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Ausgabe:

März/2011

Spalte:

320-322

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lasogga, Mareile

Titel/Untertitel:

Menschwerdung. Die Anthropologie Emanuel Hirschs als Theorie ethisch-religiöser Bildung von individueller Subjektivität in der Moderne.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Lang 2009. 474 S. 8° = Beiträge zur rationalen Theologie, 19. Kart. EUR 74,50. ISBN 978-3-631-57865-0.

Rezensent:

Matthias Heesch

Theologie unter den erkenntnistheoretischen Bedingungen der Moderne ist der Versuch, mit den Mitteln einer historisch-hermeneutischen Wissenschaft das christliche Wahrheitsbewusstsein zu reflektieren und aufgrund dessen allgemeinverständlich zu artikulieren. Ein Merkmal der erkenntnistheoretischen Moderne ist ihr Relativismus, erwachsen aus der Erfahrung grundlegenden Wandels. Unmittelbarer Gegenstand der zu besprechenden Arbeit ist die Anthropologie E. Hirschs, kontrastiv hierzu werden die thematisch entsprechenden Überlegungen W. Pannenbergs behandelt. Beide Ansätze sehen das Subjektsein des Menschen als wesentlich gebunden an soziale und geschichtliche Prozesse.
Das wirft theologische Fragen auf, die beide Autoren unterschiedlich beantworten: Hirsch sieht die Grundfrage entstehen im Schnittpunkt von lebensweltlicher Situation, in der man in gebundener Freiheit Anteil hat an der geschichtlichen Lebenswelt (102–128) und der theonomen Zielbestimmung des Menschen, die über alle geschichtliche Empirie hinausgeht, sich aber mittels handlungsleitender Aneignung dieser Empirie lebenspraktisch auswirkt (129–144). Hirsch verzichtet, anders als Pannenberg (s. u.), konsequent darauf, die Zielbestimmung des menschlichen Lebens im Sinne einer übernatürlichen Objektivität zu denken. Vielmehr verwirklicht sich die Theonomie des Menschen im Gewissen, dessen sachliche Gehalte er, obwohl es im strengsten Sinne je eigenes Gewissen ist, mit den Zeitgenossen teilt (135 f.). Dennoch besteht die Chance der Selbstunterscheidung von den Ansprüchen der immer stärker werdenden Heteronomien moderner Lebenswelten (140 f. u. ö.).
Im Gewissen bekundet sich nach Hirsch auch, dass menschliches Leben auf theonome Freiheit als verborgenen Grund und empirisch uneinholbare Vollendungsgestalt verweist. Diesem Grund kann es nur entsprechen bzw. die Vollendungsgestalt nur erstreben mittels kulturell gebundener innerweltlicher Selbstbestimmung, die aber hinter ihrem ermöglichenden Grund und ihrer Zielbestimmung immer zurückbleibt: Der Mensch ist sich also Aufgabe und zugleich ist ihm die Lösung dieser Aufgabe entzogen. Darin erweist sich eine tendenziell zerstörerische Widersprüchlichkeit der Existenz (220–226), deren Aufhebung nur im Glauben möglich ist (231 f. u. ö.).
Der Selbstbestimmung, gerade weil sie als geschichtlich gebundene und eben nicht als autonome Kreativität jenseits des Ge­schichtlichen gedacht ist, müssen nach Hirsch Orientierungsvorgaben zugrunde liegen (281 f. u. ö.). Diese Forderung ist besonders drängend in der Gegenwart, die Hirsch als traditionsgelöstes und deswegen von normativen Vorgaben entleertes Zeitalter der Massen deutet (278 f. u. ö.): Es herrscht hier ein formalisiertes und in seiner Leerheit destruktives Freiheitsverständnis (283), dem eine Staatsordnung entgegenzusetzen ist, die von einem klaren Gestaltungswillen her geprägt ist (284).
