Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2011

Spalte:

318-320

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Gruchy, John W. de, Plant, Stephen, u. Christiane Tietz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Dietrich Bonhoeffers Theologie heute. Ein Weg zwischen Fundamentalismus und Säkularismus? Dietrich Bonhoeffer’s Theology Today. A Way between Fundamentalism and Secularism?

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009. 422 S. m. Abb. gr.8°. Kart. EUR 49,95. ISBN 978-3-579-07138-1.

Rezensent:

Ralf K. Wüstenberg

Der hervorragend edierte Sammelband enthält einen Großteil der Beiträge des 10. Internationalen Bonhoeffer-Kongresses, der sich 2008 in Prag dem Beitrag Dietrich Bonhoeffers zur Überwindung von Fundamentalismus und Säkularismus widmete. Bonhoeffers Theologie liefere »hilfreiche Impulse« zur Überwindung beider Extreme, so die Ausgangsthese der Herausgeber: Seine Gedanken zur Mündigkeit der Welt »entlarven einen christlichen Fundamentalismus, der die Eigenständigkeit der Welt verneint«. »Gleichzeitig kritisieren Bonhoeffers Überlegungen die säkularistische These, dass der Eigenwert der Welt und die intellektuelle und ethische Autonomie des Menschen nur anhand der Abschaffung von Gott und Religion gesichert werden können.« (Vorwort, 11)
Dass es einer dezidiert hermeneutischen Leistung bedarf, um Bonhoeffers Theologie, die in sich facettenreich ist und eher als impulsgebend denn als regulär-dogmatisch beschrieben werden kann, in eine konstruktive Verbindung mit der hochkomplexen geistesgeschichtlichen Gemengelage zu bringen, deren Extreme durch die Sammelbegriffe Säkularismus und Fundamentalismus zu bezeichnen sind, bedarf nicht der Ausführung. Dieser Herausforderung hat man sich in mehreren Schritten gestellt:
Zunächst sind durch herausragende Beiträge zum Thema Fundamentalismus und Säkularismus die beiden Pole definiert worden, um die die Diskussion von Bonhoeffers Theologie kreist: Der amerikanische Theologe Martin E. Marty systematisiert mehrere Arten des Fundamentalismus und zeigt etwa im Hinblick auf das fundamentalistische Schriftprinzip, an welchen Punkten an­gelsächsische Fundamentalisten Bonhoeffer kritisieren (etwa: »He denied the verbal-plenary inspiration of Scripture.« 53). Der Budapester Soziologe Miklós Tomka erläutert den Begriff der Säkularisation entwicklungsgeschichtlich und analysiert die Säkularisierungsthese in mehreren Schritten. Das Ergebnis: »Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte hat eine pluralistische und heterogene Ordnung die nach Einheitlichkeit und Universalität strebende Ordnung des Altertums und des Mittelalters ersetzt. Menschliche Individualität und die Eigenständigkeit vieler Teilbereiche der Gesellschaft haben sich entfaltet. Die gesellschaftliche Einbettung der Religion hat sich verändert. Die Kirche, ehemals eine Säule einer zentralisierten Gesellschaftsordnung und einer politischen Organisation, hat viel von ihrer Macht und ihrem Einfluss eingebüßt.« (58)
Weiter ist es gelungen, durch einen großen Bogen, den zwei prominente Theologen spannen, dem Band zwei Haltepunkte zu ge­ben: Jürgen Moltmann (17 ff.) stellt einleitend fest, dass man Theologie »mit Bonhoeffer« machen muss (nicht über ihn hinaus oder nach ihm) – und setzt damit auch einen hermeneutischen Angelpunkt. John de Gruchy (403 ff.) zieht am Ende des Bandes ein Resümee: Die Herausforderungen des Säkularismus und des religiösen Fundamentalismus bieten gegenwärtige Anknüpfungspunkte für die Untersuchung von Bonhoeffers Vermächtnis und führen zu einer neuen Reflexion über Kirche als Mitte des gemeinschaftlichen Lebens intellektueller Diskussion.
