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Ausgabe:

März/2011

Spalte:

295-296

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mitchell, Margaret M.

Titel/Untertitel:

Paul, the Corinthians and the Birth of Christian Hermeneutics.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2010. XIV, 178 S. m. 1 Abb. gr.8°. Lw. £ 50,00. ISBN 978-0-521-19795-3.

Rezensent:

Eve-Marie Becker

Die Geschichte der christlichen Hermeneutik ist en vogue – und dies gilt trotz oder gerade wegen der in der Postmoderne vielfach be­schworenen antihermeneutischen Tendenzen. Bei der jüngsten Erarbeitung einer Geschichte der christlichen (Bibel-)Hermeneutik stehen einerseits wirkungs- und rezeptionsgeschichtliche Aspekte (s. »Encyclopedia of the Bible and Its Reception«, 2009 ff.) und andererseits theoretische und methodische Diskussionen, die sich dem breiten textwissenschaftlichen Diskurs neutestamentlicher Exegese mit den Geistes- und Kulturwissenschaften verdanken (s. »Lexikon der Bibelhermeneutik«, 2009), im Vordergrund.
Wenn die vorliegende Monographie, die aus einer Reihe von Vorlesungen – den sog. »Speaker’s Lectures in Biblical Studies«, die Margaret M. Mitchell 2008 an der Universität in Oxford gehalten hat – hervorgegangen ist, sich mit der Frage nach der »Geburt bzw. der Entstehung der christlichen Hermeneutik« beschäftigt, so ist damit auf eine weitere, vielfach gern übersehene Dimension der christlichen Hermeneutik verwiesen, die sich als ein genuin exegetisch-theologischer Ansatz verstehen ließe: M., Professor of New Testament and Early Christian Literature an der Divinity School der Universität Chicago, fragt in Anlehnung an A. Camerons Diktum vom Wesen des Christentums als articulation and interpretation (vgl. 5) nämlich nach dem paulinischen Beitrag zur Entstehung und Entwick­lung früh­-christlicher Hermeneutik als dem interpretierenden Ringen um das Verstehen und die Deutung von geschriebenen Texten. Denn speziell in der korinthischen Korrespondenz »we have a dynamic process of negotiated meaning between Paul and the Corinthians, through the series of letters interpreting and re-interpreting what is written, stated and visually presented« (106). Der Briefautor Paulus wird vor diesem Hintergrund durch seine briefliche Korrespondenz mit den Korinthern als erster Hermeneut, gleichsam als »Erfinder einer christlichen Verstehenslehre« greifbar – und zwar lange vor Origenes, Augustinus oder Gregor von Nyssa, den ersten großen Vertretern einer christlichen Bibelhermeneutik und Interpretationstheorie. »The story of Paul’s attempt to clarify the meaning of his letters to the Corinthians becomes… an inner-biblical process that fash­ioned a storehouse of hermeneutical principles from which his de­voted followers in years to come would justify their own interpretive feats.« (x)
Wie aber geht M. – im Unterschied zu anderen, in ihrer Zielsetzung ähnlich gearteten Arbeiten zu einer paulinischen (Brief-)Hermeneutik (vgl. z. B. 120 f.) – bei ihrer Skizze des Paulus als Hermeneuten methodisch vor? Sie sucht, wie in ihren früheren Beiträgen schon erprobt (s. Bibliographie S. 165f.), Paulus backwards and forwards zu lesen (ix), d. h., einerseits die Bedeutung der korinthischen Briefe für die Geschichte der christlichen Hermeneutik von ihrer patristischen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte her zu be­leuch­ten, andererseits aber auch die rhetorischen Mittel und Formen sowie die hermeneutischen Grundbegriffe offenzulegen, mit Hilfe derer Paulus in Korinth gleichsam im Sinne eines ›agonis­tischen Paradigmas der Interpretation‹ (ix) um seine Deutungshoheit kämpft und damit spätere patristisch-exegetische Überlegungen zur Hermeneutik vorbereitet oder gar vorwegnimmt: »In these letters [= 1 und 2Kor, E-MB] early exegetes found an articu­lation of key dynamics of interpretation – anthropological herme neutics of body, soul, spirit; pedagogical hermeneutics of imma­-turity/ma­turity; optical and rhetorical hermeneutics of clarity/ obscurity and whole and part; and abundant interpretive terminology that is both biblical and at least potentially philosophical, and … became part of an inner-biblical exegetical vocabulary (typoi…, gramma, pneuma, etc.)« (107).
Damit leistet die Monographie einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Geschichte und zu den Theorien und Methoden christlicher Hermeneutik, sondern auch zur Paulusforschung selbst. M. skizziert nämlich den rhetorischen und hermeneutischen Reichtum, mit dem Paulus sich auch als Interpret und Interpretationstheoretiker betätigt und dadurch gleichsam die christliche Ge­schichte der antiken Bibelhermeneutik initiiert.
Kontrovers zu diskutieren bleibt indes, wie M. die Situation und Hintergründe der korinthischen Korrespondenz (bes. 4 ff.), d. h. auch den paulinischen Versuch, seine früheren Schreiben nochmals zu erläutern, literarkritisch rekonstruiert (z. B. 81 oder 99 ff.), und inwieweit man bereits bei Paulus – nicht erst bei Augustinus – von einer ›Christianisierung‹ antiker rhetorischer, z. B. ciceronianischer Interpretationstheorien (z. B. 21 ff.), sprechen kann. So faszinierend, herausfordernd und – nicht zuletzt im Blick auf die gegenwärtige Paulusexegese – durchaus folgenreich (112 ff.) eine solche Paulusdeutung ist, so unterliegt sie doch der Gefahr, den sachlichen – nicht notwendig qualitativen! – Unterschied zwischen Paulus als dem Verfasser von fundierenden christlichen Texten und den späteren patristischen Bibelauslegern und Hermeneuten einzuebnen. Eine solche Tendenz ist auch dadurch gegeben, dass besonders im anglo-amerikanischen Raum eine die theologischen Disziplinen spezifizierende und konturierende Unterscheidung von neutstamentlicher Exegese und Patristik zugunsten des Konzepts von »early Christian Literature« aufgeweicht, wenn nicht programmatisch aufgehoben wird. Eine weitere kritische Anfrage betrifft die formale Gestaltung des Bandes – von der Unsitte, Endnoten am Schluss des Buches statt übersichtliche Fußnoten zu bieten, soll hier gar nicht die Rede sein. Unverständlich bleibt die ebenso im anglo-amerikanischen Buchwesen zunehmende Praxis, griechische Lexeme und Phrasen unter Verweis auf interessierte Laien oder Leser without skills in Greek (xiii) in Transkriptionen wiederzugeben. Existiert eine solche Lesergruppe, die zwar keine Griechischkenntnisse hat, sich aber eine derart anspruchsvolle Lektüre zumuten will, wirklich? Den Fachkollegen indes verwirren oder ermüden die Transkriptionen eher.
Trotz dieser formalen Ärgernisse, die zwar nur dem Verlag, nicht M. anzulasten sind und dennoch eine verlagspolitische Diskussion verdienen, liest man das Buch mit viel Gewinn und freut sich an seiner klaren, instruktiven und erfrischenden Sicht auf Paulus und die Anfänge der christlichen Hermeneutik.