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Ausgabe:

März/2011

Spalte:

297-299

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wengst, Klaus

Titel/Untertitel:

»Wie lange noch?« Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 300 S. gr.8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-17-021103-2.

Rezensent:

Heinz Giesen

Die Offb enthüllt, wem tatsächlich die Macht über Schöpfung und Geschichte zukommt. Damit die Gemeinden, an die sich Johannes richtet, die bedrängenden Widerfahrnisse in ihrem Alltag ertragen können, lässt er sie wissen, wie es hinter der Fassade der sich vordergründig so eindrucksvoll darstellenden römischen Macht aussieht. Die sich daraus ergebende andere Sicht auf die Wirklichkeit zeigt sich bereits zu Beginn des apokalyptischen Hauptteils (4,1–8). Die Zuordnung der 24 Ältesten zum Thron – nach Wengst, emeritierter Professor an der Universität Bochum, Repräsentanten Israels und der Völker – ist Sinnbild für die universale Herrschaft Gottes, und ihr Sitzen auf Thronen weist auf ihre Teilhabe an seiner Herrschaft hin. Träfe Letzteres zu, ließe sich nicht erklären, warum die Ältesten ihre Throne verlassen, um den auf dem Thron Sitzenden anzubeten.
Johannes verbindet seine Wahrnehmung der Wirklichkeit eng mit seiner Christologie. Als der Löwe aus dem Stamm Juda und als das geschlachtete (gekreuzigte) Lamm ist Christus gerade in seiner Ohnmacht der siegreiche Messias. Wie sehr Johannes die Perspektive der Opfer einnimmt, zeigt sich eindrücklich in 6,9–11, wo die Märtyrer unter dem Altar nicht nach Rache, sondern nach Wiederherstellung des Rechts schreien.
Vers 1,9 spricht m. E. nicht von einer Teilhabe an der gegenwärtigen Herrschaft Jesu, sondern von der Verbundenheit des Sehers mit seinen Adressaten in ihrer Bedrängnis, im königlichen Volk und in ihrer Ausdauer. Johannes tritt mit prophetischem Anspruch auf und kann deshalb unter seinem eigenen Namen schreiben. Gleich zu Beginn macht er klar, dass seine Botschaft keine Privatmeinung ist, sondern auf Gott zurückgeht (1,1). 1,19 lässt jedoch keineswegs »geradezu eine Gliederung erkennen« (so W. 48), sondern legt die Erzähltechnik offen, wonach der Vision jeweils eine Deutung und (eine) weitere Vision(en) folgen. Wie W. richtig be­tont, soll die Offb ihren Adressaten helfen, ihre schwierige Situation zu bestehen. Deshalb stellt sie die zeitlich begrenzte Macht des römischen Imperiums heraus und betont, dass die wirkliche Herrschaft Gott und seinem Gesalbten gehört.
Die Situation der Gemeinden in Kleinasien (2. Kapitel) wird entscheidend durch den Kaiserkult bestimmt. Wer sich ihm entzog, erschien leicht als illoyal. An der traditionellen Datierung der Offb unter Kaiser Domitian ist festzuhalten, unter dem es entgegen früherer Annahmen keine Christenverfolgung gab. Der achte Kaiser in Offb 17 wird zutreffend auf Domitian als den Nero redivivus gedeutet.
Der Einfluss des Kaiserkults ist besonders gut im Sendschreiben an Thyatira (2,18–29) erkennbar. Dort sucht eine »Prophetin« mit dem fiktiven Namen Isebel die Gemeinde dazu zu verführen, Un­zucht zu treiben und Götzenopferfleisch zu essen, also von Gott abzufallen. Ähnlich verhält es sich mit der Lehre des Bileam in Pergamon (2,12–17) und den Nikolaïten in Ephesus (2,1–6). Im Schreiben an die Gemeinde in Smyrna (2,8–11), an der Johannes nichts aussetzt, mahnt er angesichts drohender Todesstrafen zur Treue zu Jesus. Am schärfsten tadelt Johannes die Gemeinde zu Laodizea. W. vertritt hier zu Recht die Meinung, dass nur das »Lau-Sein« negativ zu werten ist, was er infolge seiner selektiven Literaturverwendung für eine neue Deutung hält.
Die Gemeinde erhält von Gott ihren Ort in der Wüste und ist dadurch anders als die übrigen ihrer Kinder (12,17), die Christen, gegen die Anschläge des Drachen gefeit (anders W.). Die dreieinhalb Zeiten versinnbildlichen nicht, als die Hälfte der Sieben, nur Bruchstückhaftes und Begrenztes (so W.), sonst wäre eine Variation mit 42 Monaten und 1260 Tagen nicht möglich. Sie kennzeichnen vielmehr die Zeit der Kirche auf dem Hintergrund der Unterdrückung der Juden unter Antiochus IV. (167–164 v. Chr. – Dan 7,25; 12,7) als notvolle Zeit.
»Treuer Zeuge« (1,5) ist nicht der irdische Jesus mit seinem gewaltsamen Tod, so W., sondern der erhöhte Herr, der nach 1,1 das in der Offb Niederzuschreibende von Gott empfängt, so dass es Johannes als Wort Gottes bezeugen kann (V. 2). Als der Menschensohngleiche ist er den sieben Leuchtern, die die Gemeinden versinnbildlichen, zugeordnet und folglich in ihnen gegenwärtig; das zweischneidige Schwert weist ihn als Richter aus. Als Löwe aus Juda und als ge­schlachtetes Lamm zugleich hat Jesus seinen Sieg paradoxerweise am Kreuz errungen (Offb 5). Seine Macht erweist sich in seiner Ohnmacht. Nach Offb 12,5 wird das messianische Kind von Gott vor dem Drachen gerettet, wobei W. vor allem an die Bedrohung des irdischen Jesus durch die römische Macht denkt.
