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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

218-234

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Catherine Hezser

Titel/Untertitel:

Neuere Forschungen zum rabbinischen Judentum

Die Erforschung der rabbinischen Literatur und der rabbinischen Gesellschaft in römisch-byzantinischer und sasanidischer Zeit hat in den letzten Jahren entscheidende Fortschritte gemacht. Einerseits erschienen weitere wissenschaftliche Editionen rabbinischer Texte sowie Einführungswerke, die Studenten und interessierten Laien den Zugang zur rabbinischen Literatur erleichtern. Andererseits sind auch zahlreiche thematische Bereiche, die nicht nur für Judaisten sondern auch für Neutestamentler, Kirchenhistoriker, und Althistoriker von Bedeutung sind, in Monographien und Sammelwerken behandelt worden. Die aufgegriffenen Fragen reichen von Definitionen jüdischer Identität und rabbinischen Darstellungen Jesu, des Christentums und der paganen Kunst bis zur Erforschung des Alltagslebens und feministischen Zugängen zur rabbinischen Literatur, d. h. die Forschungsbereiche und methodischen Zugänge sind äußerst vielfältig geworden und entsprechen damit den mannigfaltigen Themenbereichen, die in der rabbinischen Literatur angesprochen werden. Ein Schwerpunkt, der in den letzten Jahren besonders entwickelt worden ist, ist die Erforschung des Babylonischen Talmuds und des babylonischen Judentums im Kontext zeitgenössischer persischer Geschichte und Kultur. Diese Studien stellen einen entscheidenden Fortschritt gegenüber der traditionellen Verwendung des Babylonischen Talmuds als Quelle palästinisch-jüdischer Geschichte dar. Des Weiteren sind in den letzten Jahren eine Reihe wichtiger Untersuchungen zu bestimmten Aspekten rabbinischer Kultur veröffentlicht worden, die dem römischen Provinzkontext und mediterranen Kulturzusammenhang, in denen sich das palästinische Judentum entwickelte, ihre notwendige Bedeutung zuerkennen.



1. Textausgaben, historisch-kritische Untersuchungen
und Einführungen in die rabbinische Literatur


Hans-Jürgen Beckers synoptische Edition der beiden Versionen von Avot de-Rabbi Natan setzt Peter Schäfers textkritischen Ansatz fort und wendet ihn auf dieses wichtige rabbinische Sammelwerk an.1 Dies ist als entscheidender Fortschritt gegenüber der Ausgabe von S. Schechter (1887) anzusehen, in der ein eklektischer, auf verschiedenen Manuskripten basierender Text der beiden Versionen A und B präsentiert wird. Die synoptische Darstellung der Manuskripte ermöglicht es dem Leser, Textvarianten selbst festzustellen und auszuwerten, und bringt so die Einsicht der neueren textkritischen Forschung zum Ausdruck, dass die Suche nach einem angeblich »ursprünglichen« Text oder dem »Originaltext« sinnlos ist, da Texte immer gleichzeitig in mehreren Versionen zirkulierten.
Ein sehr gelungenes Beispiel zeitgenössischer historisch-kri­tischer Forschung stellt David Brodskys auf seiner Dissertation beruhende Studie zu Massekhet Kallah und Kallah Rabbati dar, die zu den sog. außerkanonischen Traktaten des Babylonischen Talmuds gehören.2 Brodskys form- and redaktionskritische Analyse dieser Texte kommt zu dem Ergebnis, dass diese nicht als post-talmudisch und gaonäisch, sondern als amoräisch anzusehen sind. Die Redaktoren mögen den Babylonischen Talmud nicht einmal gekannt haben, sondern beriefen sich wohl auf mündlich überlieferte, außertalmudische Traditionen. Um den inhaltlichen Schwerpunkt dieser Traktate zu erläutern, bedient sich Brodsky Lakans Phallus-Theorie: Wie dem Phallus wird in Massekhet Kallah geheiligten Objekten eine höhere Bedeutung zuerkannt, die über ihre Funktion im alltäglichen Leben hinausgeht. Die Arbeit zeigt, wie der klassische historisch-kritische Ansatz durch die Einbeziehung (post)moderner philosophischer Diskurse bereichert und aktualisiert werden kann.
Auch bei Rachel Anisfelds Arbeit zu Pesikta de Rav Kahana handelt es sich um eine überarbeitete Dissertation.3 Die Autorin untersucht diese spätantike Midraschsammlung aus drei verschiedenen Perspektiven: als in sich kohärentes Werk, im Vergleich mit früheren tannaitischen Texten sowie in ihrem sozialen, historischen und rhetorischen Kontext innerhalb der Spätantike. Diese Kombination verschiedener methodischer Zugangsweisen erlaubt es ihr, formale und thematische Aspekte dieses Midraschwerks in ihrer histo­-rischen Bedeutung zu analysieren und zu erklären. So kommt sie zu dem Ergebnis, dass dieser Midrasch andere rhetorische Mittel als frühere Midraschim verwendet (d. h. einen persönlicheren und emotionaleren homiletischen Stil) und damit möglicherweise versuchte, rabbinische Lehren einem breiteren Kreis näherzubringen. Insofern ist nach Anisfeld Pesikta de Rav Kahana im Rahmen des spätantiken rabbinischen Bemühens, größere Popularität und mehr Einfluss innerhalb der jüdischen Gesellschaft zu gewinnen, zu verstehen. Sie weist auch auf die verschiedenen Zusammenhänge zwischen diesem Midrasch und seinem christlich-byzantinischen Um­feld hin und identifiziert eine gemeinsame Rhetorik, die an Menschen der Spätantike gerichtet war. Trotz rhetorischer Ge­meinsamkeiten richtete der Midrasch sich jedoch an Juden und förderte die Bildung einer spezifisch jüdischen spätantiken Identität.
Außer diesen Monographien, die sich auf bestimmte rabbinische Texte beziehen, sind in den letzten Jahren außerdem eine Reihe von Einführungen in die rabbinische Literatur erschienen, die sehr unterschiedlich angelegt sind, aber einen ähnlichen Adressatenkreis ansprechen: Studenten der Judaistik und ihrer Nachbardisziplinen sowie interessierte Laien, die einen Zugang zur rabbinischen Literatur suchen und sich über die verschiedenen Perspektiven und Kontexte, in denen diese Literatur entstanden ist, in­formieren möchten. Der zweite Band des u. a. von Shmuel Safrai initiierten Projekts »The Literature of the Sages« ist nun 20 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes in der Reihe »Compendium Rerum Iudaicarum ad Novum Testamentum« (CRINT) veröffentlicht worden. 4 Während der erste Band der Einführung in Misch­nah und Talmud gewidmet war, beschäftigen sich die von verschiedenen Autoren geschriebenen Kapitel des zweiten Bandes mit Midrasch und Targum, Gebet, religiöser Dichtung (Piyyutim) und Mystik sowie Epigraphie, antiker Wissenschaft und der hebräischen Sprache, d. h. die Themen sind sehr viel weiter gefasst und überschreiten den Bereich der klassischen rabbinischen Literatur. Neben dieser Einbeziehung des zum Verständnis der Rabbinica notwendigen nicht-rabbinischen Quellenmaterials sind auch die methodischen Ansatzpunkte weitaus vielfältiger und generell kritischer als dies im ersten Band der Fall war. Deshalb ist dieser zweite Band vom wissenschaftlichen Standpunkt her fundierter und zuverlässiger als der erste Band. Die einzelnen Kapitel führen den Leser in die zeitgenössischen Debatten ein und bieten einen Überblick über weiterführende Literatur.
Ein anders strukturierter Einführungsband in die rabbinische Literatur ist der von Charlotte E. Fonrobert und Martin S. Jaffee herausgegebene »Cambridge Companion to the Talmud and Rabbinic Literature«.5 Die einzelnen Kapitel dieser Einführung stellen nicht einzelne rabbinische Werke vor, sondern widmen sich einem viel breiteren Themenkreis: der institutionellen Basis und politischen Geographie rabbinischer Texte, den rabbinischen Literaturgattungen in ihrem weiteren griechisch-römischen und persisch-babylonischen Kontext sowie dem hermeneutischen Rahmen, in dem die rabbinische Literatur zu verstehen ist. Damit schafft dieser Band die Voraussetzung für ein Studium der rabbinischen Literatur und Gesellschaft im Kontext anderer antiker Gesellschaften und Literaturen. Es wird die Einbettung rabbinischen Denkens und Lehrens im Rahmen der Gesamtantike deutlich. Insofern ist dieser Band auch für Klassizisten, Althistoriker, Neutestamentler und Kirchenhistoriker relevant.
Ganz anders geartet ist Alexander Samelys Einführung in die rabbinische Literatur, auch deshalb, weil sie von nur einem Autor geschrieben worden ist.6 Mit diesem Band führt Samely den Leser in seine eigene stukturalistische Sicht der rabbinischen Literatur ein, die die Textualität der Werke betont und die jeweiligen Ausdrucksformen mit bestimmten Bedeutungshorizonten in Zusam­menhang bringt. Mit seiner Betonung der literarischen Genese und Textualität rabbinischer Werke wendet sich Samely sowohl gegen traditionell historische Ansatzweisen, die rabbinische Texte unkritisch als historische Quellen auswerten, sowie gegen die his­torisch-kritische Unterscheidung zwischen früheren Schichten und späteren redaktionellen Überarbeitungen. Seiner Meinung nach kann man nicht hinter den ediert vorliegenden Text zurück­gehen, sondern muss dieses letzte Stadium strukturalistisch un­tersuchen, um Bedeutungen freizulegen. Durch eine rein synchronische Betrachtung des edierten Textes können allerdings die Veränderungen des Traditionsmaterials durch die Redaktoren nicht wirklich herausgearbeitet werden. Deshalb lässt Samelys Ansatz nur ein relativ begrenztes, rein literarisches Studium der Oberflächenstruktur rabbinischer Texte zu.
Zuletzt sei hier noch ein von Carol Bakhos herausgegebener Sammelband zu nennen, der neuere Zugänge zum Midraschstudium vorstellt.7 Diese methodischen Zugänge reichen von Untersuchungen zum literar-historischen Ursprung des Midrasch in der Zeit des Zweiten Tempels über Vergleiche zwischen Midrasch und frühchristlicher Exegese bis zu sozialgeschichtlichen und feministischen Ansätzen, die jeweils von verschiedenen Autoren dargestellt werden.



