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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

214-216

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Straßberger, Andres

Titel/Untertitel:

Johann Christoph Gottsched und die »philosophische« Predigt. Studien zur aufklärerischen Trans­formation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XVI, 646 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 151. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-150014-5.

Rezensent:

Malte van Spankeren

»Die Ausbildung einer neuen Gesamtanschauung von Predigt und Predigtamt ist im evangelischen Christentum stets das deutlichste Zeichen theologisch-kirchlichen Umbruchs.« (Emanuel Hirsch, Theologiegeschichte IV, 104) Angesichts dieser Einschätzung verwundert es, dass die Geschichte der protestantischen Homiletik im Zeitalter der Aufklärung immer noch zu großen Teilen eine terra incognita ist. Andres Straßberger hat mit seiner detaillierten und quellengesättigten, von K. Nowak angeregten Dissertation Gottsched und die »philosophische Predigt« den Kenntnisstand zur Ho­miletik im zweiten Viertel des 18. Jh.s nachhaltig erweitert, indem er die philosophische Predigt in ihren we­sentlichen theologiegeschichtlichen, literaturwissenschaftlichen und philosophiehistorischen Bezügen präzise kontextualisiert hat. Dabei hat S. zahlreiche Quellen, u. a. Lehrbücher, Rezensionen, Sozietätsreden, Universitätsprogramme und Zeitungsnotizen, aus­gewertet. Auf dieser Basis werden Gottsched, der maßgebliche »Theoretiker und Popularisator eines aufklärerischen Predigtverständnisses« (VII), und seine philosophische Predigt anhand von sieben Kapiteln chronologisch-problemorientiert präsentiert.
In der Einleitung (3–31) wird das leitende Forschungsinteresse benannt: S. hat sich zum Ziel gesetzt, »die Transformation der protestantischen Homiletik als Teil des theologischen Aufklärungsprozesses unter den Bedingungen des allgemeinen ›Strukturwandels der Öffentlichkeit‹ zu analysieren, und zwar in Konzentration auf Gottscheds Partizipation daran.« (9) Im anschließenden interdisziplinären Forschungsüberblick verweist S. auf die »marginale Rolle« (14), die Gottsched in den Forschungen zur Homiletikgeschichte bislang spielte.
Das erste, vorwiegend biographische Kapitel (33–116) beleuchtet zunächst Gottscheds affirmative Rezeption des philosophischen Wolffianismus während seiner Studienzeit. S. verweist auf den bislang unerforscht gebliebenen möglichen Einfluss, den der Poetikprofessor J. V. Pietsch auf Gottsched ausgeübt haben könnte (41–43). Detailliert spürt S. der Abwendung Gottscheds von der orthodoxen Theologie und seiner Hinwendung zur Leibniz-wolffianischen Philosophie nach, die für den jungen Gottsched »durchaus existentiellen Charakter« (60) besaß. Anschließend werden sein Aufstieg vom Magister zum Philosophieprofessor und seine Mitgliedschaft in der »Teutschübende[n] poetische[n] Gesellschaft« und in der »Teutsche[n] Rednergesellschaft« nachgezeichnet (77–84). Die von Gottsched herausgegebenen moralischen Wochenschriften (»Vernünftige Tadlerinnen«; »Der Biedermann«) werden in der Folge in den Blick genommen.
Bezüglich der Positionierung Gottscheds gegenüber der zeitgenössischen Theologie kommt S. zu dem wohlbegründeten und differenzierten Urteil: »Einerseits war Gottsched ohne Zweifel ein entschiedener Kritiker der Vorherrschaft orthodoxer Theologie, die für sich das Wahrheitsmonopol beanspruchte … Andererseits war seine Stellung erklärtermaßen religionsapologetisch eingestellt gegenüber materialistischen, atheistischen und deistischen Tendenzen der französischen und englischen Aufklärung« (98). Gegen die in der Forschung verbreitete Diastase in einen »öffentlichen« Gottsched, der nach Möglichkeit Konflikte zu vermeiden trachtete, und einen »privaten« Gottsched, der radikale Aufklärung betrieb, erklärt S. dieses Spannungsverhältnis vielmehr »als genuinen Ausdruck einer Zeit … in der noch neugierig-tastend … ein grenzenloses Vertrauen in die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft gesetzt wurde, ohne vollständig die Konsequenzen der Gedankenexperimente vorauszuberechnen.« (103) Bezüglich der religiösen Intentionen Gottscheds stellt S. fest: »Eine deistische Auflösung des Christentums entsprach deshalb zu keinem Zeitpunkt den Absichten Gottscheds, obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, daß seine Absichten unbeabsichtigt in diese Richtung wirkten.« (ebd.) Hernach wird Gottscheds philosophiehistorisches Wirken anhand seiner »Erste[n] Gründe der gesammten Weltweisheit« (1733/34), einer für die Popularisierung der Leibniz-wolffianischen Philosophie wegweisenden Schrift, näher charakterisiert (105–116).