Schließlich werden die übrigen 20 Beiträge in drei größere Themenblöcke gruppiert: Den Auftakt bildet eine Reihe von Beiträgen namhafter Bonhoeffer-Interpreten, die »Impulse aus Bonhoeffers Theologie« zur Überwindung von Fundamentalismus und Säkularismus aufnehmen (75–167). Diese Impulse werden an verschiedenen Aspekten der Theologie Bonhoeffers festgemacht, wie z. B. an seiner Christologie (G. B. Kelly), seiner Ethik (M. de Jong, A. Mosher) oder an seiner Eschatologie (Ph. Ziegler) bzw. seinem Geschichtsbegriff (H. Pfeifer). So ist das Wirklichkeitsverständnis Bonhoeffers ganz durch Jesus Christus bestimmt. Fundamentalismus und Sä­kularismus reißen auseinander, was nach Bonhoeffer in theologischer Wirklichkeit zusammengehört, nämlich in der Christusperson. Das hat auch Konsequenzen für den Geschichtsbegriff. Pfeifer hebt zu Recht hervor, dass »Bonhoeffers Insistieren darauf, dass Widersprüche in der vorletzten Wirklichkeit ihren Platz haben, sich bedingen und durch Christus zusammengehalten werden, einen entscheidenden Fortschritt gegenüber der un­fruchtbaren Konkurrenz zwischen Fundamentalismus und Säkularismus bedeutet.« (123)
Im zweiten Themenblock (171–226) wird Fundamentalismus und Säkularismus in Verbindung mit der je kontextspezifischen Bonhoeffer-Rezeption in den Ländern Polen, Brasilien und den USA diskutiert. Dabei untersuchen die Beiträge zu Brasilien (von Carlos Caldas) und zu den USA (von Stephen Haynes) die Rolle und das kritische Potential von Bonhoeffer im Hinblick auf den religiösen Fundamentalismus in der Färbung der brasilianischen Neupfingstler einerseits und der amerikanischen Evangelikalen andererseits. Die Fallstudie zu Polen (von Joel L. Burnell) arbeitet heraus, wie der polnische religiös-politische Fundamentalismus eine Antwort auf die schnell fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft seit 1989 gewesen ist.
Über die Hälfte der Beiträge beschäftigt sich im dritten Themenblock mit den »Konsequenzen für die Kirche« (229–399), die in zahlreichen Perspektiven (wie Religionspädagogik, Jugend, Armut) Bonhoeffers positive Sicht auf die Kirche mit seiner zum Teil dezidierten Religionskritik für die gegenwärtige Diskussion fruchtbar macht.
Aus der Vielzahl der Beiträge dieses dritten großen Themenblocks sollen zwei herausgegriffen werden. Unter dem Titel »Ekklesia: Herausgerufene in die Welt hinein« thematisiert Marie-Therès Igrec die Religionskritik Bonhoeffers als »Innerlichkeit« und verbindet sie mit Charakteristika des heutigen Fundamentalismus. »Bezeichnend für fundamentalistische Gruppierungen ist ihre formale Ich-Bezogenheit, die Konzentration auf ihre Innerlichkeit.« (284) Wo es aber kein »Außen« mehr gibt, so ihre Analyse spätmoderner Gesellschaften, da herrscht nach Bonhoeffer Wirklichkeitsverlust. Denn für seine Ekklesiologie entsteht Beziehungsfähigkeit erst durch Herauslösung aus der Selbstbezüglichkeit des Ich. »Eine herausgerufene Kirche kann nicht fundamentalistisch sein, da sie Christus als Fundament ihres Daseins nie habhaft werden kann.« (289) Die dänische Bonhoeffer-Forscherin Kirsten Busch-Nielsen stellt Bonhoeffers späte Religionskritik in den Diskussionszusammenhang der »Rück­kehr von Religion« und damit indirekt in den Zusammenhang der Überwindung der Säkularisierungsthese. Bonhoeffers doppelte Argumentationslinie in der Religionskritik, nämlich als theologische Religionskritik (in der Entgegensetzung von Glaube und Religion) und der historisch artikulierten These vom Eintreten einer religionslosen Zeit wird in Verbindung mit in der reformato­rischen Theologie begründeten Unterscheidung zwischen sichtbarer und un­sichtbarer Kirche gebracht.
Insgesamt liegen in diesem Band fundierte Beiträge zur Überwindung von Fundamentalismus und Säkularismus aus der Perspektive der Theologie Bonhoeffers vor. Die konsequent zweisprachige Edition, die englische Beiträge mit einer deutschen Zusammenfassung und deutsche Beiträge mit einer englischen summary versieht, erlaubt den Zugang für beide Sprachkreise. Freilich kann auch der best edierte Band der strukturell bestehenden Schwäche von Kongressdokumentationen nicht entgegenwirken, dass Beiträge – entstehungsgeschichtlich bedingt – nicht aufeinander Bezug nehmen und so ein einheitliches Ganzes nur begrenzt entstehen kann.