2. Der Kontext des Babylonischen Talmuds


Während der Babylonische Talmud in der Vergangenheit in der Regel undifferenziert zur Erläuterung palästinischer Verhältnisse herangezogen und im griechisch-römischen Kontext verstanden wurde, hat Yaakov Elman die Bedeutung des persisch-sasanidischen Kontextes für die Interpretation des Bavli hervorgehoben und diese neue Perspektive in einer Reihe von Artikeln exemplarisch zum Ausdruck gebracht.8 Das Studium der sasanidischen Gesellschaft und Kultur ist allerdings dadurch erschwert, dass kein zeitgenössisches literarisches Quellenmaterial zur Verfügung steht und die später abgefassten Texte nicht notwendigerweise sasanidische Verhältnisse darstellen. Auch die Überreste der materiellen Kultur sind sehr beschränkt und bestehen lediglich aus Zauberschalen und Siegeln, wobei Letztere vor Kurzem von Daniel M. Friedenberg neu veröffentlicht worden sind. 9
Aharon Oppenheimer und Richard Kalmin untersuchen historische und kulturelle Aspekte des Babylonischen Talmuds am Schnittpunkt zwischen Ost und West, zwischen der persisch-sasanidischen und römisch-byzantinischen Kultur.10 Dieser methodische Zugang ist insofern angemessen, als – den Talmuden zu­folge – palästinische und babylonische Amoräer im steten Austausch miteinander standen und auch Althistoriker zunehmend die Wechselwirkungen zwischen Rom und Persien und den hellenistischen Einfluss auf die sasanidische Gesellschaft und Kultur betonen.11 Bei Oppenheimers Buch handelt es sich um eine Sammlung von bereits zuvor (zum Teil auf Hebräisch) veröffentlichten Aufsätzen zum Thema, und die Spannbreite der behandelten As­pekte ist entsprechend vielfältig. Die sich auf Babylonien beziehenden Themenstellungen reichen von Josephus’ historischen Anspielungen auf Nehardea und Nisibis über palästinisch-rabbinische Versuche, den Kalender in Babylonien zu bestimmen, bis zu kul­-turellen Kontakten zwischen Babylonien und dem Land Israel. Oppenheimers Untersuchungen sind in erster Linie historisch-geographisch, während Kalmin mehr an innerrabbinischen und kulturellen Aspekten interessiert ist. Auch Kalmins Buch basiert zum Teil auf bereits veröffentlichten Aufsätzen und Konferenzvorträgen, die für die Wiederveröffentlichung überarbeitet worden sind, d. h. es handelt sich auch hier nicht um eine neue systematische Untersuchung des Themas. Dennoch werden insbesondere die Kapitel zur rabbinischen Darstellung der Götzenverehrung im spätantiken Babylonien und zur möglichen Kenntnis von Josephus’ Darstellung der Sadduzäer in Babylonien Kulturgeschichtler interessieren. Kalmin neigt allerdings dazu, den Kontrast zwischen den palästinischen und babylonischen Rabbinen überzubetonen, und die für die angeblichen Unterschiede angeführten Gründe sind nicht immer überzeugend. 12



3. Gender Studies und feministische Zugänge
zur rabbinischen Literatur


Die Untersuchung der Darstellung und Rolle von Frauen in der rabbinischen Literatur und im antiken Judentum insgesamt ist in den letzten Jahren verstärkt fortgesetzt worden. Dabei sind neue Fragestellungen entwickelt und neue methodische Ansätze eingeführt worden. Shaye J. D. Cohen fragt konsequent nach der Stellung der Frau im Judentum und im Bund Gottes mit Israel, da doch die Beschneidung als Zeichen jüdischer Identität gilt und Frauen nicht beschnitten werden.13 Die Nicht-Beschneidung von Frauen im Judentum ist im antiken und mittelalterlichen Christentum als Teil der anti-jüdischen Polemik hervorgehoben und mit der Taufe von Männern und Frauen kontrastiert worden. Cohen diskutiert vier mögliche Antworten auf die Frage, warum jüdische Frauen nicht beschnitten werden. Die Rabbinen der ersten Jahrhunderte schien dieser Unterschied nicht zu stören; jedenfalls äußerten sie sich dazu nicht. Erst in der anti-christlichen Polemik des Mittelalters haben sich jüdische Intellektuelle erstmals mit diesem Thema auseinandergesetzt und eine Reihe unterschiedlicher Antworten geliefert. Cohen zufolge symbolisiert die Nicht-Beschneidung jü­discher Frauen ihre zweitrangige, anormale und problematische Stellung innerhalb der rabbinischen Statushierarchie. Jüdische Frauen sind zwar jüdisch, aber sie sind nicht verpflichtet, die Torah zu studieren und alle ihre Regelungen zu befolgen. Deshalb bleiben sie für die Rabbinen marginal.
Mit dieser marginalen Stellung der Frau innerhalb der rabbinischen Literatur setzt sich auch ein neues, von Tal Ilan initiiertes Projekt auseinander. Dieses von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt hat sich die Erarbeitung eines feministischen Kommentars zum Babylonischen Talmud zum Ziel gesetzt. Bisher sind die auf eine Konferenz zurückgehenden einleitenden Beiträge in einem Sammelband erschienen sowie die ersten Kommentarbände zu den Traktaten Ta’anit und Sukkah. 14 In ihrer Einleitung des Forschungsvorhabens weist Tal Ilan bereits auf die Vielfältigkeit der Bezugnahme auf Frauen und des für das rabbinische Frauenverständnis relevanten Materials in den einzelnen Traktaten des Bavli hin. Die zweite Ordnung Mo’ed (Feiertage) ist bewusst als erste Textgruppe gewählt worden, da dort anders als in der Ordnung Nashim (Frauen) nicht spezifische Frauenthemen behandelt werden. Jeder Talmudtraktat wird von einer anderen Autorin bzw. einem anderen Autor aus feministischer Perspektive kommentiert. Außer bestimmten formalen Richtlinien und As­pekten der Strukturierung ist dabei aber kein einheitlicher methodischer Zugang vorgeschrieben, sondern die Autoren bestimmen ihre jeweiligen Schwerpunkte und Ansatzweisen selbst im Hinblick auf das jeweils vorliegende Textmaterial.
Tal Ilans Kommentar zu Traktat Ta’anit kann als Prototyp für die noch zu erwartenden Kommentarbände dienen. In ihrer kurzen Einleitung weist Ilan darauf hin, dass in diesem Werk alle feministisch relevanten Texte des Traktats, d. h. solche, die Frauen und frauenrelevante Aspekte direkt erwähnen, sowie solche, in denen Frauen auffälligerweise abwesend sind, ausgewählt und kommentiert worden sind. Es handelt sich also nicht um einen laufenden Kommentar zum Babylonischen Talmud, sondern um die Kommentierung ausgewählter frauenrelevanter Textpassagen, die auf Hebräisch sowie in englischer Übersetzung zitiert werden. Dies gilt auch für die Mischnah-Stellen, die dem Bavlikommentar vorangestellt werden. Dabei ist die Relevanz der Texte natürlich vom Ermessen der Autorin abhängig. Bereits hier sowie in den folgenden Kommentaren zu den Talmudstellen sind die – meist relativ kurzen – Kommentare in »allgemeine« und »feministische Beobachtungen« unterteilt. Dabei treten oft interessante Gesichtspunkte in Erscheinung, die beim Lesen des Textes gewöhnlich nicht wahrgenommen werden. Auch Texte und Formulierungen, die Frauen nicht direkt erwähnen, zeugen oft von unterschwelligen rabbinischen Sichtweisen des weiblichen Geschlechts, welche die Argumentation der Rabbinen bestimmten. Andererseits besteht natürlich auch die Gefahr, frauenrelevante Aspekte in die Texte hineinzulesen. Diese Gefahr ist in diesem Band allerdings nicht sehr ausgeprägt, da der Traktat Frauen und Aspekte des Weiblichen erstaunlich häufig erwähnt.
Der zweite Band der Reihe, Shulamit Vallers Kommentar zum Traktat Sukkah, ist ähnlich strukturiert wie der erste: Auf die Einführung in den Traktat – unterteilt in allgemeine, methodische und feministische Beobachtungen – folgt zunächst die Kommentierung frauenrelevanter Mischnahstellen. Dann beginnt der Hauptteil der Arbeit, der Kommentar zum Talmudtraktat. Im Traktat Sukkah ist insbesondere die Befreiung der Frauen von der Befolgung einiger mit dem Sukkotfest verbundener Rituale relevant. Den Rabbinen zufolge sind Frauen nicht verpflichtet, in der Laubhütte zu wohnen und einen Lulav (Palmzweig) in die Hand zu nehmen. Hilfreich ist hier Vallers Heranziehung von palästinisch-tannaitischem Vergleichsmaterial zum Thema, welches ihr er­laubt, das Besondere der babylonischen Varianten herauszuarbeiten. Die babylonischen Amoräer scheinen realisiert zu haben, dass es keine logischen Gründe für die Ausnahme von Frauen vom Sukkahgebot gibt. Deshalb vermutet Valler, dass diese tannaitische Bestimmung im spätantiken Babylonien gar nicht praktiziert bzw. durchgesetzt wurde. Der Band zeichnet sich durch den Vergleich von Manuskriptvarianten und die synoptische Präsentation und Analyse von Paralleltexten aus. Der am Ende beider Bände vorhandene Stellenindex und ein »Index of Gendered Terms« erleichtern die Benutzung dieses sehr zu begrüßenden feministischen Kommentarwerks, das auch auf andere rabbinische Sammelwerke ausgedehnt werden sollte.



