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Ausgabe:

März/2011

Spalte:

314-316

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kaufmann, Thomas

Titel/Untertitel:

Geschichte der Reformation.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Leipzig: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag 2009 (2. Aufl. 2010). 954 S. m. Abb. kl.8°. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-458-71024-0.

Rezensent:

Martin Brecht

Soeben hat Thomas Kaufmann eine Rezension vorgelegt von Die Reformation 1490–1700 (2008, englisch 2003) des Oxforder Kirchenhistorikers Diarmaid MacCulloch (ARG 101 [2010], 305–320), die dieses ansonsten hochgerühmte Werk mit bedenkenswerten Argumenten einer recht kritischen Durchmusterung unterzieht. Wie die Alternative aussehen kann, zeigt das hier vorliegende Buch. Selbst wer meint, die Materie bereits zu kennen, wird durch die souveräne Beherrschung des Stoffs, die Vielfalt der wahrgenommenen Aspekte und die Kenntnis der alten wie der aktuellen Diskurse zur Sache angetan sein. Der Göttinger Kirchenhistoriker erweist sich auch hier als einer der derzeit kraftvollsten, ausdrucks- wie urteilsstärksten und synthesefähigsten Vertreter seines Faches. Die Darbietung erfolgt gewöhnlich in gegliederten übersichtlichen Komplexen, die spannend abwechseln zwischen problemorientiert erörterten oder dann auch wieder gekonnt chronologisch erzählten Einzelthemen. Das Gewicht der Fragestellungen wie die Dramatik des Geschehens kommen so gleichermaßen zu ihrem Recht. Der Darstellung selbst ist auf den letzten 200 Seiten alles beigegeben, was es auch noch braucht: Ausreichende Anmerkungen, die Darbietung entlastende Biogramme, Glossar, Zeittafel, Abkürzungsverzeichnis, eine breite Auflistung von Quellen und Literatur sowie der Abbildungen (zumeist Graphik und Karten), Register von Personen, Orten und Sachen und schließlich das Inhaltsverzeichnis.
Die Einleitung thematisiert höchst sachgemäß Die Reformation und die Liebe zur Kirche, was dann im Epilog ausmündet in einen Blick auf die eingetretene Vielfalt des lateineuropäischen Christentums, mit der freilich die angestrebte Reformation der Kirche nicht erreicht worden ist. Schon die Abgrenzung der Epochen hat eine Fülle von Gesichtspunkten zu ordnen und tut dies umsichtig: Die Kontinuitäten zum Mittelalter werden anerkannt, aber ebenso dann die Diskontinuitäten aufgewiesen. Der Vf. widersteht der vorhandenen Tendenz, Luther zu vermittelalterlichen. Die Reformation gilt als eigene Epoche, ist aber doch eingebettet in die frühe Neuzeit. Die mit dem Augsburger Reichstag 1555 angesetzte Konfessionalisierung bildet dann eine neue Etappe. Die Reformation hat sich ausgeweitet zu einem europäischen Vorgang, aber sie besitzt doch ihre deutschen Eigentümlichkeiten.
Teil I behandelt die Voraussetzungen, hält sich aber bewusst, dass nicht alles ableitbar ist. Eingesetzt wird mit den involvierten gesellschaftlichen und politischen Vorgegebenheiten von der habsburgischen Dynastie bis zu den Territorien, Städten und Bauern samt den wirtschaftlichen Verhältnissen. Darauf werden Kirche, Frömmigkeit und Theologie in ihrer Pluriformität und ihren unterschiedlichen Zuständen vorgeführt. Unter den Frömmigkeitspraktiken begegnet schließlich auch der Ablass. Die Theologie stellt sich dar als Mischung aus Scholastik, Humanismus und Mystik. Kultur, Bildung und das eigens berücksichtigte Kommunikationswesen befinden sich in lebendiger Bewegung. Erasmus wird besonders gewürdigt, obwohl Luther nicht von ihm abhängt. Schließlich wird hier auf Luthers frühe Entwicklung eingegangen. Das alles besticht durch den besonnenen Umgang mit dem historischen Material.
Der große Teil II ist der Reformation im Reich gewidmet. Eingesetzt wird mit einem Überblick zu den Anfängen bis 1521. Stark hervorgehoben ist neben Luthers Prozess und seinen Verwicklungen Luthers literarische und publizistische Bedeutung. Beim Ablassstreit gilt mit gewichtigen Argumenten der Thesenanschlag nunmehr wieder als eher wahrscheinlich. Ob der Sinn der 1. Ablassthese ganz erfasst ist, kann man sich fragen, sonst wird gekonnt erzählt. Als wesentliche Informationsquelle für die Öffentlichkeit gilt der Sermon von Ablass und Gnade, aber die Resolutiones (1518) werden zur wichtigsten Schrift zum Ablass. Die von der Gegen­seite aufgebrachte