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Ausgabe:

März/2011

Spalte:

268-269

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ehrman, Bart D.

Titel/Untertitel:

The Lost Gospel of Judas Iscariot. A New Look at Betrayer and Betrayed.

Verlag:

Oxford-New York: Oxford University Press 2006. VIII, 198 S. 8°. Kart. US$ 22,00. ISBN 978-0-19-531460-1.

Rezensent:

Uwe-Karsten Plisch

Das hier zu besprechende Buch erschien 2006 kurz vor der editio princeps des sog. Codex Tchacos durch Kasser und Wurst. Daher war das Buch in gewisser Weise bereits kurz nach Erscheinen veraltet, wofür Ehrmann selbstverständlich nichts kann, abgesehen davon, dass er das Werk natürlich nicht hätte veröffentlichen müssen. Das Buch steht so in einer Reihe mit ähnlichen Publikationen renommierter Autorinnen und Autoren, die alle auf je eigene Weise von dem für religiös abgeklärte Mitteleuropäer nur schwer nachvollziehbaren nordamerikanischen Hype um das Judasevangelium zu profitieren suchten. Nach eigenem Bekunden ist E. zwar in der Lage, koptische Sachverhalte nachzuvollziehen, aber nicht, Beiträge zur Textkonstitution zu liefern; seine Untersuchung war im Wesentlichen auf die seinerzeit naturgemäß noch sehr vorläufige englische Übersetzung von Marvin Meyer angewiesen. Allerdings beschäftigt sich ohnehin nur ein relativ kleiner Teil des Buches im engeren Sinne mit dem Judasevangelium, ansonsten bietet das bei aller Kürze weitschwei­fige und redundante Werk allerlei neutestamentliches und patristisches Basiswissen zu frühem Christentum und Gnosis im Allgemeinen und zur Figur des Judas im Besonderen. Dies darzustellen dürfte E. umso leichter gefallen sein, als er bereits diverse einschlägige Bücher verfasst hat (die Werbung auf S. II nennt nicht weniger als 15 Monographien E.s). Freilich enthalten auch diese Passagen bisweilen sachliche Fehler und Lücken, die bei ihm doch erstaunen; zudem neigt E. um des Effektes willen häufig zu starken Kontrasten, Vergröberungen und Zuspitzungen, die der Sache nicht dienlich sind.
Das schon im Untertitel erscheinende Wortfeld betrayer/be­trayed etc. zieht sich leitmotivisch durch das ganze Buch (sicher mehr als 100 Vorkommen), obwohl E. an einer Stelle (16) selbst er­wähnt, dass παραδίδωμι gar nicht verraten, sondern ausliefern heißt – um des Effektes willen schreibt E. hier, gewiss unabsichtlich, ein antijudaistisches Klischee fort. Dass Paulus den Jünger Johannes nicht erwähnt, ist falsch (14, vgl. Gal 2,9). Da das Johannesevangelium die Taufe Jesu gar nicht berichtet, beginnt es auch nicht mit ihr (85). Dass das Thomasevangelium den Tod Jesu nicht erwähnt (»it never even mentions it«, 128), trifft so nicht zu; EvThom 55 spielt deutlicher noch als die neutestamentlichen Par­allelen auf Jesu Kreuzestod an. Die Aussage über den Verfasser des neutestamentlichen Judasbriefes: »whose author does not claim to be Jesus’ brother or any other known Jude« (145), mag man gar nicht kommentieren. Die Behauptung, »we have more fragmentary copies of the Gospel of Peter from the early centuries than of the Gospel of Mark« (178), hält einer kritischen Überprüfung nicht stand usw.
Das Buch beginnt mit der Schilderung der Erstbegegnung E.s mit dem Manuskript des Judasevangeliums (und heißt deshalb folgerichtig »My Introduction to the Gospel of Judas«). E. frönt hier einer Unsitte, die in der nordamerikanischen Wissenschaftsliteratur, wie es scheint, immer mehr um sich greift. Nicht, dass hier einer vermeintlichen »Objektivität« von Wissenschaft das Wort geredet werden soll – gerade weil das »Ich« des Autors stets präsent ist, ist es aber ganz und gar unnötig, es auf den ersten Seiten spazieren zu tragen. Das Verfahren findet seine Fortsetzung auf S. 68 mit dem Abschnitt » My Initial Disappointment«.
E.s grundsätzliches Verständnis des Judasevangeliums und seiner Judasgestalt findet sich gleich auf S. 2 und wird danach mehrfach wiederholt: »This lost Gospel … portrayed Judas Iscariot … as the one disciple who understood Jesus’ teaching and did his will« (vgl. auch 52.63.65: »his dearest friend«, 131). Mit einer gewissen Zielsicherheit greift E. zur Untermauerung seines Verständnisses vor allem auf Stellen zurück, die von Anfang an in der Forschung stark umstritten waren und deren Deutung durch E. sich heute in den allermeisten Fällen nicht aufrechterhalten lässt.
Das mysteriöse »Kind« (hrot) am Anfang des Evangeliums (p. 33,20) muss wohl nach der Auffassung von Wolf-Peter Funk so verstanden werden, dass die Stelle tatsächlich bedeutet: »nach Gutdünken erschien er in ihrer Mitte« o. ä. (vgl. 87; 107 f. erwägt E. die Deutung des koptischen Begriffs als »Phantom« und schließt auf Doketismus, um dann S. 130 auf das »Kind« zurückzukommen). Meyers Fehlübersetzung von p. 56,19 f. »the man that clothes me« (statt »the man who bears me«) ist für E. eine Schlüsselstelle (88 u. ö.). Nach der neueren Lesung von p. 46,25 f. sagt Jesus zu Judas, dass Judas nicht aufsteigen werde zum heiligen Geschlecht (gegenteilige Auffassung bei E., 93). In den zwei Buchstaben E-l in p. 51,1 (vor einer Lakune!), die am wahrscheinlichsten wohl zu E-lēlēth zu ergänzen sind, meint E. – sicher zu Unrecht – den hebräischen Gottesnamen El zu finden und baut auf diesen unsicheren Befund unhaltbare Theorien (94 f.111.119). P. 57,23 geht nicht Judas in die lichte Wolke, sondern Jesus (vgl. 96.98.137.139). Nach der Platzierung neuer Fragmente ist dieses Verständnis gesichert. Um der Welt zu entfliehen, ist der himmlische Christus sicher nicht auf Judas’ Handeln angewiesen. Judas erweist sich im Judasevangelium bei näherem Hinsehen vielmehr als höchst ambivalente Figur.
E.s Auswahl aus Kirchenväterstellen und außerkanonischen Passagen über Judas erscheint recht willkürlich: Origenes z. B. fehlt, wohl weil er Judas nicht dämonisiert, was nicht in E.s Konzept passt. Die Auflistung altkirchlicher Zeugnisse zum Judasevangelium ist – entgegen E.s Behauptung – unvollständig (Theodoret fehlt); das Referat über Irenäus (61) vermischt Irenäus mit Epiphanius, und jubelt ihm als Trägergruppe des EvJud die Kainiten unter (62), die Irenäus gar nicht erwähnt und deren Existenz zweifelhaft ist (wie E. wohl weiß, vgl. 183, Anm. 10).
Fazit: Für Menschen, die sich ernsthaft-wissenschaftlich für das Judasevangelium interessieren, ist das Buch uninteressant; für Menschen, die sich nur eben einen Überblick verschaffen wollen, enthält es zu wenig zur Sache und zu viele Fehler.