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Ausgabe:

März/2011

Spalte:

291-293

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lémonon, Jean-Pierre

Titel/Untertitel:

L’Épître aux Galates.

Verlag:

Paris: Cerf 2008. 232 S. gr.8° = Commentaire biblique: Nouveau Testament, 9. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-2-204-08649-3.

Rezensent:

Dieter Sänger

An Kommentaren zum Gal besteht derzeit kein Mangel. Allein in den vergangenen zehn Jahren sind rund ein Dutzend erschienen, weitere sind angekündigt oder in Vorbereitung. Mit seinem Kommentar setzt Jean-Pierre Lémonon, Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Université Catholique de Lyon, die Reihe der Neubearbeitungen fort. Neben thematisch einschlägigen Aufsätzen hat er bereits 2007 eine kurz gefasste Auslegung des Briefs unter dem Titel »Évangile aux Galates« veröffentlicht. Sie war vor allem für theologisch interessierte Laien und Mit­arbeiter im pastoralen Dienst gedacht. Der vorliegende Kom­mentar stellt freilich keine Doublette dar, sondern präsentiert sich als ein eigenständiger Entwurf. Einmal mehr gibt er zu erkennen, dass und warum der Gal unter den authentischen Paulinen zu den um­strittensten gehört und es bisweilen den Anschein hat, als bestehe lediglich hinsichtlich der paulinischen Verfasserschaft ein breiter Konsens.
Wie üblich werden zunächst die Einleitungsfragen behandelt (27–50). Entgegen neuerlichen Versuchen, den Gal zu dekomponieren oder zahlreiche Glossen und Interpolationen ausmachen zu können, hält L. an der literarischen Integrität fest. Die Empfängergemeinden lokalisiert er im provinzgalatischen Süden. Gegründet wurden sie im Verlauf der 1. Missionsreise, näherhin 41/42 n. Chr. Wenige Jahre später hielt Paulus sich abermals bei ihnen auf (Apg 15,41–16,6a), und zwar noch vor dem Jerusalemer Apostelkonvent, den L. um 51/52 n. Chr. datiert. Apg 15,1–29 und Gal 2,1–10 beziehen sich auf ein und dasselbe Ereignis (80.84). Auf der sog. 3. Missionsreise führte ihn der Weg erneut nach Galatien (Apg 18,23b). In Ephesus erreichte Paulus die Nachricht von der bedrohlichen Lage in den Gemeinden. Er reagiert mit dem Gal, der 55/56 n. Chr. entweder noch in Ephesus oder nicht lange, nachdem er die Stadt verlassen wieder hatte, geschrieben wurde (34).
Das aus Gal 1,13–2,14 und den Angaben der Apg erhobene chronologische Gerüst sieht dann so aus (33 f.77–80): 34/35: Berufung vor Damaskus; 37/38: 15-tägiger Aufenthalt in Jerusalem (Gal 1,18 f.); 41/42–45: 1. Missionsreise (Apg 13,4–14,26); 46–51: 2. Missionsreise (Apg 15,41–18,22); 51/52: Apostelkonvent; 52–57/58: 3. Missionsreise (Apg 18,23–20,1). Demnach fällt in den Gal 2,1 genannten Zeitraum von 14 Jahren nicht nur die gemeinsam mit Barnabas unternom­mene erste Reise, sondern auch die zweite. Für L. spricht die enger gefasste Gebietsangabe in Gal 1,21 nicht dagegen. Paulus verzichte hier bewusst auf Details und halte sich damit an die Empfehlungen der antiken Rhetoriker, eine Narratio klar, kurz und glaubwürdig zu gestalten (78). Jedoch bleibt er, von anderen Einwänden abgesehen, eine Antwort auf die Frage schuldig, warum a) Paulus die Partnerschaft mit Barnabas aufgekündigt hat und b) erst nach seiner Rückkehr aus Makedonien und Griechenland das auf dem Konvent verhandelte Problem virulent geworden sein soll, obwohl es spätestens nach der 1. Missionsreise zur Klärung anstand (vgl. Apg 15,1.5). Denn auch L. geht davon aus, dass die Gemeinden in ihrem Verlauf gegründet wurden. Trotz ihrer paganen Herkunft (Gal 5,2 f.; 6,12 f.15) wurden die Galater von Paulus weder gedrängt, sich beschneiden zu lassen noch auf das Einhalten der jüdischen Speise- und Reinheitsgebote verpflichtet (2,11–14).