4. Alltagsleben und materielle Kultur


Ein weiterer Themenbereich, der in den letzten Jahren verstärkt behandelt worden ist, ist das Alltagsleben der Juden Palästinas im Kontext der zeitgenössischen griechisch-römischen Kultur und aufgrund neuer archäologischer Funde und Ausgrabungsergebnisse. Es ist erkannt worden, dass die einzelnen Bereiche der antiken jüdischen Alltagskultur, wie sie vor 100 Jahren erstmals umfassend von Samuel Krauss in seinem mehrbändigen Werk »Talmudische Archäologie« dargestellt wurden, einer gründlichen Revision bedürfen, sowohl im Hinblick auf den methodischen Zugang zu rabbinischen Texten als auch in Bezug auf den zeitgenössischen Kontext und die materielle Kultur. 15
Martin Goodman nimmt den ersten jüdischen Krieg gegen Rom zum Anlass, um verschiedene Aspekte des Verhältnisses der jüdischen zur römischen Kultur in den ersten vier Jahrhunderten n.Chr. zu untersuchen.16 Dabei leitet ihn die Frage, wie es trotz der allgemeinen römischen Toleranz gegenüber dem Judentum zum Ausbruch dieses Krieges und des folgenden Konfliktes im Bar-Kochba-Aufstand kommen konnte. Er zeigt, wie zur Zeit des römischen Imperiums die mediterrane Welt einerseits näher zusam­menrückte und Kontakte und Interaktionen zwischen Römern und Juden verschiedener Schichten ermöglichte, andererseits aber auch grundlegende kulturelle Unterschiede zutage traten, die un­ter bestimmten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Um­ständen zu gewaltsamen Konflikten führen konnten. Die Untersuchung basiert in erster Linie auf griechisch-römischen und christlichen Quellen und weicht damit von früheren Untersuchungen des griechisch-römischen Kontextes rabbinischer Texte ab. 17 Vielleicht hat diese Quellenbasis Goodman auch dazu verleitet, größere Kontraste zwischen dem jüdischen, römischen und frühchristlichen Lebensstil und der entsprechenden Weltanschauung zu behaupten, als es rabbinische Texte nahelegen. Dass sich z. B. römische und jüdische Vorstellungen von Vergnügen radikal voneinander unterschieden, wie Goodman behauptet, geht aus rabbinischen Texten nicht hervor.
Der von Jürgen Zangenberg und Dale Martin herausgegebene Band von regionalgeschichtlichen und archäologischen Untersuchungen zu Galiläa veranschaulicht die Bedeutung interdisziplinärer Zugangsweisen zum besseren Verständnis geographischer Regionen der Antike.18 Die hier veröffentlichten Beiträge gehen auf ein von der Humboldt Stiftung unterstütztes Projekt zurück, das in Zusammenarbeit mit der Yale University durchgeführt wurde. Obwohl die einzelnen Beiträge sich methodisch und qualitativ voneinander unterscheiden, tragen die meisten dazu bei, die Einge­bundenheit Galiläas in sein geographisches und kulturelles Um­feld darzustellen.
Einige der Beiträge sind revisionistisch: So insistiert Sean Freyne in seinem Beitrag auf einem »national conservatism in religious affairs« (20) und Mordechai Aviam meint, aufgrund von archäologischen Überresten klare geographische Grenzen jüdischer und paganer Ethnizität feststellen zu können. Sein Ergebnis beruht auf einer Harmonisierung archäologischer und literarischer Quellen, wobei die rabbinische Literatur realhistorisch verwendet wird. Dieser Ansatz wird von Moreland (133–139) stark kritisiert: Die simplizistische Zuordnung bestimmter Artefakte zu Bevölkerungsgruppen ist methodisch nicht zu rechtfertigen. Stattdessen gab es »un­fixed and socially constructed [boundaries]« (133) zwischen den einzelnen Ansiedlungen und eine gemischte Bevölkerung, welche transkulturelle Beziehungen pflegte. In seiner Studie zu den landwirtschaftlichen Siedlungen Galiläas zeigt Douglas Edwards (357–374), dass die Dörfer einem ständigen Wandel unterworfen waren und mit den Städten in einer komplexen wirtschaftlichen Austauschbeziehung standen, die den lokalen Wettbewerb gefördert zu haben scheint. Mit diesen Beiträgen wird die traditionelle Sicht Galiläas als landschaftlich und kulturell isolierte Re­gion, in der konservative Lebensweisen und Weltanschauungen gepflegt wurden, grundlegend widerlegt. Vielmehr muss mit einer dynamischen Wechselbeziehung zwischen Land und Stadt, jüdischer und hellenistischer Kultur gerechnet werden.
Auch Uzi Leibners neues Buch bezieht sich auf Galiläa und behandelt die Siedlungsgeschichte in hellenistischer und römisch-byzantinischer Zeit.19 Die Studie basiert in erster Linie auf archäologischem Material, bezieht aber auch literarische Quellen mit ein. Der Hauptteil besteht aus der Analyse und Auswertung archäologischen Materials, das von 50 Siedlungen stammt. Für jede Siedlung werden auch griechische (für die Zeit des Zweiten Tempels) und rabbinische Quellen (hauptsächlich aus palästinischen Werken) herangezogen, soweit sie zur Verfügung stehen. Leibner geht davon aus, dass halakhische Texte konkrete historische Sachverhalte darstellen, eine Annahme, die neuere rabbinische Studien wi­-derlegen. 20 So behauptet er zum Beispiel, dass eine Erzählung in y. Meg. 3:1, 73d, derzufolge Leute aus Migdal R. Shimon b. Laqish fragten, ob sie Steine einer zerfallenen Synagoge benutzen könnten, zeigt, dass in der zweiten Hälfte des 3. Jh.s n. Chr. eine Synagogenruine in Migdal vorhanden gewesen sei, obwohl keine archäologischen Hin­weise auf ein solches Gebäude existieren (230).
Aufgrund der archäologischen Funde kommt Leibner zu dem Ergebnis, dass das untersuchte Gebiet hauptsächlich vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 3. Jh. n. Chr. besiedelt gewesen sei, während in der spätrömisch-byzantinischen Zeit ein starkes Gefälle an Siedlungen zu verzeichnen sei (311). In der spätrömisch-byzantinischen Zeit scheinen starke Veränderungen in Galiläa stattgefunden zu haben, die zum Verlust zahlreicher Siedlungen führten. Einige jüdische Siedlungen scheinen in byzantinischer Zeit in christliche Siedlungen umgewandelt worden zu sein. Leibner rechnet deshalb mit demographischen Veränderungen in Galiläa, die insbesondere im 4. Jh. stattfanden und für den Verfall der jüdischen Siedlungen verantwortlich gewesen sein können. Leibner zufolge könne außerdem die von einigen Historikern angenommene Wirtschaftskrise des Römischen Reichs im 3. und 4. Jh. für den Siedlungsschwund in Galiläa verantwortlich gewesen sein. Seine Studie steht damit in deutlichem Kontrast zum Bild eines blühenden Judentums im Galiläa der früh-byzantinischem Zeit, welches hauptsächlich auf dem Synagogenbefund beruht. Die Ergebnisse lassen viele Fragen offen, die erst nach weiteren archäologischen und historischen Un­tersuchungen geklärt werden können.
Demographie und Siedlungsgeschichte gehören zu den Themen, die in »The Oxford Handbook of Jewish Daily Life in Roman Palestine« behandelt werden.21 Da das vor etwa 100 Jahren erschienene Werk »Talmudische Archäologie« von Samuel Krauss methodisch und quellenmäßig veraltet ist, werden hier neue Foschungsüberblicke zu 34 Themen gegeben, die das jüdische Alltagsleben betreffen. Die Autoren der Beiträge ziehen die neuesten archäolo­gischen Quellen zu Rate und untersuchen die literarischen Quellen aus einem historisch-kritischen Blickwinkel. Damit bietet der Band einen Überblick über die gesamte Themenbreite sowie Einführungen in spezifische Bereiche des Alltagslebens. Die Hinweise auf offene Fragen sollen zukünftige Forscher dazu animieren, sich mit den entsprechenden Themen auseinanderzusetzen und die Erforschung des antiken jüdischen Alltagslebens fortzusetzen.
Spezifische Bereiche des Alltagslebens werden auch in einigen neueren Lexika und Monographien behandelt. Hier ist Tal Ilans »Lexicon of Jewish Names in Late Antiquity« zu nennen, welches sich zum Ziel gesetzt hat, in insgesamt vier Bänden eine Be­standsaufnahme aller literarischen, epigraphischen und papyrologischen Quellen, in denen Juden namentlich genannt werden, zu bieten.22 Bisher liegen der Band zu jüdischen Namen in palästi­nischen Quellen (330 v. Chr. bis 200 n. Chr.) und der Band zu jü­-dischen Namen in der westlichen Diaspora (330 v. Chr. bis 650 n. Chr.) vor. Dabei ist auffällig, aber nicht überraschend, dass Namen biblischen Ursprungs in Palästina weitaus häufiger gebraucht wurden als in der Diaspora, wo griechische und römische Namen überwiegen. Dieser Befund mag zumindest teilweise auf die Art der jeweiligen Quellen zurückzuführen sein: Rabbinische Quellen sind in ihrem Gebrauch hebräischer Namen nicht notwendigerweise repräsentativ für die jüdische Namensgebung in Palästina; in griechisch-römischen Quellen mögen ursprünglich hebräische Na­men gelegentlich verändert worden sein. Nichtsdestoweniger bieten die Bände interessantes Material für das Studium der antiken jüdischen Namensgebung, sowohl was bestimmte Namen be­trifft als auch im Hinblick auf statistische Untersuchungen.
Die Sklaverei ist ein Bereich, der in der gesamten Antike von großer Bedeutung war, aber für das Judentum lange Zeit nicht systematisch untersucht worden ist. Mit meiner Monographie zum Thema »Jewish Slavery in Antiquity« liegt erstmals eine auf dem gesamten zur Verfügung stehenden Quellenmaterial beruhende Studie zur antiken jüdischen Sklaverei vor.23 Besonders aus der rabbinischen Literatur geht hervor, dass die Sklaverei auch im antiken Judentum der nachexilischen, hellenistischen und römisch-by­zantinischen Zeit eine alltägliche Erfahrung war. Juden wurden von Römern versklavt und hielten auch selbst Sklaven. Dabei scheinen Sklaven in der Spätantike auch von jüdischen Familien zu­meist im Haus statt in der Landwirtschaft eingesetzt worden zu sein. In der Untersuchung werden sowohl Ähnlichkeiten als auch charakteristische Unterschiede zwischen der jüdischen und der griechisch-römischen Gesellschaft hinsichtlich der Bedeutung und Rolle von Sklaven herausgearbeitet.
David Kraemer hat antike jüdische Essensgewohnheiten und rabbinische Neuerungen hinsichtlich der Speiseregeln untersucht.24 Dabei geht er von einem kulturgeschichtlichen Ansatz aus, der Essensgewohnheiten als Ausdruck der jeweiligen Identität von Gruppen und Individuen versteht. Während kein bestimmtes »jüdisches« Essen identifizierbar ist, handelt es sich immer um »a ›negotiation‹, that is, a struggle … over where the boundaries of Jewish identity should be laid« (5). Das rabbinische Verbot, milchige und fleischige Speisen zu vermischen, ist als Neuerung anzusehen, welche wohl auf symbolischen Assoziationen und dem sozialen Kontext beruhte, in dem Juden lebten. Kraemer zufolge wurden Barbaren mit dem Essen von Fleisch und gleichzeitigem Trinken von Milch assoziiert. Mit der Trennung zwischen diesen Speisen wollten Rabbinen sich und ihre jüdischen Zeitgenossen möglicherweise von Barbaren distanzieren.
Sowohl Kraemers als auch Hezsers Untersuchung zeigen, wie weit Juden in das antike hellenistische und römische Alltagsleben integriert waren, sich aber gleichzeitig in bestimmten Einstellungen und Verhaltensweisen von Griechen und Römern unterschie­den.



