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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

216-218

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zimmerling, Peter

Titel/Untertitel:

Charismatische Bewegungen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 293 S. 8° = UTB 3199. Kart. EUR 21,90. ISBN 978-3-525-03632-7 (Vandenhoeck & Ruprecht); 978-3-8252-3199-6 (UTB).

Rezensent:

Andrea Althoff

Wenn ein lutherischer Theologe und Professor für Praktische Theologie ein Buch über charismatische Bewegungen vorlegt, darf man eine systematisch-theologische, praktisch-theologische und konfessionskundliche Abhandlung erwarten und weniger eine kirchengeschichtliche oder religionssoziologische Einordnung des Phänomens. So verhält es sich auch bei dem von Peter Zimmerling veröffentlichten Werk.
Zusammen mit den Pfingstbewegungen stellen die charismatischen Bewegungen weltweit den am schnellsten wachsenden Zweig der Christenheit dar und bilden nach der römisch-katholischen Kirche die zweitgrößte Konfessionsfamilie. Dies und die Charakteristiken charismatischer Bewegungen – insbesondere ihre enthusiastische Form der Frömmigkeit, ihr pneumatischer Schwerpunkt auf dem Heiligen Geist und ihre Missionsbestrebungen – haben zu großen Kontroversen geführt. Es gibt also gute Gründe, sich mit dem Phänomen der charismatischen Bewegungen auseinanderzusetzen und – diese Aufgabe stellt sich Z. im Vorwort – die traditionellen Kirchen mitsamt ihrer Theologie zum Nachdenken und zur Horizonterweiterung zu bringen und gleichzeitig die Bewegungen vor fundamentalistischer Selbstabschließung zu bewahren. Wichtig ist ihm auch, die katholischen sowie protestantischen (innerkirchlichen wie außerkirchlichen) charismatischen Bewegungen zu beschreiben und ihre Situation stärker ins Bewusstsein der Amtskirchen zu rü-cken. Dabei stehen die innerkirchlichen Bewegungen im Zentrum seiner Analyse; sie werden von ihm positiv bewertet, vor allem weil sie sich loyal zu den traditionellen Kirchen verhalten und keine separatistischen Tendenzen entwickeln.
Das Buch ist in sechs Teile gegliedert. Nach einer kurzen Einleitung von vier Seiten folgt eine Standortbestimmung der charismatischen Bewegungen. Die übrigen Teile widmen sich der Geistestaufe, den Geistesgaben, dem charismatischen Gottesdienstverständnis, der charismatischen Spiritualität, der Seelsorge und den Konzepten des Gemeindeaufbaus. Ein Resümee fasst die wichtigsten Thesen zu­sammen. Der Anhang enthält einen 20 Seiten umfassenden, le­senswerten Forschungsrückblick, der neben wichtigen Persönlichkeiten und Chronisten der charismatischen Szene auf weiterführende wissenschaftlich-theologische Arbeiten aus Deutschland hinweist und das Verhältnis des Vatikans zur katholischen charismatischen Er­neuerung beschreibt.
Folgende Aspekte an dem Buch sind hervorzuheben. Dem Leser wird keine präzise religionshistorische oder theologische Einordnung des Phänomens charismatischer Bewegungen geboten. Vielmehr wird er von einer Informationsflut überschwemmt, die schwerlich zur Klärung beiträgt, was charismatische Bewegungen nun eigentlich auszeichnet. So wird nicht deutlich, was die Pfingstbewegung von charismatischen Bewegungen unterscheidet, welche Gemeinsamkeiten es gibt, inwieweit die charismatischen Bewegungen in der Tradition des deutschen Pietismus sowie den darauf folgenden Heiligungs- und Erweckungsbewegungen insbesondere des Methodismus stehen oder inwieweit sie sich unabhängig von diesen entwickelt haben. Auch wird der Leser vergeblich eine Antwort auf die Frage suchen, inwieweit charismatische Bewegungen evange­likalen, fundamentalistischen Strömungen nahestehen bzw. was Charismatiker von diesen unterscheidet (Stichwort: Post- und Prämillenarismus, Bibelliteralismus, Verbalinspiration). Einige inhaltliche Zuschreibungen mögen beim in­formierten Leser sogar Stirn runzeln hervorrufen, so etwa der Hinweis, dass charismatische Bewegungen mit ihrer pneumatologischen Ausrichtung einen Ge­gensatz zu traditionellen Kirchen bilden und dass für sie Trinitätslehre und Christologie nicht bedeutsam seien.
Positiv hervorzuheben sind einige wenige interessante religionssoziologische Befunde, die die Attraktivität charismatischer Bewegungen in westlichen Industriegesellschaften erklären helfen. So weist Z. auf den hohen Erlebnischarakter charismatischer Bewegungen hin, der mit der gesteigerten Erlebnissucht westlicher Gesellschaften korrespondiert. Auch der Hinweis, dass charismatische Bewegungen ein Gegengewicht zur Rationalität postmoderner Ge­sellschaften und zur Geistvergessenheit der traditionellen (besonders der Protestantischen) Kirchen bilden, hat Erklärungskraft.
Außerdem bietet das Buch für Nicht-Theologen und auch solchen, die in deutscher Kirchengeschichte nicht bewandert sind, keinerlei Hilfestellungen. Weder wird die Gemeinschaftsbewegung (16f.) beschrieben, noch werden Begriffe wie Skopus (93), Didache (110), Aszetik (250) oder der numinose Charakter der Prophetie (108), um nur einige Beispiele zu nennen, erklärt. Auch andere Verweise auf die evangelische Theologie, zum Beispiel CA XIV, S. 82, CA VII, 235, bleiben für Nicht-Eingeweihte kryptisch. Zahlreiche in den Text eingestreute lateinische Begriffe bedürften ebenfalls einer Erläuterung – vor allem, weil mit der Veröffentlichung in der UTB-Reihe der Eindruck erweckt wird, es handele sich um ein Lehrbuch. Meines Erachtens wird man den angestrebten Dialog mit charismatischen Bewegungen, die schließlich Laienbewegungen sind, nur dann erreichen, wenn man sich gegenüber dieser Rezipientengruppe einer Sprache bedient, die diese versteht. Davon aber ist das Buch vielerorts entfernt, ja, es scheint sogar in einigen Passagen ein paternalistischer Sprachduktus durch, der den Dialog mit charismatischen Bewegungen noch erschweren kann. So heißt es auf S. 90: »Solange eine charismatische Gruppe die Glossolalie als eine Gabe unter anderen betrachtet, ist gegen eine solche [Gebets-]Vorbereitung nichts einzuwenden.« Ein wesentlicher Grund für die allzu akademische Sprache ist vermutlich der Tatsache geschuldet, dass es sich bei der Veröffentlichung um Z.s Habilitationsschrift von 1999 handelt. Veränderungen der vorliegenden Auflage gegenüber der von 2002 sind marginal.
Dass das Werk seit 1999 nicht wesentlich überarbeitet worden ist, bedeutet leider auch: Das Buch ist nicht mehr aktuell. Ein Blick auf die verwendete Literatur zeigt, dass sich Z. in erster Linie mit den 1970er und 1980er Jahren befasst. Besonders deutlich wird dies bei der Verwendung des Dictionary of Pentecostal and Charismatic Movements, der in der Ausgabe von 1988 häufig von Z. bemüht wird. Seit 2002 liegt jedoch der weitaus umfassendere New International Dictionary vor. Angesichts der sich rasant verändernden Situation der charismatischen Bewegungen und der wachsenden Literatur über diese Bewegungen ist dies besonders bedauerlich.