Es erscheint wenig plausibel anzunehmen, die dadurch evozierte Frage nach dem ekklesiologischen Status der Heidenchristen hätte über Jahre hinweg brach gelegen. Oder soll man unterstellen, von alledem sei in Jerusalem nichts bekannt gewesen? Zumindest 2,4 f. spricht dagegen. Ferner müsste erklärt werden, warum Lukas die 2. Missionsreise auf den Apostelkonvent folgen lässt, wenn es sich genau umgekehrt verhält. Der Verweis auf G. Lüdemann, J. Murphy-O’Connor und S. Légasse ersetzt keine Begründung. Merkwürdig mutet auch die Feststellung an, heute sei »largement admis que l’on situe les deux premiers voyages missionnaires de Paul pendant ces quatorze ans« (79). Das ungefähre Gegenteil ist richtig. Überhaupt ist eine gewisse Inkonsequenz im Blick auf den Quellenwert der Apg zu verzeichnen. Während die von ihr gebotene Akoluthie der Ereignisse Apostelkonvent – 2. Missionsreise als unhistorisch beurteilt wird, gelten die geographischen Notizen in 16,6a und 18,23b als historisch zuverlässig und werden für zwei weitere Gemeindebesuche in Anspruch genommen. Dass die relative Zeitangabe τὸ πρότερον in Gal 4,11 doppeldeutig ist und keinen sicheren Rückschluss auf die Zahl der persönlichen Kontakte erlaubt, bleibt freilich unerwähnt und wird nicht weiter problematisiert.
Mit der Mehrheit der Ausleger identifiziert L. die Gegner – er spricht von »agitateurs« (34) – als toraobservante judenchristliche Missionare, die sich Christsein nur innerhalb der halachisch definierten Grenzen des Judentums vorstellen konnten. Aus ihrer Sicht war das Gesetz auch »pour les païens une porte d’entrée dans le peuple eschatologique« (37), was zugleich heißt, dass ihnen die paulinische Verkündigung defizitär erschien und durch die Beschneidung aufgebessert werden musste. Reserviert zeigt sich L. gegen­-über dem rhetorischen Analyseverfahren (39). Da sich der Gal in keines der antiken genera dicendi einfüge, sei Vorsicht angebracht, das heuristische Potential des rhetorischen Interpretationsansatzes zu überschätzen und die Segmentierung des Briefs von den Gliederungsprinzipien der schulrhetorischen Theoriemodelle be­stimmt sein zu lassen. Zur Erfassung seiner literarischen Struktur und gedanklichen Disposition müssten stärker inhaltliche Kriterien berücksichtigt werden.
Aufs Wesentliche konzentriert lässt sich als Ergebnis festhalten (45 f.67.111 f.169): An die »ouverture« 1,1–12, in der 1,6–12 als exordium fungiert und 1,10–12 die entscheidende These formuliert (propositio), auf der alles, was im Brief entfaltet wird, gründet (»la vérité de l’unique Évangile reçu et proclamé par Paul« [45]), schließt sich der erste Hauptteil an (1,13–2,21). Er holt die Eingangsthese narrativ ein und endet mit einer Zusammenfassung des paulinischen Evangeliums (2,16–21), das in V.16 verdichtet erscheint. Der zweite Hauptteil umfasst 3,1–5,1. Im Rückgriff auf die Schrift und mit Verweis auf Erfahrungs- und Evidenzargumente expliziert Paulus den theologischen Gehalt der propositio von 2,16, Rechtfertigung ge­schehe ohne »Werke des Gesetzes« allein durch den Glauben. Durch ihn und ihre Taufe auf Christus sind die Galater »Kinder Gottes«, Nachkommen Abrahams und Erben der