5. Neuere Untersuchungen zum rabbinischen Judentum
in seiner Umwelt


In den letzten Jahren sind auch eine Reihe neuerer Untersuchungen zu bestimmten Aspekten der rabbinischen Gesellschaft er­schienen. Ein sich dabei abzeichnender Trend ist eine Betrachtung der Rabbinen im weiteren Kontext des palästinischen Judentums und der römischen Provinzkultur. Dabei hat sich Stuart Miller ausschließlich auf die Analyse der nicht sehr aufschlussreichen rabbinischen Hinweise auf die sog. »commoners« beschränkt, während Seth Schwartz das (rabbinische) Judentum konsequent als Teil der römischen und mediterranen Kultur versteht.
Miller untersucht insbesondere solche Texte des Talmud Yeru­shalmi, die sich auf die sog. Zippora’ei (Leute von Sepphoris), Tibera’ei (Leute von Tiberias) und Deroma’ei (Leute im Süden, insbesondere Lyddas) beziehen.25 Aus der literarischen Analyse dieser Texte leitet er weitreichende sozialgeschichtliche Schlussfolgerungen ab, ein Vorgang, der methodisch nicht sehr überzeugend ist: Kann man den Einflussbereich der rabbinischen Bewegung und ihre Rolle innerhalb der jüdischen Gesellschaft allein aus der literarischen Verwendung einer bestimmten Terminologie ableiten, deren Bedeutung in den Texten meist nicht eindeutig zu bestimmen ist? Auch ist Millers Differenzierung zwischen Rabbinen und »commoners« nicht ganz einsichtig: Der »complex common Ju­daism« (ein Begriff, den Miller in Anlehnung an E. P. Sanders verwendet) wird als sich teilweise mit der rabbinischen Bewegung überschneidend dargestellt. So kommt Miller zufolge gerade den Mitgliedern rabbinischer Haushalte und Rabbinenschülern eine große Bedeutung in der Verbreitung und Überlieferung rabbinischer Traditionen zu. Die Untersuchung bestätigt die Hypothese der Insularität der Rabbinen (»The rabbis were largely speaking, studying, and teaching among themselves and their households«, ebd., 464), bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit.
Seth Schwartz’ kürzlich erschienenes (und nur 177 Textseiten umfassendes) Buch wird seinem Titel »Were the Jews a Mediterranean Society?« nicht ganz gerecht, da hier nur ein Aspekt des Verhältnisses der Juden zu ihrer Umwelt besprochen wird, nämlich die jeweiligen Einstellungen zur institutionalisierten Reziprozität bzw. zwischenmenschlichen Solidarität.26 Schwartz behauptet, dass bereits die Torah als Antithese zu den in der mediterranen Umwelt vorherrschenden Reziprozitätsverhältnissen anzusehen ist und eine »radically anti-Mediterranean vision of Israelite society« bietet (26). Die These, dass sich die antiken Juden in dieser Hinsicht von ihrer Umwelt unterschieden, wird in den folgenden drei Kapiteln, die Ben Sira, Josephus und der rabbinischen Literatur gewidmet sind, untermauert. Allerdings weisen die Texte eine Spannung zwischen Reziprozitäts- und Solidaritätsverhältnissen auf, welche angeblich auch im antiken Christentum zu finden ist.
Schwartz zufolge lehnten die Rabbinen der ersten vier Jahrhunderte römische Werte ab, mussten sich aber gleichzeitig an ihre Umwelt anpassen. All dieses wird sehr schematisch dargestellt und behauptet, wobei einige rabbinische Texte als Illustrationen der These herangezogen werden. In diesem Kontext wird aber nicht genügend zum Ausdruck gebracht, dass die Rabbinen gleichzeitig Rechtssätze und Fallgeschichten formulierten, die dem römischen Recht sehr ähnelten. Der Autor behauptet außerdem, dass eine große Kluft zwischen den Werten der Rabbinen und denen der jüdischen Bevölkerung bestand, welche die Rabbinen teilweise durch Aufnahme römischer Praktiken für sich zu gewinnen suchten. Typisch rö­mische Reziprozitätsverhältnisse wie der Euergetismus waren den Rabbinen gleichgültig – nicht aber denjenigen Juden, die in den Synagogeninschriften verewigt sind.
Bei der Konstruierung einer Antithese zwischen dem biblischen und rabbinischen Judentum einerseits und der mediterranen und römischen Umwelt sowie der nicht-rabbinischen jüdischen Bevölkerung andererseits wird inner-rabbinischen Reziprozitätsverhältnissen wie etwa dem Patronat (zwischen dem jüdischen Patriarchen und seinen rabbinischen Anhängern, zwischen Rabbinen und ihren Schülern) und der Freundschaft zwischen Kollegen nicht genügend Beachtung geschenkt. Der angebliche Kontrast zwischen dem Ideal biblischer und rabbinischer Solidarität und den (real existierenden) mediterranen und römischer Reziprozitätsverhältnissen ist hier zu stark gezeichnet und wird der Komplexität der antiken jüdischen Texte und dem jüdischen Alltagsleben nicht wirklich gerecht.
Auch bei Marc Hirshmans kürzlich erschienenem Buch handelt es sich um einen sehr schmalen Band (120 Textseiten), der allerdings einen großen Titel trägt, nämlich »The Stabilization of Rabbinic Culture, 100 C. E. – 350 C. E.«. Erst dessen Untertitel »Texts on Education and Their Late Antique Context« lässt das eigentliche Thema erkennen: die Besprechung einiger rabbinischer Texte zum Thema der jüdischen Erziehung in der Spätantike.27 Dabei bewegt sich die Argumentation im Kreis: Hirshman geht der Frage nach, wie eine relative kleine Gruppe von palästinischen und babylonischen Rabbinen eine »thriving national and educational culture« begründen und aufrechterhalten konnte (V). In diesem Kontext wird bereits am Anfang davon ausgegangen, dass eine weitreichende jüdische »Erziehungskultur« im 2. bis 4. Jh. existierte und dass sie von den Rabbinen bestimmt wurde. Hirshman zufolge ist in den Texten eine Entwicklung zu erkennen, die von der Idealisierung des mündlichen Studiums im frühen palästinischen Mid­rasch bis zur Institutionalisierung des Unterrichts im sasanidischen Babylonien reichte. Der Hauptteil dieses Buches, welches wie auch Schwartz’ Buch an einen größeren, auch Laien umfassenden Leserkreis gerichtet ist, besteht in der Übersetzung und Interpretation einiger rabbinischer Texte zum Thema Erziehung.
Devora Steinmetz’ neues Buch zum rabbinischen Kriminalrecht ist (mit nur 116 Textseiten) ebenfalls recht enttäuschend.28 Obwohl in der Einführung ein kulturgeschichtlicher Ansatz propagiert wird, beschränkt sich diese Studie auf die Analyse von ein paar Texten des Babylonischen Talmuds (insbesondere b. Mak. 23b–24a). Die Ergebnisse sind entweder so einleuchtend, dass sie trivial erscheinen, oder sie sind unklar formuliert. Weder das römische noch das sasanidische Strafrecht werden als Vergleichsmaterial herangezogen. Ein kulturgeschichtlicher Ansatz müsste aber den persischen Kontext des babylonischen Talmuds zur Kenntnis nehmen und die talmudischen Texte auf diesem Hintergrund zu verstehen suchen. Auch der angeblich wichtige rechts- und moralphilosophische Kon­text wird nicht weiter beleuchtet. Insofern ist dieses Buch methodisch keineswegs innovativ zu nennen.



