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Ausgabe:

März/2011

Spalte:

289-291

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Karrer, Martin

Titel/Untertitel:

Der Brief an die Hebräer. Kapitel 5,11–13,25.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008. 399 S. 8° = Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament, 20/2. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-579-00521-8.

Rezensent:

Claus-Peter März

Martin Karrer hat vier Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes den abschließenden zweiten Band seiner Kommentierung des Hebräerbriefes vorgelegt, in dem mit dem Abschnitt 5,11–13,25 der zentrale Mittelteil und der Schluss des Schreibens erschlossen werden. Einleitend wird darauf verwiesen, dass der Verfasser seinen Lesern einiges an Reflexionsbereitschaft abverlange, sie aber belohne »mit einer einzigartigen Durchdringung frühchristlicher Theologie. Er verfugt Worttheologie, kultische Christologie und liminales Denken ineinander und eröffnet so ein Bild des Christentums, das in Distanz zur Welt gleichwohl wichtige Impulse für die Gestaltung der Welt wagt.« (11) Zugleich räumt K. ein, dass diese »Dynamik des Hebr … der heutigen Zeit in vielem fern, gerade deshalb aber von eigenem Gewicht (ist)« (ebd.).
Der erste Band war den Einleitungsfragen nachgegangen, hatte die Leser mit der Erschließung von 1,1–5,10 bis ins »Vorfeld« der Hohepriester-Christologie des Hebräerbriefs geleitet und sie mit den speziellen Akzenten der von K. intendierten Auslegung vertraut gemacht. Der zweite Band führt nun schrittweise in die Ho­hepriestertypologie ein und setzt in diesem Interesse sehr bewusst mit 5,11–6,20 ein. K. apostrophiert dabei diesen Abschnitt als »Appell zur Aufmerksamkeit«. Er arbeitet heraus, dass der Verfasser mit diesem Einsatz nicht nur die Leser auf die weit ausgreifenden theologischen Entfaltungen des Hauptteils vorbereite, sondern sie zugleich »in das Ganze seiner Theologie hinein zu ziehen« (56) und so »hinter die Schwelle der Umkehr ins postliminale Stadium« zu geleiten sucht (57). Der Abschnitt 7,1–28 – für K. die »Klärung der Argumentationsbasis: Jesu Priestertum nach der Ordnung Melchisedeks gegenüber dem Priestertum nach Levi« (71) – kann sich, um die Unvergleichlichkeit Jesu als Hohepriester herauszuarbeiten, nur auf den »mythisch, hohen Melchisedek« (95) berufen (vgl. 7.3), was sein Priestertum dann tatsächlich als das einer eigenen Ordnung bestimmt.
Die Verse 8,1–13 werden vom Verfasser des Briefes als »Hauptpunkt dessen, was wir sagen« herausgestellt (8,1) und führen auf eine neue Ebene der Auslegung: Jesus wird dem Leser als wahrer Hohepriester vor Augen gestellt. Denn er leistet das, was kein an­derer Hohepriester und kein anderer Kult zuvor geleistet haben: wirkliche Entsühnung und Zugang zu Gott. Dabei gibt der Verfasser den Israelbezug nicht auf, sondern sieht den Hohepriester Jesus Christus von dem Wort getragen, das Gott an Israel gerichtet hat. Die »größte Herausforderung« dieser Aussagen liegt nach K. freilich »nicht in einer Israelkritik, sondern in der Zumutung an die Völker, höchste Humanität, Menschen- und Gotteserkenntnis beim Gott Israels zu suchen« (128). Diese Grundaussage führt 9,1–28 weiter, spitzt sie aber zu und zieht Jesu Heilshandeln im Hinblick auf den Bundesgedanken weiter aus. Damit entwirft er in der Sicht von K. »eine Summa christlicher Theologie überhaupt« (172). Die Passage 10,1–18 zieht aus den weit ausgreifenden Entfaltungen die Konsequenz: »Das Opfer Christi heiligt ein für allemal« (177–207); 