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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

204-208

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Mandry, Christof

Titel/Untertitel:

Europa als Wertegemeinschaft. Eine theologisch-ethische Studie zum politischen Selbstverständnis der Europäischen Union.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos 2009. 269 S. gr.8° = Denkart Europa, 9. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-8329-4615-9.

Rezensent:

Christian Polke

»Ach, Europa«, so lautete vor einiger Zeit der Titel eines Bandes des vielleicht bedeutendsten deutschen Philosophen unserer Tage. Die darin geäußerte Diagnose: Von Europa könne man gegenwärtig allenfalls im Tonfall eines Seufzers sprechen. Doch immerhin, es wird noch über Europa geredet, und das seit Neuestem sogar in der Theologie.
Der Erfurter katholische Theologe Christof Mandry hat sich in seiner Habilitationsschrift mit einem ganz bestimmten Diskurs über Europa befasst, nämlich den Debatten über eine künftige EU-Verfassung als Suchbewegungen hin zu einer auch politischen Identität Europas. Und um es gleich vorweg zu sagen, M.s Studie ist mustergültig. Nicht nur, aber auch, weil sie es bewusst vermeidet, wissenschaftliche Expertise mit tagespolitischer Meinung kurz­-zuschließen. In den auf weiten Strecken ebenso brillanten wie präzisen Ausführungen analysiert M. den Begriff der »Wertegemeinschaft«, deutet ihn als Ausdruck des europäischen Selbstverständigungsprozesses und untersucht ihn auch auf seine ethische Va­lidität (vgl. 19). Dazu dienen ihm maßgeblich die Dokumente aus dem Verfassungsprozess selbst. Aber auch die sich zunehmend verdichtende Praxis europäischer Rechtsprechung wird nicht ausgespart. So wird er dem Fakt gerecht, dass sich politische Selbstverständigung immer auch in Recht und in dessen Anwendung verwandelt bzw. umgekehrt darin überhaupt erst konkret wird. Zur Analyse der verschiedenen Phasen des Verfassungsentwurfs zieht M. diskursanalytische Methoden heran. Das hat den ungemeinen Vorteil, dass die vielschichtigen Semantiken von Begriffen wie »Werte«, »Normen«, (politische) »Prinzipien« nicht einfach deklariert werden, sondern über ihre pragmatische Verwendung ge­-nauer bestimmt werden. Doch liegt M. sehr daran, dies von vornherein in seine ethisch-theologische Ausgangsfrage zu integrieren, der es um das Verhältnis von Werten und Normen mit Blick auf die Identität politischer Gebilde geht. So verliert die Untersuchung nicht ihre eigentliche Zuspitzung, die in die Skizze einer Ethik der Wertegemeinschaft mündet. Damit ist im Wesentlichen auch schon der Aufbau des Buches skizziert.
Nach einer Einleitung zu Aufgabe und Ziel der Arbeit (13–22) widmet sich M. zunächst der Frage der Möglichkeit einer Theologischen Ethik des Politischen, und zwar im Kontext zeitgenössischer katholischer Ansätze (23–48). Danach folgen umfangreiche Analysen »der Aussageweisen, Aussagegehalte, der Kontexte und Funktionen« (49), wie sie auf Mikroebene im Verfassungskonvent über eine künftige Verfassung für Europa stattfanden sowie die breitere Debatte um den Vertrag von Lissabon prägten (49–101). Das Ergebnis lässt sich wie folgt zusammenfassen: »Die Vorstellung der EU als ›Wertegemeinschaft‹ umfasst zum einen den Blick der politischen Subjekte auf sich selbst: Sie sehen ihre Gemeinschaft auf gemeinsame ›Werte‹ gegründet. Sie umfasst zum anderen einen Anspruch an die EU als politische Körperschaft: Sie soll diese Wertebasis in ihrer institutionellen Gestalt wie in ihrem Handeln widerspiegeln.« (98) Ist demnach für M. die Frage nach der Wertegemeinschaft zutiefst verbunden mit der Möglichkeit der Herausbildung einer europäischen Identität, so wird im nächsten Kapitel (103–125) die Wichtigkeit der Unterscheidung von kultureller und politischer Identität herausgestellt. Andernfalls käme man in Gefahr, die historische Vielfalt und den gewachsenen Pluralismus zu verleugnen.
So stellten die EU-Verfassungsväter in ihrem Rekurs auf die »politischen Werte« der Union primär die Menschen als Bürger (im Sinne politischer Subjekte) in den Mittelpunkt. Freilich zeigt gerade das Beispiel der Union zugleich die notwendige Spannung zwischen beiden Identitätsformen, worauf insbesondere die (vor-politische?) Verwiesenheit der politischen Identitätsbestimmung auf ein etwaiges, kulturelles Selbstverständnis Europas verweist. In dieser Rückbindung unterscheidet sich denn auch das europäische Einigungsprojekt wesentlich von dem der Vereinten Nationen. Hinzu kommt, dass politische wie kulturelle Identitäten stets Konstruktionen sind, die sich »jeweiligen Reflexivität und Diskursivität« (124) verdanken.
