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Ausgabe:

März/2011

Spalte:

294-295

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Magda, Ksenija

Titel/Untertitel:

Paul’s Territoriality and Mission Strategy. Searching for the Geographical Awareness Paradigm Behind Romans.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XI, 215 S. gr.° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 266. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-149990-6.

Rezensent:

Stefan Krauter

Die neutestamentliche Exegese profitiert immer wieder davon, dass sie sich Anregungen aus Theorien anderer wissenschaftlicher Disziplinen holt, etwa der Sprach- und Literaturwissenschaft, der Soziologie oder Psychologie. Ksenija Magda versucht in ihrem Buch, einer leicht überarbeiteten Londoner Dissertation von 2008, einen eher ungewöhnlichen Brückenschlag, nämlich zur Geographie. Sie bezieht sich auf die komplexen Theorien des amerikanischen Geographen Robert Sack. Mit ihrer Hilfe will sie eine Grundfrage der Paulusinterpretation klären, nämlich welchen »Ort« Paulus in der Antike hat: Ist er ein frommer Jude, dessen Weltbild von der Völkertafel in Gen 10 bestimmt wird? Oder ist er ein Römer, der seine Mission an römischen Provinzen ausrichtet? Weit über die Frage nach der Missionsstrategie hinter Röm 15 hinaus ist dies eine Schlüsselfrage für die Deutung der paulinischen Texte. Denn je nach Antwort wird man andere antike Texte als Vergleichspunkt heranziehen und so zu einem anderen Gesamtbild der paulinischen Theologie gelangen.
Sacks Theorie versucht, den Ort eines Selbst als Schnittpunkt von natürlichem Raum, sozialen Beziehungen und intellektueller Bedeutung zu verstehen. Insbesondere geht sie den Wechselbeziehungen zwischen diesen drei Kräften nach und berücksichtigt sowohl die dem Selbst von seinem Ort vorgegebene Perspektive als auch seine Fähigkeit, von seinem Ort zu abstrahieren.
Nach der Einordnung ihrer Fragestellung in die gegenwärtige Paulusforschung und der Darstellung von Sacks Theorie klärt M. zuerst die Frage, wo das Zentrum von Paulus’ Territorialität liegt, d. h. wo sein »Ort« ist. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass nicht Jerusalem das geographische Zentrum sei, sondern die »römische Welt«. Schon diese Alternative wirft einige Fragen auf – Ist »Jerusalem« versus »römische Welt« nicht schief? Wie kann die »römische Welt« ein Zentrum sein? –, noch mehr die Argumentationsweise M.s, die weithin ohne Rekurs auf antike Quellen auskommt. An­nahmen wie jene, dass der Hafen von Tarsus den jungen Paulus mit Fernweh und Reiselust erfüllt habe, sind eher befremdlich.
In einem nächsten Teil geht M. den gesamten Römerbrief anhand eines »geographical awareness paradigm« mit der Annahme, dass das römische Reich das Zentrum von Paulus’ Territorialität sei, durch. Die Tendenz dieses Abschnittes ist, etwas grob gesagt, gegenüber Interpretationen, die von der New Perspective herkommend Paulus stark im Rahmen des antiken Judentums verstehen, ältere Positionen wieder zur Geltung zu bringen, die – wenn überhaupt – jüdische Positionen bei Paulus nur in grundlegender Umdeutung bzw. Neudeutung sehen. »Jerusalem« sei für Paulus immer das »himmlische Jerusalem«. Vieles in diesem Ab­schnitt ist anregend und bedenkenswert. Dennoch bleiben auch hier einige Fragen offen. Das beginnt wiederum damit, dass beinahe ohne antike Quellen und auch auf einer sehr schmalen Basis moderner Forschungsliteratur argumentiert wird. Dass ein »geographical aware reading« eine Streitfrage der Paulusexegese löse, erscheint an einigen Stellen eher als Behauptung, denn als Ergebnis einer Textauslegung. Insgesamt fragt man sich, ob es nicht besser gewesen wäre, einige Passagen in der Tiefe auszulegen als den ganzen Brief oberflächlich durchzugehen.
In einem letzten Teil deutet M. die Struktur des Römerbriefes von Sacks drei Kräften Natur, Bedeutung und Beziehung her. Hinsichtlich Röm 3,21–11,36 (Bedeutung) und Röm 12,1–15,13 (soziale Beziehung) ist das sinnvoll und kann helfen, den Text zu erschließen. Mit »Natur« in Röm 1,18–3,20 scheint mir jedoch etwas grundlegend anderes gemeint zu sein als mit »Natur« bei Sack. Ist dort der physikalische Raum gemeint, der den Ort eines Selbst neben sozialen Beziehungen und Bedeutungen beeinflusst, so ist physis in den Ausführungen des Paulus zur Sünde und insbesondere zur Homosexualität ein sozial konstruierter Wertbegriff.
In einer knappen Zusammenfassung konturiert M. noch einmal ihre Ergebnisse im Gegenüber zu alternativen Deutungen, insbesondere zu J. Scotts »Paul and the Nations«.
M.s Brückenschlag zur Geographie ist vielversprechend. Die Theorie Robert Sacks verdient durchaus Aufmerksamkeit in der Exegese. Die Anwendung dieser Theorie auf die paulinischen Texte bei M. ist gewiss immer wieder anregend und lesenswert, insgesamt kann sie aber in dieser Form nicht überzeugen.