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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

201–203

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Müller, Hans Martin

Titel/Untertitel:

Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1996. VII, 442 S. 8° = de Gruyter Lehrbuch. Kart. DM 58,-. ISBN 3-11-015074-3.

Rezensent:

Friedrich Winter

Wer den Unterschied in der homiletischen Problemlage zwischen Beginn und Ende unseres Jh.s kennenlernen will, greife am besten zur Homiletik von Paul Kleinert (1907), oder aber zur Homiletik im Lehrbuch für Praktische Theologie von Ernst Christian Achelis (1898, 2. Aufl.). Erstere ist vom Denken der zweiten Hälfte des vorigen Jh.s geprägt, letztere vom Historismus. H. M. Müller steht unter dem Einfluß der homiletischen Strömungen der letzten fünfzig Jahre und ist ungleich stärker als die genannten Lehrwerke mit systematisch-theologischen Reflexionen beschäftigt. Zugleich gewährt er der Geschichte der Homiletik einen breiten Raum und nähert sich damit wieder dem Werk von E. C. Achelis. Das vom Vf. nicht erwähnte "Handbuch der Predigt" (1990) hatte sich bereits in dieser Richtung bewegt und bringt historische Passagen.

Der Vf. bezeichnet sich selbst als konservativ (VI), weil er sich offenbar dem in der letzten Generation üblichen Vormarsch empirischer und rhetorischer Betrachtung nur begrenzt geöffnet hat. Die Homiletik hat eine eigenständige Redegestalt zu bearbeiten, die Gemeindepredigt im Gottesdienst und die Kasualien. Die Vielfalt von Gattungen und Typen der Verkündigung stellt er nicht vor. Und er konzentriert Darstellung und Auseinandersetzung "auf die evangelische Predigt im deutschen Sprachraum" (VI).

Das Werk ist ein ausgeführtes Lehrbuch, nicht nur ein Abriß oder eine kurze Einführung im Rahmen eines praktisch-theologischen Gesamtwerkes, geschweige ein Handbuch, an dem heute in der Regel mehrere Autoren zusammenwirken. Es soll "vor allem Studenten und angehenden Predigern eine Hilfestellung bieten... Vielleicht entdeckt aber auch der eine oder andere geübte Prediger, wieviel er von den Gedanken der Vorväter gelernt hat... und macht sich bewußt, was er positiv und negativ in seiner Predigtarbeit erfahren hat" (VI).

Die Gesamtgliederung spricht in ihrer klassischen Dreiteilung an: Historischer, systematischer und praktischer Teil. Der "Geschichtliche Teil" (I, 7-170) behandelt das "Nachdenken über Grund und Vollzug der Evangeliumsverkündigung" (7) vom Neuen Testament bis zur Gegenwart. Ein Vergleich gerade mit den historischen Erkenntnissen von E. C. Achelis bringt interessante Unterschiede zu Akzenten und veränderten Fragestellungen zutage.

Selbstverständlich beschränkt sich der Vf., so gut es geht, auf die Geschichte der Homiletik und zieht die Geschichte der Predigt nur heran, wo es nötig erscheint. Die Predittheorien des Mittelalters kommen kürzer zu Wort, ebenso die von Orthodoxie und Pietismus. Besonders umfangreich werden Luthers Hermeneutik und Predigtlehre ausgebreitet. Seit der Aufklärung wird die Darstellung allgemein breiter, zumal sich dann seit dem 19. Jh. homiletische Gesamtwerke in buntem Reigen ablösen. Für die erste Jahrhunderthälfte werden "moderne" und dialektisch-theologische Predigttheorien vorgeführt und von sogenannten "Seitenlinien" (Schreiner, Fendt, Haendler) in der Homiletik unterschieden. Abschließend kommen "Predigtprobleme der Gegenwart", von hermeneutischen Grundfragen (Bultmann u.a.) bis zur sog. "Adverb-Homiletik" (Otto, Möller, Hirschler), zu Wort. Es ist deutlich, "daß sich die Diskussion von den Wesensbestimmungen weg auf die ’Machbarkeit’ der Predigt hin bewegt" (169). Gerade in diesem historischen Teil fühlt man sich reich belehrt, hätte sich freilich unter dem Adressatenaspekt an manchen Stellen noch eine Straffung und knappere Durchdringung des Stoffes vorstellen können. Der Vf. hat auch mehr Stoff aufbereitet, als er in der Folge verwerten kann.