Im zweiten Kapitel (117–286) analysiert S. ausführlich die philosophische Predigt, insbesondere anhand der »Ausführlichen Redekunst« (1736). Unter der philosophischen Predigt versteht S. »ein homiletikgeschichtliches Phänomen … das aus der Synthese von evangelischer Theologie und philosophischem Wolffianismus hervorgegangen ist« (10). Zunächst beleuchtet S. die homiletischen Frühschriften und zeigt, dass insbesondere die Frage nach dem decorum Gottsched vertiefte Einblicke in grundlegende rhetorisch-homiletische Zusammenhänge eröffnet hat (127 f.). Detailliert wird auf Gottscheds predigtreformerische Vorschläge ein­gegangen, de­ren Quintessenz lautet: »Bei einer Predigt sollte der Klarheit des Gedankens (res) der Vorzug vor dessen sprachlicher Einkleidung (verba) eingeräumt werden, und das decorum hatte darauf regulierend einzuwirken.« (130) Bemerkenswert ist hier vor allem die Affinität zwischen der von Gottsched akzentuierten »rhetorisch-emotionale[n] Empfindsamkeit« und der pietistischen »Rhe­torik des Herzens« (138). S. zeigt weiter, wie Luthers Predigtweise Gottsched in legitimatorischer Absicht für eigene Reformvorhaben diente, als ein »Ideal[] homiletischer Beredsamkeit in or­thodoxiekritischer Ab­sicht.« (183) Sodann zeichnet S. u. a. Gottscheds Rezeption christlich antiker homiletischer Vorbilder, speziell der Kirchenväter sowie der homiletischen Überlegungen der französischen Klassik nach (198–213). Im Anschluss untersucht S. Gottscheds »Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen« (1740). Dieses erste »Predigtlehrbuch der homiletischen Aufklärung« (235) wird ausführlich analysiert, insbesondere unter Berücksichtigung des zentralen Erbauungsbegriffs. Gegen­über pietistischer und orthodoxer Homiletik forderte Gottsched darin eine Predigtweise ein, die gleichermaßen Verstand und Wil­len der Zuhörer zu berücksichtigen und in souveränem Ge­brauch homiletischer Regeln ihre Erbauung zum Ziel habe. Ein bemerkenswerter Ausblick in die Rezeption dieser Schrift, u. a. bei J. M. Goeze und beim katholischen Prediger R. Graser wird an­schließend eröffnet (260–286).
Das dritte Kapitel untersucht die Popularisierung der philosophischen Predigt durch ihre wesentlichen Akteure (287–377). Dabei werden vor allem die »Deutsche Gesellschaft« in Leipzig, inklusive einiger ihrer Filialgründungen (289–305), die Gottschedischen Rednergesellschaften (305–329) sowie die »Gesellschaft der Wahrheitsfreunde« (329–377) in den Blick genommen. Hier wird nachgezeichnet, wie Gottscheds Predigtideal breitenwirksam popularisiert wurde und welche Rolle dabei J. G. Reinbeck und E. Chr. v. Manteuffel spielten.
Im vierten Kapitel (379–481) bietet S. einen spannenden Einblick in den kirchenpolitischen Konflikt um Gottscheds Predigtprogramm. Besondere Bedeutung kam dabei dem Verhör Gottscheds vor dem Dresdener Oberkonsistorium 1737 zu. Zentraler Streitpunkt war die Frage nach der Legitimität des Ausgreifens einer wolffianisch geprägten Philosophie in die Homiletik, für die Gottscheds »Ausführliche Redekunst« paradigmatisch stand. Höhepunkt war die Forderung nach einem Verbot der philosophischen Predigt, dem allerdings seitens Friedrich Wilhelm I. nicht entsprochen wurde. Anschließend wird auf die Kritik Hallischer (u. a. J. Lange) und Göttinger (u. a. J. Oporin) Theologen an der philosophischen Predigt, zumal am zugrunde gelegten Erbauungsbegriff, ausführlich eingegangen (430–481).
Das fünfte Kapitel (483–533) nimmt die Krise der philosophischen Predigt in den Blick. Zunächst werden die Einwände G. F. Meiers und dessen Alternativkonzept einer ästhetischen Predigt vorgestellt (493–518). Meiers Hauptkritikpunkt lautete: »Der philosophische Vortrag stellt die theologischen Wahrheiten nicht als homiletisch erbauliche Wahrheiten vor.« (501, Anm. 105) Anschließend werden die neuen Herausforderungen, welche aus der Konzeption der moralischen Predigt (besonders J. J. Spalding) erwuchsen, be­nannt. Hier dürften künftige Forschungen noch weitere wichtige Erkenntnisse liefern.
Auf diesen rezeptionsgeschichtlichen Überblick folgt als letzter Teil dieser mit dem Hanns-Lilje-Preis 2008 ausgezeichneten Dissertation ein resümierendes Schlusskapitel, das die Erkenntnisse bündelt (535–550). Nicht zuletzt diese Ausführungen zeigen, dass S. die terra incognita der Homiletik im Aufklärungszeitalter innovativ vermessen und gewinnbringend neu bestellt hat.