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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

198–201

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Häusler, Michael

Titel/Untertitel:

"Dienst an Kirche und Volk." Die Deutsche Diakonenschaft zwischen beruflicher Emanzipation und kirchlicher Formierung (1913–1947).

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1995. 496 S. m. 8 Tab. und 8 Abb. gr.8° = Konfession und Gesellschaft, 6. Kart. DM 48.- ISBN 3-17-013779-4.

Rezensent:

Theodor Strohm

Zu einem unentbehrlichen Standardwerk innerhalb der Aufarbeitung der Diakoniegeschichte ist zweifellos die 1995 erschienene Untersuchung des Historikers Michael Häusler: "Dienst an Kirche und Volk." Die Deutsche Diakonenschaft zwischen beruflicher Emanzipation und kirchlicher Formierung (1913-1947) zu rechnen, die zuvor als Dissertation von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster angenommen wurde. Das vom Verband Evangelischer Diakonen- und Diakoninnengemeinschaften e.V. (VEDD) 1988 anläßlich des 75-jährigen Bestehens angeregte Forschungsprojekt wurde seit 1990 in sachkundiger und breit angelegter Art und Weise vom Autor und heutigen Leiter des Archivs des Diakonischen Werks der EKD durchgeführt. Es zeigt sich hier auch ein Modell gelungener und sich gegenseitig befruchtender Kooperation von universitärer Forschung und protestantischer Verbandsarbeit, die an der historischen und (selbst-)kritischen Aufarbeitung der eigenen Berufsgeschichte interessiert ist. Der Spannungsbogen dieser zeitgeschichtlichen Untersuchung mit dem Schwerpunkt auf den Jahren 1913-1947 wird im Titel bereits ausgedrückt, die Herausforderungen in der Geschichte der Deutschen Diakonenschaft werden zwischen den Aspekten einer beruflichen Emanzipation und kirchlicher Formierung angesiedelt.

Die Untersuchung besticht durch ihre Einbeziehung quantitativer Methodik und die differenzierte Wahrnehmung der historischen Details: "Das Thema der Arbeit ist die Berufsgruppe der Diakone in ihrem beruflichen und sozialen Umfeld auf ihrem Weg in das und im ’Dritten Reich’. Besondere Berücksichtigung erfährt dabei das Verhältnis der Diakone zu ihren Vorstehern. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Entwicklung des Deutschen Diakonenverbands ­ beziehungsweise der Deutschen Diakonenschaft ­ als des einzigen Gesamtorgans aller Diakone; darüberhinaus sollen die Besonderheiten der einzelnen Brüderschaften und der spezifischen Arbeitssituationen in den Blick genommen werden." (22)

Vier große Teile innerhalb dieses Rahmens erörtern zunächst die Entwicklung des Berufs "vom Gehilfen zum Diakon" (23ff) in ihren theologischen und organisatorischen Grundlagen, die Umstände der Gründung des Diakonenverbands und seine Geschichte im 1. Weltkrieg. Der 2. Teil beschreibt "die männliche Diakonie unter den Bedingungen des Weimarer Wohlfahrtsstaats" (78 ff.), ihre Stellung im pluralistischen Staat und die Entwicklung zur "Professionalisierung".

Im 3. und umfangreichsten Teil wird "die Deutsche Diakonenschaft im ’Dritten Reich’" in ihren verschiedenen Ausprägungen genauestens in der Phase der Gleichschaltung, im Kirchenkampf, in NS-Organisationen und in ihren Berufsbedingungen im Zeichen der Politik der "Entkonfessionalisierung" (368) dargestellt. Der 4. Teil schließlich behandelt die "Konsolidierung nach dem 2. Weltkrieg" (412 ff.). Das Quellen- und Literaturverzeichnis zeigt die breite Quellengrundlage. Abbildungen und Tabellen veranschaulichen die minutiösen und interessanten Aufstellungen und Auswertungen. Ein Sachregister und ein Personenregister ebenso wie das Abkürzungsverzeichnis helfen demjenigen, der nur Teile der Arbeit zur Kenntnis nehmen möchte.

