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Ausgabe:

März/2011

Spalte:

266-268

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wilcke, Claus [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das geistige Erfassen der Welt im Alten Orient. Sprache, Religion, Kultur und Gesellschaft. Nach Vorarbeiten v. J. Hazenbos u. A. Zgoll hrsg. v. C. Wilcke.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2007. 359 S. gr.8°. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-447-05518-5.

Rezensent:

Bernd Janowski

Bereits der Titel dieses ungewöhnlichen Buchs weckt Erwartungen, die in seinen – samt ausführlichem Vorwort des Herausgebers – 18 Beiträgen zur Sprache, Religion, Kultur und Gesellschaft des Alten Orients auch erfüllt werden. Neugierig macht der Titel vor allem deshalb, weil er doppeldeutig ist und sowohl das Erkenntnisinteresse der Kulturen des Alten Orients als auch das Darstellungsinteresse der heutigen Wissenschaft vom Alten Orient in den Blick nimmt. Anlass für die Zusammenstellung der Beiträge waren verschiedene, im November 2000 gefeierte altorientalistische Jubiläen in Leipzig wie der 150. Geburtstag von Friedrich Delitzsch, die 100-jährige Wiederkehr der Schaffung des assyriologischen Lehrstuhls im Jahr 1900 – des ersten Lehrstuhls für Assyriologie in Deutschland – oder die berühmte, 75 Jahre alte Antrittsvorlesung »Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt« (1925) von Benno Landsberger, dem genialen Schüler H. Zimmerns, der seinerseits ein Schüler F. Delitzschs, u. a. des Protagonisten des Bibel-Babel-Streits war (s. dazu R. G. Lehmann, Franz Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit, OBO 133, 1994, mit zahlreichen Dokumenten und Abbildungen). Man hatte sich in der Villa Tillmanns zu Leipzig zusammengefunden, um eine Standortbestimmung des Fachs Assyriologie zu unternehmen und gleichzeitig nach der Rolle der »Leipzig school« in ihr zu fragen.
Was dabei herausgekommen ist, ist auch für den Theologen und Alttestamentler aufschlussreich. Und zwar deshalb, weil der Band die Absicht verfolgt, das Selbstverständnis der Altorientalistik zu klären und die Nachbardisziplinen mit deren Hauptergebnissen und Zukunftsperspektiven bekannt zu machen. So etwas geschieht leider viel zu selten. Dabei sind die geistes- und kulturgeschichtlichen Leistungen des Alten Orients (und Ägyptens) für die Religions- und Sozialgeschichte des Abendlands in vielfacher Hinsicht fundamental. Angelsächsische, französische und italienische Ge­lehrte wie S. N. Kramer, A. L. Oppenheim, J. Bottéro, E. Cassin, M. Li­verani u. a. haben das in der Vergangenheit immer wieder eindrücklich gezeigt. Aber auch die deutsche bzw. deutschsprachige Altorientalistik hat auf diesem Feld Beachtliches vorzuweisen, wie der vorliegende, nach redaktionellen Vorarbeiten von J. Hazenbos und A. Zgoll von C. Wilcke zusammengestellte Band demonstriert.
Im Einzelnen handelt es sich um folgende Beiträge: 1. Zur Sprache: D. O. Edzard, Die altmesopotamischen lexikalischen Listen – verkannte Kunstwerke? (17–26); H.-W. Fischer-Elfert, Wort – Vers – Text. Bausteine einer altägyp­tischen Textologie (27–38); M. Krebernik, Zur Entwicklung des Sprachbewusstseins im Alten Orient (39–61); W. Sallaberger, Benno Landsbergers »Eigenbe- ­grifflichkeit« in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive (63–82); A. Zgoll, Wort-Bedeutung und Bedeutung des Wortes. Von den Leipziger Semitistischen Studien zur modernen Akkadistik (83–94). –2. Zur Religion: J. Hazenbos, Der Mensch denkt, Gott lenkt. Betrachtungen zur hethitischen Orakelpraxis (95–109); S. Koçak, Ein Blick in die Bibliothek des Großen Tempels in Hattuça (111–116); D. Prechel, Heinrich Zimmerns Beiträge zur Kenntnis der babylonischen Religion (117–124); F. A. M. Wiggermann, The Four Winds and the Origins of Pazuzu (125–165). – 3. Zu Gesellschaft und Politik: E. Cancik-Kirschbaum, »Menschen ohne König …«. Zur Wahrnehmung des Königtums in sumerischen und akkadischen Texten (167–190); Ph. H. J. Houwink ten Cate, The Hittite Usage of the Concepts of ›Great Kings‹ (191–207); C. Wilcke, Das Recht: Grundlage des sozialen und politischen Diskurses im Alten Orient (209–244). – 4. Zum Recht: E. Dombradi, Das altbabylonische Urteil: Mediation oder res iudicata? Zur Stellung des Keilschriftrechts zwischen Rechtsanthropologie und Rechtsgeschichte (245–279); H. Neumann, »Gib mir meine Geld zurück!« Zur rechts- und wirtschaftsgeschichtlichen Bedeutung keilschriftlicher Privatarchive des 3. Jahrtausends v. Chr. (281–299). – 5. Zur Mathematik: J. Oelsner, Zur Mathematik des alten Mesopotamien (301–314). – 6. Zur Institutsgeschichte: J. Oelsner, Leipziger Altorientalistik: 1936–1993 (315–330). – Schlusswort: G. Wilhelm, Bemerkungen zum Selbstverständnis der Altorientalistik als Nachwort zum Leipziger Kolloquium (331–340). Ein Abkürzungsverzeichnis sowie Indizes (Götter/Dämonen, Personennamen, Orts-/Ländernamen, Begriffe/Sa­­chen, Wörter) beschließen den Band (351–359).
Es ist misslich und ein wenig ungerecht, wenn man aus einem solchen Bündel hochinteressanter opuscula einzelne Beiträge be­sonders herausgreift. Für den Alttestamentler und Religionswissenschaftler sind außer den wissenschaftsgeschichtlichen Aufsätzen (W. Sallaberger, D. Prechel, J. Oelsner) aber die Beiträge von M. Krebernik (zum Verhältnis von Sprache und Weltsicht), A. Zgoll (zur Sprache des Gebets), F. M. A. Wiggermann (zum Verhältnis von Philologie und Ikonographie), E. Cancik-Kirschbaum (zum Verhältnis von Königtum und Gesellschaft/Politik), C. Wilcke (zum Verhältnis von Recht und Gesellschaft/Politik und zum Verhältnis von Freundschaft und Feindschaft) und E. Dombradi (zur Entscheidung von Konflikten durch Rechtssprüche) von besonderem Interesse. Denn sie unterstreichen auf ihre Weise die Legitimität des Landsbergerschen Anspruchs, »das alte Babylonien um seiner selbst willen zu studieren, es als eigene Welt zu verstehen« (C. Wil­cke, 11) und damit Wege in die Welt des alten Orients zu bahnen, die zu guten Teilen die Wiege der abendländischen Kultur ist (Ma­thematik, Astronomie, Rechtswesen u. a.). Für das Selbstverständnis der Altorientalistik, das im Schlusswort von G. Wilhelm eigens zum Thema gemacht wird, sind Publikationen wie die vorliegende jedenfalls ebenso nötig, wie sie für die Nachbardisziplinen, denen diese oft genug als eine Art Geheimwissenschaft entgegentritt, willkommen sind. Dafür gebührt dem Herausgeber und seinen Mitarbeitern aufrichtiger Dank.