Papstfrage und die damit verbundene Autoritätskrise lassen im Augsburger Verhör und der nachhaltig als Vorbild wirkenden Leipziger Disputation den Konflikt unausgleichbar werden. Der Fortgang wird anhand markanter Publikationen Luthers dokumentiert: Den Sakramentssermonen von 1519/20 (Laienkelch), der Freiheitsschrift als Befreiung von der Anklage der Kirche, der Adelsschrift als Luthers wichtigster Publikation im Kairos einer noch offenen Situation. De Captivitate stößt mit seiner Sakramentskritik dann bereits einen Teil der Humanisten ab. Der Auftritt in Worms wird recht sachlich geschildert, aber die folgenschwere Bedeutung des Wormser Edikts zutreffend herausgestellt. Die nunmehr einsetzende Auffächerung der Reformation mit ihren unterschiedlichen ideellen Motiven sollen teils auch exemplarisch beschriebene Flugschriftenpublikationen belegen.
Mit dem Eingehen auf die Aktions- und Inszenierungsformen in der frühen Reformation vom Fastenbrechen bis zum Gesang wird zwar Konkretisierung erreicht, aber das Epochale der Klosteraustritte bleibt dabei doch unterbelichtet. Die städtischen Reformationen der 20er Jahre finden im Rahmen der reichspolitischen Situation bis zum zweiten Speyrer Reichstag (1529) nunmehr ihre eigene Darstellung und Würdigung vor allem mit Wittenberg und Zürich samt den dortigen Disputationen als markanten, aber vielleicht zu wenigen Beispielen. Wo es angeht, wird hier und auch sonst stets zugleich auf Karlstadt hingewiesen. Parallel werden zunächst die Wandlungen in der Alltagswelt wie das Verhältnis zu den Juden oder der Beitrag bestimmter Frauen berücksichtigt. Dazu wird auf die Bedeutung kritischer Illustrationen aufmerksam gemacht. Konsequent schließen sich die ritterschaftliche, die bäuerliche und die Fürstenreformation an. Hier werden auch der Bauernkrieg samt Luthers Publizistik und nachher die Reformationen in Kursachsen und Hessen mit ihren Modell bildenden Ordnungen behandelt. Bei dieser Anordnung des Stoffes gerät somit manches fast zu eng aufeinander. Unter Theologische Klärungen und Entzweiungen ressortieren große Komplexe wie Der Abendmahlsstreit (bis zur Wittenberger Konkordie, 1536) und Die Tauffrage und das Täufertum (von Wittenberg bis Zürich). Angehängt ist eine Präsentation der Theologischen Hauptwerke Melanchthons (Loci) und Zwinglis (De vera et falsa religione). Auch Luthers De servo arbitrio ist hier (nur partiell einleuchtend) eingereiht. Vermissen kann man hingegen hier oder anderswo eine allgemeine Würdigung der Bibelübersetzung. Der Komplex mündet aus in die Bildung der Bekenntnisse (Confessio Augustana, Tetrapolitna, Zwinglis Fidei Ratio sowie die Confutatio der Gegenseite) und geht dann noch auf die Bündnisbildung aufgrund des für zulässig erklärten Widerstands ein.
Die als abschließender Teil III behandelte Unwiderruflichkeit der Reformation erfolgt (wie so oft) zügiger als bisher. Trotz befriste­- ter Friedensabkommen, einem expandierenden Schmalkaldischen Bund und den Religionsgesprächen kommt es zu dem gewaltsamen Lösungsversuch des Schmalkaldischen Kriegs. Zuvor ist je­doch bereits der Ausbau konsistorialer oder presbyterialer Kirchenverfassungen erfolgt, vor allem aber hat sich die Reformation in den Territorien in konfessionell unterschiedlichen Ausprägungen nochmals beträchtlich ausgeweitet. Diese Entwicklungen kommen angesichts der regionalen Bedeutsamkeit wohl zu kurz weg. Die gescheiterte chiliastische Reformation in Münster ist nicht vergessen. Die Abgrenzung von Judentum und Islam findet eine differenzierte Betrachtung. Eigens wird dem langen Weg zur katho­-lischen Reform nachgegangen über die Religionsgespräche, die Kölner Reformation bis zu dem dann unzeitig eröffneten Konzil. Nach der finalen Erhitzung des Krieges kommt es über dramatische politische Entwicklungen (Interim, Moritz von Sachsen, Magdeburger Belagerung samt dortiger Publizistik) schließlich doch zu dem kühlen Kompromiss des Augsburger Religionsfriedens, aus dem sich dann die vom Vf. so benannten Konfessionskulturen entwi­ckeln.
Nach meinem Eindruck ist hiermit alles in allem eine große neue Reformationsgeschichte vorgelegt worden, modern in den Fragestellungen, gewichtig als Zusammenfassung der neueren Forschung, gelegentlich auch herausfordernd in den eigenständigen Sichtweisen, zweifellos künftig eine unübergehbare Referenzinstanz.