10,19–31 schließt den Abschnitt ab mit dem Hinweis auf »die Größe und Verpflichtung des Bundes« (209–236). Das Christentum erscheint so nach Ansicht des Verfassers als eine Religion, deren Bedeutung gerade durch ihre himmlische Legitimation ausgewiesen wird. Der Verfasser wagt nach K. »als erster Autor, eine Konkurrenz der Gemeinde Jesu zu den antiken Religionen im Sinne dessen zu formulieren, was in der Antike Religion hieß« (235). Er stelle so eine der Grundlagen bereit, auf denen die christliche Religion sich in der antiken Welt durchsetzt.
Der Schluss des Schreibens – 10,32–13,21 – ist der ethischen Be­stimmung des neuen Lebens aus dem Glauben gewidmet. Die Gemeinde »tritt … in all ihren Lebensvollzügen zum himmlischen Heiligtum mit dem Hohenpriester Christus hinzu. Und mit der fortschreitenden Zeit gewinnt ein Moment der Konstanz … im Glauben an Rang.« (239)
In 13 Punkten bietet K. am Ende dieses 2. Bandes eine knappe, aber ausgesprochen hilfreiche Zusammenfassung der Erträge seiner Kommentierung, in der er die Faszination des im Hebr gebotenen Entwurfs ebenso markiert wie seine einseitigen Zuspitzungen. Sie sei hier wenigstens in den Hauptpunkten wie­dergegeben: 1. Mit dem Hebr haben wir eine Schrift vor uns, die gegen Ende des 1. Jh.s, möglicherweise in Rom, verfasst worden ist und sich an Leser wendet, die »in ihrer Mehrheit Christen aus den Völkern« (284) sind. 2. Das Schreiben ist das »Werk eines tief im Judentum verwurzelten Autors für Menschen, die mehrheitlich aus den Völkern stammen« (385). Er sucht für sie »nach einer Alternative in der Schrift, die nicht von der Zerstörung des Tempels belastet wird«, um auch Nichtjuden zum Gott Israels hinzuführen, und findet diese in der »(Priester-)Ordnung des Melchisedek«, die »sich im Christusgeschehen verwirklicht« (388). 3. Aus der Tradition Israels heraus entfaltet der Verfasser ein gewichtiges Verständnis des Wortes Gottes, das sich gerade auch in seiner spezifischen Benutzung der Schrift Geltung verschafft. 4. Entsprechend formt er sein Schreiben als »schriftliche Rede«, die mit allen Mitteln der damaligen Sprachkunst darauf ausgerichtet ist, den Lesern das Verständnis des Gotteswortes zu vermitteln. 5. Von der Sache her ist der theologische Entwurf des Verfassers von der »Überzeugung« bestimmt, »die Gemeinde habe eine grundlegende Schwelle von der vergänglichen Welt zu Gottes Raum und Handeln überschritten« (388). Sie gehe freilich nicht auf in dieser vom Vergehen gezeichneten Welt, sondern richte sich aus auf das neue von Gott kommende Leben. K. bestimmt dies als »liminale, genauer postliminale Theologie«. Dabei berührt den Verfasser nicht mehr die konkrete Gesellschaft, die vorgegebene Welt, und eigentlich auch »nicht mehr der Überschritt in den neuen Raum, sondern die Bewegung in diesem fesselt ihn« (ebd.). 6. Religionsgeschichtlich ist der Verfasser nicht durch einen spezifischen theologischen Hintergrund zu orten, denn er nimmt unterschiedliche theologische Denkmuster auf und formt aus ihnen seinen eigenen Entwurf. 7. Der Verfasser rezipiert ähnlich wie Philo von Alexandrien philosophische Gedanken seiner Zeit, namentlich mittelplatonische Anschauungen kommen seinem Denken entgegen. 8. Das entscheidende innovative Potential des Hebr liegt freilich nicht in der Rezeption philosophischer Gedanken, sondern in seiner kulttheologischen Ausrichtung. Unter typologischem Bezug auf die Kultvorgaben in Israel entfaltet er die besondere Bedeutung der christlichen Religion: »Das Christentum vermag neben den antiken Religionen, die einen Kult auf Erden vollziehen, zu bestehen; ja es führt über diese Religionen sogar hinaus, weil es keiner irdischen Opfer mehr bedarf (9,1–10,18). Mit dieser Pointe macht der Hebr das Christentum religionsgeschichtlich zukunftsfähig.« (391) 9. Von dieser Grundeinsicht her reflektiert der Verfasser auch und gerade »alle Aspekte der Christologie« (392).