H. leistet nicht nur eine historische Aufarbeitung der persönlichen und institutionellen Verstrickungen der Deutschen Diakonenschaft in das NS-System, die sich im September 1933 auf dem Hamburger Diakonentag hinter die Nationalsozialisten und die Deutschen Christen stellte, sondern es gelingt ihm auch aufzuzeigen, welche strukturellen Ursachen hinter dieser Entwicklung standen. Deshalb umfaßt sein Untersuchungszeitraum die Jahre 1913 bis 1947 ­ 1913 als das Jahr der Gründung des "Deutschen Diakonenverbands" (DVV) und 1947 mit der äußeren Neukonstituierung des Verbands ­ und bezieht die Konstellationen und Entwicklungen in der Weimarer Republik als konstitutiv mit ein, der bekanntlich der größte Teil der Evangelischen Kirche und der Inneren Mission ablehnend gegenüberstand. Er hat aber nicht nur diese Konstellationen im Blick, sondern legt seinen Schwerpunkt auf die beruflichen Grundlagen und die Arbeitswirklichkeit der Diakone, die das Gesamtspektrum der Entwicklung des Diakonenberufs als Profession sichtbar machen.

Gerade die emanzipatorischen Aufbrüche der "Brüder" von den Brüderhaus- und Anstaltsvorstehern (Pastoren) führte 1913 zur Gründung des "Deutschen Diakonenverbands" (DVV) ­ allerdings wiederum unter der Leitung eines Pastors und als lockerer Verband von Brüderschaften, nachdem 1912 die Gründung eines unabhängigen Berufsverbands als "Zentralverband der Berufsarbeiter der Inneren Mission" auf der Basis der Initiative von Stadtmissionaren und Gemeindediakonen von seiten der Brüderhausvorsteherkonferenz Widerspruch erfahren hatte. Der DVV wurde aber dennoch ­ besonders mit seinem Organ "Deutsches Diakonenblatt" ­ der institutionelle Rahmen für die Forderung nach Selbstverwaltung in den Brüderschaften, nach Mitbestimmung und nach beruflicher Anerkennung durch die verfaßte Kirche. Man drängte nach Verbesserung der beruflichen Ausbildung und nach "Professionalisierung", die Ende der 20er Jahre auch durch die staatliche Reglementierung des sozialen Bereichs befördert wurde. Installiert wurde etwa die doppelte Qualifikation zum Diakon und staatlich anerkannten Wohlfahrtspfleger.

Die Weimarer Republik wurde aufs Ganze gesehen von den Diakonen abgelehnt, weil man für die finanziellen und sozialen Krisen das individuelle Anspruchsdenken und die mangelnde Orientierung am Gemeinnutz verantwortlich machte. Diese Argumentationsstruktur, die in Kirche und Diakonie weit verbreitet war, traf sich fatalerweise mit dem volksorientierten ­ oder besser völkischen ­ Denken der Nationalsozialisten. Attraktiv waren die nationalsozialistisch orientierten Deutschen Christen in der Kirche für den DVV, der sich seit 1933 "Deutsche Diakonenschaft" (DD) nannte, deshalb, weil sie versprachen, das Diakonenamt als kirchliches Amt anzuerkennen und das Laienelement (gegenüber der Pastorenkirche) zu fördern. 1933 löste der Diakon Fritz Weigt als Diakonenschaftsführer den bisher amtierenden Pastor Büchsel ab.