6. Jüdische Identität, Christentum und Paganismus


Die wohl interessantesten neuen Untersuchungen zum antiken Judentum beschäftigen sich mit Fragen der jüdischen Identität sowie dem Verhältnis des Judentums zur griechisch-römischen Gesellschaft, zum Christentum und zum Paganismus. Avi Avidov untersucht in seinem neuen Buch mit Hilfe von soziologischen Marginalitätstheorien die ambivalente Stellung der Juden, die so­wohl Teil der römischen Gesellschaft als auch Außenseiter derselben waren.29 Er glaubt, dass die sog. »jüdische Frage«, d. h. die Frage der Integration der Juden in die Gesellschaft der Umwelt, schon in der Antike aktuell war, auch wenn sie erst im Europa des 19. Jh.s öffentlich diskutiert worden ist. Juden blieben innerhalb des römischen Reichs »marginal«, da sie als Konsequenz der Aufstände ge­gen Rom nicht am öffentlichen politischen, kulturellen und kultischen Leben der Römer mit seinen jeweiligen Institutionen partizipieren konnten.
Nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels wurde das Hohepriesteramt abgeschafft, welches als einziges jüdisches Führungsamt von Rom anerkannt war. In Titus’ Triumphmarsch in Rom wurden sodann die Symbole der jüdischen Religion denunziert und der jüdische Kult für illegitim erklärt. In den folgenden Jahrhunderten blieb die Stellung der Rabbinen (und Patriarchen) in­nerhalb der römischen Gesellschaft marginal, da sie von Rom nicht offiziell anerkannt und unterstützt wurden. Zeichen der Marginalität der Juden waren ihre unsichere Stellung in Rom, Ausschluss von politischen Ämtern, soziales Außenseitertum, antijüdische Polemik inklusive Vorwürfen des Atheismus und Fremdenhasses vonseiten der Römer. Die Kehrseite der Marginalität waren die Privilegien, die den Juden Palästinas und der Diaspora gelegentlich gewährt wurden, insbesondere die Befreiung vom Kaiserkult und die Befolgung der Torah. Man könnte in diesem Zusam­menhang auch die innerjüdische rabbinische Rechtsprechung erwähnen.
Die Gewährung dieser Privilegien war für die Römer unbedeutend und bestätigte nur die generelle Marginalisierung der Juden, für die Geschichte und Geschichtsschreibung nach 70 sinnlos wurden. Avidov beschäftigt sich aber nicht weiter mit den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten, sondern untersucht das Ende der Zeit des Zweiten Tempels, als die Juden angeblich noch integraler Bestandteil der hellenistischen und römischen Gesellschaft waren, als positiven Hintergrund von dem sich die Zeit nach 70 abhob. Man fragt sich allerdings, ob dieser Wandel nicht überbetont wird, da Aspekte wie antijüdische Polemik, Ab­hängigkeit des Hohepriesters und Herrschers (z. B. Herodes) von Rom und Befreiung vom Kaiserkult ja auch vor dem Jahre 70 schon bestanden. Auch wird die Bedeutung des Bar Kochba Aufstandes nicht in die Darstellung mit einbezogen und entsprechend untersucht.
Die Frage der Marginalität bzw. Normativität der Rabbinen nach 70 wird auch in einem Teil der Beiträge des von Lee I. Levine und Daniel R. Schwartz herausgegebenen Sammelbandes mit dem Titel »Jewish Identities in Antiquity« behandelt.30 Der noch vor einigen Jahrzehnten vorherrschende Konsens, dass die Rabbinen eine Führungsposition im Judentum der ersten Jahrhunderte in­nehatten, ist in den letzten Jahren zunehmend infrage gestellt worden. Man geht heutzutage von einer viel größeren Vielfalt auch innerhalb des Judentums nach der Tempelzerstörung aus, wie schon Isaiah M. Gafni in der Einleitung dieses Teils betont. Allerdings muss versucht werden, eigene Identitätsfragen auszuklammern und die Vergangenheit nicht im Licht einer (post)modernen pluralistischen jüdischen Gesellschaft zu sehen.
Inwieweit der Einfluss der Rabbinen auf ihre Zeitgenossen aus der rabbinischen Literatur selbst zu erheben ist, wie Ze’ev und Chanah Safrai versuchen aufzuzeigen, ist zweifelhaft. Sie gehen davon aus, dass die rabbinische Literatur nicht nur die Perspektive der Rabbinen zum Ausdruck bringt, sondern ein komplexes Bild zeichnet, das der Realität entspricht. So wird die Auseinandersetzung der Rabbinen mit den »Frommen« sowie mit Charismatikern, Nasiräern und Esoterikern nicht verschwiegen; sie deutet auf eine begrenzte Überzeugungskraft der Rabbinen zumindest in Teilen der jüdischen Gesellschaft hin. Andererseits verweisen angeblich archäologische Funde wie die rituellen Bäder auf eine weitreichende Beobachtung rabbinischer Reinheitsvorschriften innerhalb der Bevölkerung. Rabbinische Diskussionen um die Erleichterung be­stimmter Vorschriften zeigen eine Flexibilität im Umgang mit der Öffentlichkeit. Die Autoren schlagen vor, zwischen der Observanz der religiösen Elite und der jüdischen Allgemeinheit zu unterscheiden: »The public never carried out the full stringent demands of the religious elite« (183). Die rabbinischen Regeln sind insofern als Ideal zu verstehen, das der Öffentlichkeit vorgehalten wurde, und sollten nicht mit dem gewöhnliches Verhalten der Juden ihrer Zeit gleichgesetzt werden.
Jüdische Religiosität nach 70 kann nicht einfach mit rabbinischer Observanz identifiziert werden. David Levine schlägt in seinem Beitrag vor, Hinweise auf religiöses Verhalten von Nicht-Rabbinen wie Bar Kokhba als Analogie bzw. Vergleichsmaterial zu rabbinischen Diskussionen zu sehen statt als Bestätigung einer allgemeinen Observanz rabbinischer Vorschriften. Die rabbinische Literatur kann nicht als Kontext für das Verständnis des gesamten palästinischen Judentums der ersten Jahrhunderte dienen.
Bestimmte Symbole und Bilder können in ihren jeweils verschiedenen Kontexten (z. B. Vögel, Trompeten und Helios in Synagogenmosaiken, der hebräischen Bibel und der rabbinischen Literatur) unterschiedlich verstanden worden sein. Diese Unterschiede gilt es herauszuarbeiten, statt sie miteinander zu harmonisieren und im Lichte der rabbinischen Literatur zu interpretieren. Die Behauptung eines radikalen Unterschieds zwischen den Rabbinen und dem »Volk«, d. h. ein binäres Modell, wie es in der Vergangenheit von E. Goodenough vertreten wurde, ist gleichermaßen unangebracht. Das Verhältnis zwischen rabbinischer und nicht-rabbinischer Religiosität wird viel komplexer gewesen sein, als es gemeinhin dargestellt wird, und muss im Kontext der weiteren griechisch-römischen und nahöstlichen Gesellschaft verstanden werden.
Auch die künstlerische und literarische Repräsentation der Vergangenheit kann als Ausdruck der jeweiligen Identität einer Gruppe gelten. In den Beiträgen eines von Gregg Gardner und Kevin L. Osterloh herausgegebenen Konferenzbandes werden verschiedene Aspekte dieses Themas genauer untersucht.31 Doron Mendels weist darauf hin, dass die Frage, warum die Rabbinen keine Ge­schichtsschreibung betrieben haben, falsch gestellt sein mag: Die antike Geschichtsschreibung war das Gebiet einiger weniger Spezialisten, während die meisten Intellektuellen sich nicht sonderlich für die Vergangenheit interessierten. Dennoch haben die Rabbinen auf verschiedene Art und Weise auf die Vergangenheit Bezug ge­nommen, etwa indem sie biblische Ereignisse und Gestalten rekapitulierten und sie sich für ihre eigenen Anliegen zunutze machten. Wie Peter Schäfer in seinem Beitrag zeigt, dient zum Beispiel die rabbinische Diskussion über Sachverhalte, die verschiedene Tempelpriester betreffen, letztendlich dazu, die Vollmacht der Rabbinen über deren ehemalige Bereiche (wie z. B. die rituelle Reinheit) auszudrücken. Nach Lee Levine kann das Erscheinen jüdischer Symbole (z. B. Menorah, Schaubrottisch, Weihrauchschüssel, Lulav und Etrog) in der spätantiken jüdischen Kunst als Ausdruck kollektiver Erinnerung an die kultische Tradition der Vergangenheit dienen.