ihm gegebenen Verheißungen (3,14.26–29). Sollten sie den Forderungen der Gegner nachgeben und sich beschneiden lassen, fallen sie hinter das Erreichte zurück und tauschen ihre Freiheit, die sie in Christus haben, gegen eine Sklavenexistenz (4,21–31; 5,1). Der paränetisch grundierte dritte Hauptteil (5,2–6,10) ist mit »La liberté, caractéristique de la vie des croyants« überschrieben. In ihm wehrt Paulus dem Missverständnis, die in Christus geschenkte Freiheit vom Gesetz führe in ein ethisches Vakuum. Vielmehr befähigt sie zu einem »Wandel im Geist« (5,16), der sich am Maßstab der Liebe orientiert (5,13 f.22 f., vgl. 5,6) und gerade so das »Gesetz Christi« zur Erfüllung bringt (6,2). Im Briefschluss (6,11–18) lenkt Paulus noch einmal auf den strittigen Kasus zurück und ruft bereits zuvor Gesagtes abermals in Erinnerung (»Rappell de convictions fondatrices« [195]). Den kontrovers diskutierten Ausdruck »Israel Gottes« (6,16) bezieht L. auf Judenchristen, die sich an die Richtschnur von 6,15 halten: In Christus gilt »weder ›Beschneidung‹ noch ›Vorhaut‹ etwas, sondern ›neue Schöpfung‹« (198.201).
Angesichts der relativ knapp gehaltenen Kommentierung – zieht man die vorgeschaltete »Bibliographie générale« (13–25), die diversen Register (Autoren, Sach- und Stellenregister) sowie die themenspezifischen Literaturangaben vor den einzelnen Abschnitten und acht Exkursen ab, bleiben für den Auslegungsteil ca. 138 Seiten übrig – kommt die Auseinandersetzung mit alternativen Positionen doch etwas zu kurz.
Zwei Beispiele, die sich unschwer vermehren ließen, mögen dies illustrieren. Bei der Interpretation des Syntagma ἔργα νόμου (2,16; 3,2.5.10) schließt sich L. der Auffassung von J. D. G. Dunn an, gemeint seien Bestimmungen, durch die sich Israel als das erwählte Gottesvolk von den übrigen Völkern abgrenze (»l’expression revêt une connotation de séparation entre Israël et les nations« [99, vgl. 116]). Das kann man natürlich tun. Aber ein wissenschaftlicher Kommentar sollte der komplexen Diskussionslage Rechnung tragen und auf andere Deutungsvorschläge zumindest eingehen. Offensichtlich fallen die von namhaften Exegeten vorgebrachten Gegenargumente nicht sonderlich ins Gewicht. In der Nominalverbindung πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ (2,16, vgl. 3,22) versteht L. den Genitiv als einen Gen. subj.: »La foi de Jésus Christ« (97.99 f.102). Die angeführte Wolke von Zeugen (100) macht es aber nicht überflüssig zu erklären, wie sich diese Lesart zu dem Folgesatz »und wir sind zum Glauben an Christus Jesus gekommen« (L. übersetzt »nous aussi avons cru en Christ Jésus«) verhält, der ja zunächst ein Verständnis als Gen. obj. nahelegt, wenn nicht gar erfordert.
Ein weiteres Manko sehe ich in dem weithin vermiedenen Gespräch mit der »New Perspective on Paul«. Auch wenn man den von ihren Vertretern angestrebten Paradigmenwechsel in der Paulusforschung skeptisch beurteilt, exegetisch wie hermeneutisch, hat die von ihr ausgelöste Debatte um das Pauli theologiae proprium Wirkung gezeigt und sich durchaus als fruchtbar erwiesen. Umso mehr ist zu bedauern, dass L. sich an diesem Punkt Abstinenz verordnet hat.
Dennoch, ungeachtet der Tatsache, dass er gelegentlich zu ge­nau zu wissen meint, »wie es denn gewesen« sei (L. v. Ranke), und nicht selten von Prämissen ausgeht, deren Plausibilität mit guten Gründen angezweifelt werden dürfen, verdient sein Kommentar Beachtung – und eine kritische Lektüre.