H. untersucht die Deutsche Diakonenschaft in der Phase der Gleichschaltung, im Kirchenkampf und seinen Auswirkungen sowie die Berufsbedingungen unter dem Vorzeichen der Bekämpfung der freien Wohlfahrtspflege, der sog. "Entkonfessionalisierung" des öffentlichen Lebens. In der Phase des nationalsozialistischen Regimes kann der Autor insbesondere zwei Linien herausarbeiten: Erstens die Verstrickung der Deutschen Diakonenschaft in das System durch die Zugeständnisse, die man machte. Diese Linie der gesellschaftlichen und politischen Verstrickungen umfaßte etwa die Eingliederung der Brüder in die SA, die Mitarbeit in der Hitlerjugend, die Kooperation mit der "Deutschen Arbeitsfront" (DAF) und mit der NS-Volkswohlfahrt (NSV). Der Autor veranschaulicht an vielen Einzelbeispielen die konkreten Ausprägungen. Die zunehmende Distanzierung des Verbands gegenüber den Deutschen Christen, seine Neutralitätspolitik und sein Beitritt zur Arbeitsgemeinschaft der missionarischen und diakonischen Werke und Verbände brachte eine Spaltung innerhalb der Diakonenschaft mit sich. Auch wenn man hoffte, den äußeren Bestand der Einrichtungen zu erhalten und angesichts der staatlichen Verdrängung, Ausgrenzung und Bekämpfung der konfessionellen und freien Träger der Wohlfahrtstätigkeit zu sichern, fehlte aufgrund der nationalsozialistischen Kampagnen bald der Nachwuchs zur Ausbildung.

Die interessante zweite Linie, die der Autor herausarbeiten kann, zeigt einen im kirchlich-gemeindlichen Leben zunehmend an Stellenwert und Qualifikation zunehmenden Beruf des Diakons, etwa als Gemeindediakon und Pfarrverweser. Ein intensiv geführter Machtkampf im Hintergrund zwischen der Deutschen Diakonenschaft und der Brüderhausvorsteherkonferenz, die bestrebt war, wieder einen Pastor als Leiter des DD einzusetzen, wurde 1947 zugunsten des Karlshöher Diakons Ernst Friedrich als DD-Vorsitzenden entschieden. Mit der in vielen Punkten über die Stuttgarter Schulderklärung hinausgehenden "Treysaer-Erklärung" von 1949, die von dem Nazareth-Vorsteher Paul Tegtmeyer entworfen worden war und die an alle Diakone gesandt wurde, nahm man in den Westzonen Stellung zu den Schuldverstrickungen der Deutschen Diakonenschaft im Dritten Reich. Bei H. wird sie auch in ihrer interessanten Entstehungsgeschichte eingehend behandelt.

Der Autor resümiert abschließend für die Geschichte der Deutschen Diakonenschaft in dem von ihm bearbeiteten Zeitraum innerhalb des differenzierten Bildes "unterschiedlicher Kräfteverhältnisse, Interessenskonstellationen und Handlungsebenen" und der Einflüsse der Kirche, der Inneren Mission, freier und öffentlicher Wohlfahrtspflege langfristige Trends hinsichtlich seiner doppelten Fragestellung nach der "Entwicklung des Diakonenberufs" und der "Haltung der Männlichen Diakonie gegenüber den gesellschaftlichen Strömungen und Ereignissen ihrer Zeit" (462). Für die äußere Gestaltung des Diakonenberufs wird nach Häusler ein "Trend zur Expansion" (462), für die innere Gestaltung ein "Trend zur Emanzipation" und gleichermaßen ein "Trend zu verstärkter Organisation" (463) festgestellt, der "die Emanzipation der einstigen Pastoral- und Erziehungsgehilfen zu Vertretern eines sozialen Dienstleistungsberufs" (464) beförderte. Den "Trend zur Verkirchlichung" hebt H. in seiner Bedeutung für die Männliche Diakonie besonders hervor.

Daß dem VEDD diese Form der kritischen Aufarbeitung der eigenen (Berufs-)Geschichte sehr wichtig ist und daß das Modell von Michael Häusler hoffentlich in mancherlei Hinsicht Schule machen wird, zeigt der Beschluß des VEDD, daß in einer ähnlichen Form nun auch die Geschichte der Diakoninnen und der Diakonenfrauen erforscht werden soll. Das läßt in den nächsten Jahren weitere wichtige und erhellende Ergebnisse der Geschichte der unterschiedlichen Ausprägungen des Diakonats in den verschiedenen historischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Kontexten erwarten, die auch für die heutigen Fragen nach dem Profil des diakonischen Amts von großer Bedeutung sind.