Wie schwierig es ist, die Grenzen zwischer Judentum und Um­welt, spezifisch »jüdischer« Identität und »nichtjüdischen« oder »paganen« Praktiken und Verhaltensweisen zu bestimmen, wird in Emmanuel Friedheims Untersuchung deutlich.32 Mit dieser Studie, die nicht nur literarisches, sondern auch epigraphisches und archäologisches Material miteinbezieht, wird Saul Liebermanns Arbeit zum Verhältnis zwischen Judentum und Hellenismus vom rein philologischen auf den weiteren kulturellen Bereich ausgeweitet. Friedheim betont die bleibende Vitalität der paganen Kulte in der Alltagskultur der Spätantike. Er rechnet sogar damit, dass Juden an ihnen partizipierten und dies durchaus mit ihrer jüdischen Identität vereinbaren konnten. Nur so ist die rabbinische Polemik gegen Idolatrie zu verstehen. Friedheims Tendenz, wie Goodenough zwischen einem synkretistischen volkstümlichen Ju­dentum und den »orthodoxen« Rabbinen zu unterscheiden, fehlt allerdings die Überzeugungskraft. Auch unter den Rabbinen wird es Unterschiede bezüglich ihrer Einstellung zu den religiösen Praktiken der Umwelt gegeben haben. Viele Bereiche der paganen Kultur im spätrömisch-byzantinischen Palästina sind auch wegen der Quellenlage noch unerforscht.
Interessant ist in dieser Hinsicht auch das neue Buch von Rivka Ulmer, welches zum Teil auf früher veröffentlichten Aufsätzen beruht und Anspielungen auf die ägyptische Kultur im Midrasch untersucht.33 Die rabbinische Kenntnis und Bezugnahme auf ägyptische »Kultur-Ikonen« wie Isis und Osiris, Kleopatra, be­stimmte Pharaonen, den Nil und ägyptische Feiertage mag – so Ulmer – mit dem allgemeinen römischen Interesse an Ägypten und der ägyptischen Kultur zusammenhängen. Manche Rabbinen werden Ägypten nur vom Hörensagen gekannt haben, während an­-dere Ägypten besucht oder ägyptisch(-jüdisch)e Bekannte oder Ge­schäftspartner gehabt haben mögen. Im Midrasch wird Ägypten insbesondere im Zusammenhang mit der Exodustradition behandelt. Dort erscheint es meist als negative Antithese zum Land Israel, als Paradigma der Diasporaexistenz. Die hermeneutische Bezug­nahme auf Ägypten diente deshalb der rabbinischen Formulierung spezifisch jüdischer Identität.
Besondere Beachtung hat in den letzten Jahren das Verhältnis zwischen dem antiken Judentum und Christentum gefunden. Da­niel Boyarin, Seth Schwartz, Israel Yuval und Peter Schäfer haben versucht, die traditionelle Verhältnisbestimmung, die das Chris­tentum als solches und viele Aspekte desselben aus dem Ju­dentum herleitet, umzukehren. Daniel Boyarin hat behauptet, dass sich in frühbyzantinischer Zeit – als Reaktion auf christliche Entwicklungen – eine rabbinische »Orthodoxie« mit »aposto­lischer« Sukzession und Logostheologie herausgebildet hat.34 Seth Schwartz sieht die Entwicklung der spätantiken Synagoge als religiöses Zentrum der Ortsgemeinde als Reaktion auf und in Analogie zu den Kirchenbauten im Palästina der frühbyzantinischen Zeit.35 Israel Yuval und Peter Schäfer gehen davon aus, dass die Rabbinen viel mehr vom Christentum wussten, als bisher angenommen wurde, und sich sowohl explizit als auch implizit und gewöhnlich polemisch mit christliche Behauptungen und Lehren auseinandersetzten.36
Die von diesen Forschern eingeschlagene neue Richtung wird besonders im Titel von Peter Schäfers neuem Buch »Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums« deutlich, welches auf Gastvorlesungen, die der Autor an der Universität Jena gehalten hat, basiert.37 Während heutzutage jeder Theologiestudent weiß, dass die Entstehung des Christentums nicht ohne die Kenntnis des antiken Judentums verstanden werden kann, ist man sich erst neuerdings bewusst, dass auch die Entwicklung des rabbinischen Ju­dentums in der Auseinandersetzung mit dem sich vom Judentum ablösenden Christentum gesehen werden muss.
Schäfer geht in den fünf Kapiteln seines Buches den Spuren und Rückwirkungen dieser Auseinandersetzung im rabbinischen Ju­dentum nach. Ausgangspunkt sind jeweils bestimmte rabbinische Texte, die in ihrem weiteren kultur- und religionsgeschichtlichen Zusammenhang dargestellt werden. Dabei sind die Bezüge zum Christentum nicht offensichtlich und eindeutig festzustellen. Sie sind vielmehr auf komplizierte Art und Weise aus möglichen Anspielungen und Analogien zu erschließen. Die hier vorgestellten Texte handeln vom Messiaskind, von Auseinandersetzungen mit minim (Dissidenten und Häretikern) bezüglich der Anzahl der Götter und vom Sühneleiden als Teil der Messiasvorstellung. Schäfer zufolge unterstreicht die Tatsache, dass die rabbinischen Autoren und Tradenten dieser Texte die jeweiligen Vorstellungen oft vehement ablehnten und gegen sie polemisierten, gerade ihre Bedeutung und Brisanz im Judentum ihrer Zeit. Neben der Polemik wird aber auch die rabbinische Aufnahme bestimmter vom Christentum betonter biblischer Gedanken deutlich. So sprechen homiletische Texte des (ins 6. oder 7. Jh. datierten) Midrasch Pesiqta Rabbati ganz unbefangen vom leidenden Messias Efraim.
Selbst wenn man die jeweiligen Texte als Anspielungen und Reaktionen auf christliche Lehren versteht, mag man sich allerdings fragen, wie repräsentativ sie im (rabbinischen) Judentum waren. Kann man davon ausgehen, dass die meisten Juden/Rabbinen der ersten fünf Jahrhunderte eine weitreichende Kenntnis der christlichen Lehren hatten und an der Auseinandersetzung mit dem Christentum interessiert waren? Oder gab es chronolo­gische, geographische und individuelle Unterschiede? Ähnlich ungewiss ist auch die Aufnahme dieser Texte unter den Adressaten, d. h. Rabbinen späterer Generationen. Die späteren Tradenten und Redaktoren der Texte können das christliche Element betont oder heruntergespielt haben. Basierten die rabbinischen Diskurse auf realen Ge­sprächen mit Vertretern der christlichen Position oder bezogen sich die Rabbinen auf Gerüchte und eigene Vorstellungen vom Christentum? Schäfers Buch mit dem provozierenden Titel leitet zur weiteren Auseinandersetzung mit diesen Themen an.
Adiel Schremer zufolge sahen sich die Rabbinen in erster Linie mit der römischen Herrschaft konfrontiert, während das Christentum in ihren Überlegungen nur eine relativ unbedeutende Rolle spielte.38 Die römische Herrschaft stellte angeblich die größte Konkurrenz zum Alleinherrschaftsanspruch Gottes dar und war deshalb für die Rabbinen so gefährlich. Schremer lehnt Versuche ab, das rabbinische Judentum in der »Matrix« des Christentums zu sehen, da er diesen Ansatz als »Christianisierung« des rabbinischen Judentums versteht: »Rather than allowing rabbinic Judaism to stand on its own – and thus offer a different perspective that, potentially, can enrich the dominant culture’s perceptions and views – they paint rabbinic Judaism with Christian colors and ›colonize‹ it« (X).
Schremer schlägt stattdessen vor, den rabbinischen Diskurs als Antwort auf eine Identitätskrise im palästinischen Judentum zu verstehen, die durch die militärischen und politischen Niederlagen gegen Rom verursacht wurde. In Folge der fortdauernden Konfrontation mit der römischen Herrschaft entwickelten die Rabbinen einen »separatistischen« Diskurs, in dem verschiedene jüdische Gruppen als minim klassifiziert und vom »wahren«, rabbinisch definierten Judentum ausgegrenzt wurden. Im Laufe der Zeit wurden auch die Christen als minim gesehen, aber sie waren keineswegs die wichtigste Gruppe, von der die Rabbinen sich differenzierten.
Der Autor untersucht im Hauptteil des Buches die verschiedenen Aspekte des rabbinischen minut-Diskurses, dessen Funktion er in der Herstellung sozialer Grenzen und der Bildung interner Solidarität sieht. Das Problem dieser Sichtweise ist allerdings, dass Rabbinen niemals als solidarische Gruppe auftreten, die sich von spezifischen »Anderen«, seien es Individuen oder Gruppen, distanzieren. Die rabbinischen Texte, die minim erwähnen, sind zu vielfältig und unspezifisch, um Schremers Theorie gerecht zu werden. Die existenzielle Krise und der angebliche Zweifel an der Macht Gottes, die der Autor als Ursache der rabbinischen Absonderung von minim sieht, lässt sich nur aus einigen dieser Texte eruieren, während der Rest ganz andere und zum Teil innerrabbinische Streitpunkte zum Ausdruck bringt. Die Rabbinen werden in Schremers Buch zu sehr als einheitliche Gruppe mit einheitlichen Vorstellungen, Handlungsweisen und Intentionen gesehen. Der sich an Walter Bauers Buch über Orthodoxie und Häresie im frühen Christentum anlehnende Ansatz bewirkt gerade das, was Schremer in seiner Einleitung ablehnt: die Sicht des Judentums in den Kate­gorien des Christentums, während die sozialen Unterschiede zwischen den Rabbinen und der sich formierenden institutionellen Kirche nicht genügend wahrgenommen werden.