Im 4. Kapitel spricht W. über die religiös überhöhte militärische und politische Macht Roms (vor allem Offb 13). Der Kaiser verdankt seine trügerische Macht dem Drachen. Obwohl auf die unwiderstehliche militärische Gewalt Roms verwiesen wird, bleibt Gott der Herr des Geschehens, wie ein vierfaches passivum divinum beweist. Wer sich der Macht Roms verweigert, wird aufgerufen, sich der Konsequenzen bewusst zu sein (13,10). 13,11–18 macht mit der Propaganda für den Kaiserkult vertraut, für die die kaiserliche Oberpriesterschaft verantwortlich ist.
Im Drachen sieht Johannes das ganz und gar Widergöttliche und Chaotische. Er ist bereits durch den Sturz infolge der Todes und der Auferweckung Jesu (12,5) besiegt (12,7–9). Das wird in 12,10–12 im Himmel kommentiert. Grundsätzlich haben dadurch auch die treuen Christen, nicht nur die Märtyrer, wie W. meint, schon gesiegt (V. 11).
Um Roms wirtschaftliche Prosperität und deren Ende (Offb 17 f.) geht es im 5. Kapitel. Rom wird als die große Hure Babylon unter der Perspektive des schon vollzogenen Gerichts gesehen (17,1–6). Im Tier, auf dem die Hure sitzt, ist nach W. die unwiderstehliche Gewalt Roms und in der Hure der wirtschaftliche Aspekt der römischen Herrschaft verkörpert. Die in großem Luxus lebende Frau gilt als die Mutter der Huren und der Gräuel der Erde (V. 5). Der Luxus Roms entfaltet zwar seine Dynamik, aber es steht bereits fest, dass Babylon fallen und verwüstet werden wird (18,1 f.; vgl. 14,8), weil alle Völker der Erde sich mit ihrem Wein berauscht haben, was den Zornwein Gottes, sein Gericht, zur Folge haben wird. Die Könige der Erde haben mit der Hure Babylon gehurt, d. h. als Vasallen mit ihr zusammengearbeitet. Nach 18,9–19 klagen alle über den Untergang Babylons, die durch ihn wirtschaftlich ruiniert wurden oder ihre Arbeit verloren haben.
Zu Beginn von Kapitel 6 (Gericht über Babylon) stellt W. fest, dass Johannes in seinen Visionen reale Erfahrung und reale Leiden aus einer bestimmten Wirklichkeitswahrnehmung mithilfe der Schrift verbindet, was ihn hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lässt. Er weiß darum, dass der Krieg schon da ist, und wartet daher auf die entscheidende Schlacht, wie die Vision von den vier apokalyptischen Reitern zeigt. Dass Johannes beim ersten Reiter an parthische Reiterheere denkt, die erfolgreich gegen die Römer ziehen werden, verkennt den metaphorischen Charakter des Reiters. Denn es geht Johannes bei allen vier Reitern darum zu zeigen, dass Gott und das Lamm gegen jeden Schein seine und der Christen Feinde besiegen werden. Richtig versteht W. das ewige Evangelium als eine Freudenbotschaft für die Christen, während es für deren Feinde eine Schreckensnachricht bedeutet (14,12).
Nach W. ist die Gemeinde vor allem nach Ausweis der beiden Visionseinleitungen in Offb 17,1–3a und 21,9.10a ein Gegenentwurf zu Rom (Kapitel 7). Bei genauem Zusehen ist in 21,9 f. – anders als in 22,7 – jedoch nicht von der irdischen Gemeinde, sondern von der Heilsgemeinde in ihrer himmlischen Vollendung die Rede. In ihr bedarf das Herrschen keiner Beherrschten. Ein Tempel ist dort nicht mehr notwendig, weil Gott und sein Lamm seinem Volk unmittelbar begegnen.
In das neue Jerusalem wird der paradiesische Anfang integriert. Die Gabe des Lebenswassers spielt in der Form eines Flusses auf den Paradiesesfluss an. Die Quelle ist nun nicht mehr wie bei Ez und Joël der Tempel, sondern der Thron Gottes und des Lammes. Da nun die Völker geheilt sind (22,2), gibt es kein Gericht mehr (V. 3).
Der häufige Gebrauch der Zahl zwölf und seiner Multiplizierung weist auf die Israelzentriertheit der Gemeinde hin. Die herrschaftsfreie Geschwisterlichkeit ist entgegen der Meinung W.s jedoch erst in ihrer Heilsvollendung verwirklicht, wie u. a. die Siegersprüche der Sendschreiben beweisen. Nach 20,6 nehmen nicht nur die Märtyrer an der 1000-jährigen Herrschaft mit Christus teil, wie W. meint. Den Auszug aus Babylon versteht W. dagegen zutreffend als Verweigerung gegenüber dem sich religiös überhöhenden System. Der Gottesdienst der Gemeinde artikuliert nach W. betend und singend Protest als Zeugnis und Widerspruch.
Insgesamt präsentiert W. eine erfreulich positive Sicht der Offb, wie sie sich in wissenschaftlichen Publikationen der letzten Jahre mehr und mehr durchgesetzt hat. Die im Einzelnen vorgetragenen kritischen Bemerkungen, die sich noch vermehren ließen, sollen nicht verdunkeln, dass W. ein lesenswertes Buch vorgelegt hat, mit dem sich eine Auseinandersetzung lohnt.