Der "Systematische Teil" (II, 171-312) bildet den homiletischen Reflexionskern und verdient darum besondere Aufmerksamkeit. Einleitend klärt der Vf. das Verhältnis von Homiletik und Dogmatik, jedoch nicht zur Ethik oder auch zu den übrigen theologischen Disziplinen oder gar säkularen Wissenschaften; ein indirekter Hinweis auf die nun folgende Nähe der Sicht zwischen beiden Disziplinen (171). Diese ist besonders in der "Prinzipiellen Homiletik" (177 f.) gegeben, wenn über Grund, Gehalt und Predigtbedingungen Auskunft erteilt wird. Die homiletische Prinzipienlehre greift "auf die Dogmatik zurück, näherhin auf die Lehre vom Wort Gottes und auf die Lehre von der Kirche" (184). Im Anschluß daran wird die lutherische Frage von Gesetz und Evangelium unter christologischem Aspekt homiletisch entfaltet. Ein evangelisch zentriertes Verständnis vom Wort Gottes, das im Gottesdienst ergeht, bildet die Grundlage. Sodann wird das sog. "homiletische Dreieck" zwischen Hörer, Prediger und Text im Grundsatz erörtert. Hilfreich ist, daß in diesem Abschnitt Thesen den Gedankengang jeweils zusammenfassen.

Das wird in der "Materialen Homiletik" (203 ff.) nicht fortgesetzt. In ihr werden viele Probleme zwischen text- und situationsgeleiteter Predigt angesprochen. Damit will der Vf. "Kunstregeln aufstellen, um zum konkreten Inhalt der Predigt vorzustoßen" (203). Viele wichtige Fragen zur Arbeit am Text werden behandelt. Die alttestamentliche Predigt wird freilich zurückhaltend nur in einem Exkurs angesprochen (222), während dann durchweg neutestamentliche Texte im Blick sind. Die Unterscheidung zwischen erzählenden und lehrenden Texten wird recht gedehnt zum Ordnungsprinzip erhoben; soweit, daß dann auch Texte der kirchlichen Lehre aus Bekenntnis und Dogma homiletisch bedacht werden. Unter dem Situationsaspekt kommen nach Grundsatzerwägungen besonders die Kasualien und Predigten aus aktuellem Anlaß zu Wort. Ob es günstig ist, eine materiale Homiletik zwischen Begriffen wie Text und Situation zu entfalten, bedarf eines weiteren Gesprächs.

In der "Formalen Ethik" (261 ff.) geht der Vf. mit Recht von einer Besinnung auf den Wert der Rhetorik aus, um dann die besondere Situation der Predigt als gottesdienstliche Rede näher zu durchleuchten. Wiederum wird das "Beziehungssystem der Predigt" (277) nach Sache, Hörer und Prediger unter formalen Gesichtspunkten erörtert. Nicht sehr ausführlich werden anschließend die "formalen Einzelaufgaben der Predigtarbeit" (293) zwischen Meditation, Invention, Gestaltung und Vortrag bedacht. Ließen sich diese Themen nicht auch im nächsten Teil besprechen, wo es doch um die Ausarbeitung von fertigen Predigten geht?

Im "Pragmatischen Teil" (III, 313-418) geht es um die Predigt im Kirchenjahr ebenso wie um Predigten zu typischen Anlässen (Erntedankfest, Jahreswechsel) und Kasualien, dann auch um Beispiele textgeleiteter Predigt. Hier werden wichtige und hilfreiche Anstöße zur Meditiation von Texten gegeben und ausgeführte Predigten und Ansprachen angeboten. Letzteres findet sich selten im Rahmen einer Homiletik.

Einige "Kirchenrechtliche Aspekte des Predigtdienstes" (419-428) beschließen das Werk. Juristische Hinweise zur Predigt kommen sonst in anderen praktisch-theologischen Zusammenhängen zu Wort. Das Namensregister bestätigt, daß M. Doerne, G. Ebeling, L. Fendt, P. Kleinert, F. Schleiermacher, besonders E. Hirsch und M. Luther, für die Quellenauswahl auch F. Wintzer, mit in das Gespräch einbezogen worden sind.

Der Wert dieser Homiletik liegt in der deutlichen Bevorzugung historischer und theologisch relevanter Überlegungen, ohne wichtige praktische Fragestellungen außer Acht zu lassen. Die Zurückhaltung gegenüber rhetorischen Spezialproblemen sowie die Beschränkung auf Sonntagspredigt und Kasualien wird nicht jedermann zusagen. Dennoch haben wir es mit einer soliden und ausführlichen Homiletik am Ende unseres Jahrhunderts zu tun, zu der man nicht nur heute greifen wird.