Bemerkenswert ist dabei sein Bemühen, die Christologie in allen entscheidenden Orientierungen von der Schrift her zu entfalten. Zugleich markiert er eine »innere Bewegung der Christologie« (ebd.), insofern er nicht nur die Hoheit und Erhabenheit entfaltet, sondern im Hinblick auf das Leiden Christi gerade den soteriologischen Aspekt des Wirkens Jesu mit Nachdruck herausarbeitet und dem Kreuz eine ganz eigene Bedeutung verleiht. Es »wird … zum Symbol der Verachtung Jesu und damit der Wahrheit Gottes durch die vergängliche Welt … Die Kreuzestheologie korrespondiert zum liminalen Denken des Hebr« (393). 10. Entscheidende Bedeutung hat schließlich die Anthropologie, die entscheidend von der Position bestimmt ist, die Gott dem Menschen gegeben hat und die er auf ganz neue Weise an Christus entdeckt (Hebr 2,6–8). Der Mensch ist deshalb aufgerufen, auszuziehen »zu dem vollendeten Leben, das Gott in seiner Verheißung unverbrüchlich verspricht« (393). In dieser neuen Existenz soll der Mensch »bleiben«, »bis sich die Gegenwart Gottes bei der Parusie Jesu vollendet …« (393). Daraus folgt als Konsequenz ein entschiedenes Leben auf der Linie der sich aus dieser Gesamtsicht ergebenden Ethik, die der Verfasser noch dadurch verschärft, dass er eine »zweite Buße« ablehnt. Er erscheint so als Zeuge »einer rigoristischen Ethik, die eine ›zweite‹ Umkehr nach Schuld im christlichen Leben ausschließt (6,4–8; 10,26–29)« (394). 11. Dabei schränkt »eine Weltabkehr … das Leben nicht nur ein, sondern entlastet es auch von mancherlei innerweltlich-zeitlichen Beschränkungen« (395). 12. Diesen Hauptlinien zugeordnet sind viele Einzelakzente und spezielle Motive, die aber im Bannkreis des Gesamtentwurfs stehen und auch von daher gelesen und verstanden werden müssen. 13. »Die eigentliche Größe des Hebr beruht in der Geschlossenheit und inneren Stringenz seines Entwurfs.« (396) Das Schreiben ist offen nach vielen Seiten, aber doch konzentriert auf die zentrale Aussagen der Christologie, aus denen sich dann aber seine spezielle Anthropologie und sein Verständnis von Glauben, Hoffnung und Gemeinschaft in der Gemeinde ergibt.
Alles in allem hat K. eine beachtliche Kommentierung des Hebr vorgelegt, die sich durch weitreichende Rezeption der Forschung, eigenständige exegetische Erarbeitung des Textsinnes und intensive theologische Orientierung auszeichnet. Er bietet eine in sich geschlossene Auslegung, die neue Aspekte in die Diskussion einführt und den Hebr gerade von seiner theologischen Akzentuierung her durchaus auch als Gesprächspartner der heutigen Theologie empfiehlt (vgl. etwa die Hinweise, 395). Dabei macht er seinen Lesern die Lektüre angesichts der dichten und bisweilen ungewöhnlichen Sprachgebung, der Fülle der aufgegriffenen Vergleiche, der Komplexität der einander überlagernden Zugänge und der Öffnung hin auf übergreifende theologische Orientierungen nicht immer leicht. Man wird fragen können, wie hoch das Gewicht der »liminalen« Theologie, der K. große Bedeutung zumisst, letztlich zu bemessen ist. Auch andere Felder regen zur Diskussion an. Dies schmälert keineswegs die Bedeutung des Kommentars, der sich als anregender theologischer Begleiter auf den Wegen hin zum He­bräerbrief erweist.