektion«, die im Ausgang vom dualistischen Denkrahmen der neuzeitlichen Anthropologie in die Darstellung empirischer Hirnforschung eingetragen wird. Verantwortlich dafür sei die säkulare Transformation der christlichen Hermeneutik, die mit ihrer Entgegensetzung von »seelenhaftem Innen« und »seelenlosem Außen« den Grundstein für die Privilegierung der reflexiven Innerlichkeit gelegt habe. In einer überzeugenden Analyse der neurowissenschaftlichen Forschungspraktiken zeigt K. abschließend, dass die dem Dualismus von Innen und Außen entspringende Rede von der Beobachterfunktion des Gehirns durch philosophische Grenzbestimmungen wie die Mitweltkonzeption Plessners vermieden werden kann.
Kapitel drei bildet den heimlichen Zielpunkt der Studie, da in ihm das Forschungsprogramm von M. Tomasello vorgestellt wird, das K. ungeachtet seiner empirischen Widerlegbarkeit als theoretisch-methodisch sinnvolles Unternehmen im Sinne der Philosophischen Anthropologie würdigt. Tomasellos »quasitranszendentalen Naturalismus«, der biologische Anpassung nicht als Determination, sondern als Ermöglichungsbedingung ansieht, sowie seine These, die Fähigkeit des Menschen zu kollektiver Intentionalität habe einen ontogenetischen »Wagenhebereffekt« für die Evolution der kulturellen Kommunikation gehabt, bezieht K. geschickt auf wesentliche Unterscheidungen zum Zusammenhang zwischen Sozialität und Personalität in der Philosophischen Anthropologie, um erneut den Reflexionsspielraum deutlich zu machen, der sich mit der Differenz zwischen Erklärungs- und Verstehensmöglichkeiten auftut.
Abschließend lässt sich die Frage stellen, für wen dieses Buch geschrieben ist. Das Vorgehen K.s ist in allen Teilen problemorientiert, was die Lektüre für den kundigen Leser interessant macht. Die Ausführungen zeugen von guten Kenntnissen im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der Forschung in den Lebenswissenschaften. Der interdisziplinär Interessierte hätte sich allerdings mehr Be­richte über konkrete empirische Studien und weniger Einführung in Plessner wünschen können. Für empirische Forscher wird die Lektüre des Buches durch die etwas hermetische philoso­phische Fachterminologie im Stile Plessners sichtlich erschwert. Theo­logisch zu kurz gegriffen wirken die Rekonstruktion der kulturellen Ausgangslage der Hirnforschung und ihre Anbindung an eine vermeintlich uniforme christliche Hermeneutik. Es bleibt unklar, welche theologischen Autoren und Traditionen K. hier überhaupt im Sinn hat, wenn er so weitreichende ideengeschichtliche Ableitungen vornimmt.