Bekanntlich hat Hirsch hieraus phasenweise die fatale Konsequenz gezogen, den Nationalsozialismus als Ausweg aus den Aporien eines normativ entleerten Lebens zu missdeuten. Die Wurzel dieses Irrtums war, dass ihm eine sachlich konkrete Gestalt innerweltlicher Selbstauslegung und -verortung des Menschen als Vorbedingung eines lebensdienlichen innerweltlichen Ethos erschien und dass er ein solches Ethos im Rahmen seines auf einen bestimmten Umgang mit der sozial-kulturellen Gegenwart zielenden Transzendenzverständnisses zugrunde legen musste (285 f.). Gleichzeitig wird deutlich, dass Hirschs Affinität zum Nationalsozialismus keine unausweichliche Konsequenz seines Denkens war: Denn seine Anthropologie beruht ja im Kern auf der Dialektik von immanenter Lebensbewährung und Entzogenheit von deren letztem Grund und Ziel. Letzteres bedeutet einen Überschuss über die empirische Vorfindlichkeit des Menschen und damit auch eine, von Hirsch freilich nicht genutzte, implizite gedankliche Reserve gegen die totale Vereinnahmung des Lebens durch den Weltanschauungsstaat (354–358).
Bildung ist für Hirsch die Vertiefung des innerweltlichen handlungsleitenden Wahrheitsbewusstseins durch die Gewissenserfahrung der Theonomie. Dies geschieht allerdings, ohne dieses Wahrheitsbewusstsein auf eigene innerweltliche Ziele zu lenken (356 f.). Die Tatsache, dass theonom begründetes handlungsleitendes Wahr­heitsbewusstsein immer innergeschichtliche Ziele hat, bringt Hirsch in Distanz zu allen mystischen Christentumsauffassungen (357). Die entscheidende gedankliche Leistung Hirschs besteht somit darin, Autonomie (im Sinne der spannungsreichen Gemengelage aus Selbstbehauptungswillen und Eingebundenheit in die geschichtliche Situation, jenseits derer es keine Selbstverwirklichung geben kann) und Theonomie, die auf die geschichtliche Lage und gerade darin über diese hinaus verweist, verbunden zu haben (358–362 u. ö.).
Der Anthropologie und Geschichtsdeutung Hirschs stellt die Arbeit in recht umfangreichen Darstellungen die entsprechenden Ausführungen W. Pannenbergs entgegen. Diese stimmen mit Hirschs Überlegungen zunächst darin überein, dass auch hier der Mensch wesentlich von seiner Gebundenheit an die geschichtlich-sozialen Gegebenheiten verstanden wird. Freilich wird dies bei Pannenberg letztlich auf die, dem Anspruch nach, intellektuell redliche Zustimmung zur kirchlichen Lehrverkündigung fokussiert, in der ein zwar eschatologisches, dennoch aber gegenwärtig handlungsleitendes Wahrheitsbewusstsein vorwegnehmend ob­jektiv-lebensweltlich gegeben sein soll (393–404). Diese Auffassung wird in der Arbeit relativ breit (380–453) wiedergegeben.
Der Gegensatz gegenüber Hirschs hochreflektierter Zuordnung und Kontrastierung von Subjektivität und Gesellschaft, von christlichem und allgemeinem Wahrheitsbewusstsein, wird zwar sehr deutlich, denn immerhin teilen beide Autoren den Ausgangspunkt bei der geschichtlich-sozialen Begründung menschlicher Existenz. Trotzdem würde auch ohne die breite Darstellung Pannenbergs klar, dass Hirsch die Auffassung vertritt, dass die Zurücknahme von Subjektivität, angesichts moderner Einsichten in ihre lebenswelt­liche Ermöglichung, nicht durch einfachen Appell an kirchliche Lehrautorität und deren Wahrheitsansprüche theologisch angemessen gedeutet werden kann, sondern aus der Struktur von Existenz und aus der geschichtlichen Situation der Gegenwart zu verstehen ist. Die Antizipation einer Vollendungsgestalt des Menschen und seiner Wirklichkeit auf die Autorität kirchlicher Lehrverkündigung hin überzeugt demgegenüber als Alternative nicht, weil sie das Grundphänomen geschichtsgebundener Autonomie negiert (452 f. u. ö.). Die Irritationen christlicher Existenz und Selbstverortung in der säkularen Moderne werden damit bestritten, nicht gedeutet.
Alles in allem handelt es sich um eine gelungene Arbeit über Hirsch als Theologen, dessen Wertschätzung bisher nicht seiner Bedeutung entspricht. Passagenweise sind die Ausführungen et­was ausführlicher als erforderlich. Den guten Eindruck, den eine präzise Interpretationsleistung zu einem der wichtigsten und in seinen Grundeinsichten bemerkenswertesten Denker des modernen Protestantismus hinterlässt, kann das aber nicht mindern.