7. Schlussfolgerung


Während einerseits weiterhin text- und literarkritisch gearbeitet werden muss, um quellenkritische Texteditionen rabbinischer Werke herzustellen, muss andererseits verstärkt interdisziplinär vorgegangen werden, um die rabbinische Kultur im Rahmen ihrer griechisch-römischen und sasanidisch-persischen Umwelt zu verstehen.
Die rabbinische Kultur kann nur dann angemessen verstanden werden, wenn sie von verschiedenen Perspektiven aus untersucht wird. Weitere sozialgeschichtliche, anthropologische, feminis­tische, religionshistorische und rechtsgeschichtliche Studien sind notwendig, um die einzelnen Aspekte der rabbinischen Lehre und Gesellschaft besser zu erfassen und im Rahmen der (Litera­tur)ge- schichte des antiken Mittleren Ostens darstellen zu können. Nur wenn Judaisten, Althistoriker, Altphilologen, Archäologen, Epigraphiker, Rechtsgeschichtler, Religionswissenschaftler, Neutestamentler und Kirchenhistoriker zusammenarbeiten und ihre jeweiligen Fachkenntnisse einbringen, können interessante neue Ergebnisse erzielt werden, die von der Neuinterpretation bestimmter Texte bis zum Aufweis von Entwicklungen und Verbindungslinien reichen.

Fussnoten:

1) H.-J. Becker (Hrsg., in Zusammenarbeit mit C. Berner), Avot de-Rabbi Natan. Synoptische Edition beider Versionen, Tübingen 2006, von mir rezensiert in: Journal of Jewish Studies 58 (2007), 348–350. Die Genizafragmente wurden bereits veröffentlicht in: H.-J. Becker et al. (Hrsg.), Geniza-Fragmente zu Avot de-Rabbi Natan, TSAJ 103, Tübingen 2004.
2) D. Brodsky, A Bride Without a Blessing. A Study in the Redaction and Content of Massekhet Kallah and Its Gemara, Tübingen 2006, von mir rezensiert in Journal of Jewish Studies 60 (2009), 154–156.
3) Anisfeld, Rachel A.: Sustain Me With Raisin-Cakes. Pesikta deRav Kahana and the Popularization of Rabbinic Judaism. Leiden-Boston: Brill 2009. XII, 219 S. gr.8° = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 133. Lw. EUR 93,00. ISBN 978-90-04-15322-6.
4) S. Safrai/Z. Safrai/J. Schwartz/P. J. Tompson (Eds.), The Literature of the Sages, Second Part: Midrash and Targum, Liturgy, Poetry, Mysticism, Contracts, Inscriptions, Ancient Science and the Languages of Rabbinic Literature, CRINT II.3a, Assen 2006, von mir rezensiert in: The Expository Times 118 (2007), 570 f.
5) C. E. Fonrobert/M. S. Jaffee, The Cambridge Companion to the Talmud and Rabbinic Literature, Cambridge 2007.
6) A. Samely, Forms of Rabbinic Literature and Thought. An Introduction, Oxford 2007, von mir rezensiert in: Journal of Jewish Studies 59 (2008), 328 f.
7) C. Bakhos (Ed.), Current Trends in the Study of Midrash, Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 106, Leiden-Boston 2006.
8) Siehe z. B. Y. Elman, »Marriage and Marital Property in Rabbinic and Sasanian Law«, in: Rabbinic Law in its Roman and Near Eastern Context, ed. C. Hezser, Tübingen 2003, 227–276; idem, »Acculturation to Elite Persian Norms and Modes of Thought in the Babylonian Jewish Community of Late Antiquity«, in: Neti’ot Ledavid. Jubilee volume for David Weiss Halivni, ed. Y. Elman et al., Jerusalem 2004, 31–56; idem, »›He in His Cloak and She in Her Cloak‹: Conflicting Images of Sexuality in Sasanian Mesopotamia«, in: Discussing Cultural Influ­-ences: Text, Context, and Non-Text in Rabbinic Judaism, ed. R. Ulmer, Lanham 2007, 129–163.
9) D. M. Friedenberg, Sasanian Jewry and Its Culture. A Lexicon of Jewish and Related Seals, Urbana-Chicago 2009.
10) Oppenheimer, Aharon: Between Rome and Babylon. Studies in Jewish Leadership and Society. Ed. by N. Oppenheimer. Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XV, 499 S. m. Ktn. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 108. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-148514-5; Kalmin, Richard: Jewish Babylonia between Persia and Roman Palestine. Oxford: Oxford University Press 2006. XIV, 285 S. gr.8°. Lw. £ 40,00. ISBN 978-0-19-530619-4.
11) Siehe z. B. B. Dignas/E. Winter, Rome and Persia in Late Antiquity. Neighbours and Rivals, Cambridge 2007; H. Börm, Prokop und die Perser. Untersuchungen zu den römisch-sasanidischen Kontakten in der ausgehenden Spätantike, Stuttgart 2007.
12) Ein Sammelband zum Thema, The Talmud in its Iranian Context, hrsg. v. Carol Bakhos und M. Rahim Shayegan, ist bei Mohr Siebeck 2010 erschienenen.
13) S. J. D. Cohen, Why Aren’t Jewish Women Circumcised? Gender and Covenant in Judaism, Berkeley 2005.
14) T. Ilan et al. (Eds.), A Feminist Commentary on the Babylonian Talmud. Introduction and Studies, Tübingen 2007; Ilan, Tal: Massekhet Ta‘anit. Text, Translation, and Commentary. Tübingen: Mohr Siebeck 2008. X, 340 S. gr.8° = A Feminist Commentary on the Babylonian Talmud, II/9. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-149524-3; Valler, Shulamit: Massekhet Sukkah. Text, Translation, and Commentary. Tübingen: Mohr Siebeck 2009. X, 224 S. gr.8° = A Feminist Commentary on the Babylonian Talmud, II/6. Lw. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-150121-0.
15) S. Krauss, Talmudische Archäologie, 3 Bde., Leipzig 1910–1912 (Nachdruck Hildesheim 1966).
16) M. Goodman, Rome and Jerusalem. The Clash of Ancient Civilizations, London 2007.
17) Siehe dazu P. Schäfer (Ed.), The Talmud Yerushalmi and Graeco-Roman Culture, 3 Bde., Tübingen 1998–2002.
18) J. Zangenberg/D. B. Martin (Eds.), Religion, Ethnicity and Identity in Ancient Galilee. A Region in Transition, Tübingen 2007, von mir rezensiert in: Frankfurter Judaistische Beiträge 34 (2008), 204–208.
19) Leibner, Uzi: Settlement and History in Hellenistic, Roman, and Byzantine Galilee. An Archaeological Survey of the Eastern Galilee. Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XII, 471 S. m. Abb., Tab. u. Ktn. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 127. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-149871-8.
20) Siehe z. B. D. Steinmetz, Punishment and Freedom. The Rabbinic Construction of Criminal Law, Philadelphia 2008. Steinmetz betont den theoretischen Charakter des rabbinischen halakhischen Diskurses. Die halakhische Spekulation war »not constrained by practical considerations« und sollte als »imagined universe« gesehen werden (XI).
21) C. Hezser (Ed.), The Oxford Handbook of Jewish Daily Life in Roman Palestine, Oxford 2010.
22) T. Ilan, Lexicon of Jewish Names in Late Antiquity, Tübingen 2002 (Vol. 1) and 2008 (Vol. 3); vgl. meine Rezension dieser Bände in: JJS 61 (2010), 178 f.
23) C. Hezser, Jewish Slavery in Antiquity, Oxford 2005.
24) Kraemer, David C.: Jewish Eating and Identity Through the Ages. London-New York: Routledge 2007 (Kart.: 2009). XIII, 200 S. m. Abb. gr.8° = Routledge Advances in Sociology, 29. Kart. £ 23,99. ISBN 978-0-415-47640-9.
25) S. Miller, Sages and Commoners in Late Antique Erez Israel: A Philological Inquiry into Local Traditions in Talmud Yerushalmi, Tübingen 2006, von mir rezensiert in: Jahrbuch für Antike und Christentum 50 (2006), 220 ff.
26) Schwartz, Seth: Were the Jews a Mediterranean Society? Reciprocity and Solidarity in Ancient Judaism. Princeton-Oxford: Princeton University Press 2010. X, 212 S. gr.8°. Lw. £ 20,95. ISBN 978-0-691-14054-4.
27) Hirshman, Marc: The Stabilization of Rabbinic Culture, 100 C.E. – 350 C. E. Texts on Education and Their Late Antique Context. Oxford: Oxford University Press 2009. IX, 192 S. gr.8°. Lw. EUR 12,90. ISBN 978-0-19-538774-2. Die meisten Kapitel dieses Buches beruhen auf ursprünglich auf Hebräisch geschriebenen Beiträgen, die zwischen 2005 und 2007 in Konferenz- und Sammelbänden erschienen sind.
28) D. Steinmetz, Punishment and Freedom. The Rabbinic Construction of Criminal Law. Philadelphia 2008; vgl. meine ausführlichere Rezension des Buches in: JJS 61 (2010), 178..
29) Avidov, Avi: Not Reckoned among Nations. The Origins of the so-called »Jewish Question« in Roman Antiquity. Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XII, 226 S. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 128. Lw. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-150021-3.
30) Levine, Lee I., and Daniel R. Schwartz [Eds.]: Jewish Identities in Antiquity. Studies in Memory of Menahem Stern. Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XXV, 442 S. m. 1 Porträt u. Abb. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 130. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-150030-5.
31) Gardner, Gregg, and Kevin L. Osterloh [Eds.]: Antiquity in Anti­-quity. Jewish and Christian Pasts in the Greco-Roman World. Tübingen: Mohr Siebeck 2008. VIII, 475 S. m. Abb. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 123. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-149411-6.
32) E. Friedheim, Rabbinisme et Paganisme en Palestine romaine. Étude historique des Realia talmudiques (Ier–IVème siècles), Religions in the Graeco-Roman World 157, Leiden 2006. Bereits von mir rezensiert in Frankfurter Judaistische Beiträge 34 (2008), 201–204.
33) Ulmer, Rivka: Egyptian Cultural Icons in Midrash. Berlin-New York: de Gruyter 2009. VII, 405 S. u. 16 Taf. m. Abb. gr.8° = Studia Judaica, 52. Lw. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-022392-7.
34) D. Boyarin, Border Lines: The Partition of Judaeo-Christianity, Philadelphia 2004.
35) S. Schwartz, Imperialism and Jewish Society, 200 B. C. E. to 640 C. E., Princeton 2001.
36) I. J. Yuval, Two Nations in Your Womb. Perceptions of Jews and Chris­tians in Late Antiquity and the Middle Ages, Berkeley-Los Angeles 2006, von mir rezensiert in Journal of the American Academy of Religion 76 (2008), 202–205; P. Schäfer, Jesus in the Talmud, Princeton-Oxford 2007, von mir rezensiert in der Online-Zeitschrift Review of Biblical Literature vom 18.8.2007 (http://www. book­reviews.org/pdf/5783_6103.pdf).
37) Schäfer, Peter: Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Fünf Vorlesungen zur Entstehung des rabbinischen Judentums. Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XVII, 210 S. m. Abb. kl.8° = Tria Corda, 6. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-16-150256-9.
38) Schremer, Adiel: Brothers Estranged. Heresy, Christianity, and Jewish Identity in Late Antiquity. Oxford: Oxford University Press 2010. XXI, 272 S. gr.8°. Geb. £ 45,00. ISBN 978-0-19-538377-5.