Das fünfte Kapitel (127–143) stellt eine Art Zwischenreflexion dar. Es widmet sich der problematischen Rolle, die der Begriff der Werte in der Rechtstheorie einnimmt. In gebotener Kürze werden hier die Positionen u. a. von R. Alexy, J. Habermas und E.-W. Böckenförde referiert. M. bleibt skeptisch gegenüber Ansätzen, die das Konzept der Wertegemeinschaft durch dasjenige der Rechtsgemeinschaft ersetzen wollen, wie etwa R. Spaemann. Abgesehen davon, dass damit keine zwingende Alternative beschrieben werden muss, bezeichnet Letztere doch eher den »nüchtern-bürokratischen As­pekt der europäischen Einigung« und bleibt dabei »im Grundsatz unpolitisch« (142). Wird dergestalt an Konzept und Bedeutung von Werten und Wertungen festgehalten, so ist zu fragen, welche Rolle ihnen bei der Ausbildung und Artikulation (politischer) Identität zukommt. Dies erfolgt bei M. in einem weiteren Schritt (Kapitel 6: 145–183). Unter Rekurs auf die Sozialphilosophie von Ch. Taylor versteht er die Debatten um europäische Werte nicht nur als Antwortversuche auf die Frage, wie wir als Gemeinschaft gut zusammen leben wollen. Mehr noch zeigt sich, dass Werte Abbreviaturen von (kollektiven) Erfahrungen und darin gespeicherten Sinndeutungen sind, die den Zusammenhang zwischen menschlichem Handeln und unserer Identität als Personen und Gemeinschaften aufzeigen.
So betrachtet kann das leidliche Gegeneinanderausspielen von wertorientierten, scheinbar subjektiven und normorientierten, strikt objektivistischen Ansätzen in der Ethik überwunden werden, da Normen und Werte unterschiedlichen Reflexionsebenen zugehören. Darauf verweist sowohl der sanktionierende, deontologische Status der einen wie der auf »ethische Imagination« des Guten zielende Status der anderen Größe. »Norm- und Wertsprechen [es müsste m. E.: ›-sprachen‹ heißen, Anm. C. P.] liegen eng beieinander, denn die Werte, die für eine Person oder Gemeinschaft wichtig sind, können auch in normativ-sollensethischer Sprache ausgedrückt werden.« (177) Der dafür notwendige Vorgang der Übersetzung meint aber weder Deduktion noch Ersetzung. Daher bleibt auch das Problem der Universalisierung von Werten und Normen kein unlösbares; vorausgesetzt, man achtet auf die verschiedenen Formen der Universalisierung. Normen »stellen als Regeln formuliert« so et­was wie »generalisierte Situationserwartungen« (179) dar, während die »Wert­universalisierung nicht den Charakter der Abstraktion, sondern eher der Konkretion [hat], insofern die im Wert abstrakt festgehaltene Wertvorstellung auf eine imaginierte Welt oder Gesellschaftsordnung bezogen wird.« (182) Die entscheidende Frage lautet demnach: Welchen Beitrag können und sollen so verstandene gemeinsame Werte des öffentlich Guten für eine politische Ethik spielen?
Damit sind wir bei M.s zentralem Anliegen, das er im siebten Kapitel (»Ethik der Wertegemeinschaft«; 185–230) verhandelt. Das Suchen nach einer gemeinsamen politischen Identität, wie es sich in der Rede von der EU als »Wertegemeinschaft« artikuliert, ist stets von dem Bemühen begleitet, das Gefühl von Solidarität unter den europäischen Mitgliedsstaaten und ihren Bürgern zu verfestigen. Dieser Prozess der Selbstverständigung ist dabei stets fragil und bedarf der permanenten Erneuerung. »Im Falle der EU wird wie im Brennglas deutlich, dass politische Identitäten in pluralen Kontexten ohne Identifikationsangebote, die in den Bereich der Überzeugungen hineinreichen, nicht auskommen, und dass sie des Diskurses und der Verständigung bedürfen. Genau an diesem Punkt wurde die Wertsemantik für die EU wichtig.« (189). Gerade weil der Bürger im europäischen Kontext zumeist nicht unmittelbar auf biographische Evidenzen zurückgreifen kann, bedarf es erhöhter Aufmerksamkeit auf solche Selbstverständigungspraktiken. Vor diesem Hintergrund identifiziert M. dann zunächst drei Ebenen von Werten (Wertangeboten) für die EU: Zunächst sind da die im engeren Sinne kulturellen Ressourcen. Denen folgen auf der zweiten Ebene politische Wertgrößen, wie sie etwa in den Grundrech ten zum Ausdruck kommen. Und schließlich gilt es noch, die metaethischen Werte wie Toleranz und Antidiskriminierung, zu berücksichtigen. Letztere »haben alle mit Differenzen zu tun und zielen auf den richtigen Umgang mit ihnen« (194). Daran lässt sich die Frage anschließen, inwiefern die als universal verstandenen und beanspruchten Wertgrößen die Basis für eine partikulare po­-litische Identität bilden können. Dabei wird allerdings oft übersehen, dass es eine entscheidende Differenz zwischen »universal gültig« und »universal verbreitet« (199) gibt. Zwar können universale Werte weder standortenthoben noch standpunktlos be­hauptet, geschweige denn eingefordert werden. Doch geht dabei der universale Anspruch, der mit diesen Werten verbunden ist, nicht verlus­tig. So gelten sie in diesem Sinne zunächst einmal für die EU selbst, und zwar innerhalb der eigenen Grenzen. Dann aber auch mit Blick auf ihre Außenbeziehungen. Und selbst »jede internationale Ini­-tiative zur weiteren Verbreitung und Umsetzung eines Menschenrechtsethos muss in einzelnen Schritten vor sich gehen – also sektoral-partikular. Kurz zusammengefasst können universale Werte nur von partikularen Akteuren übernommen und für ihr partikulares Handeln verbindlich gemacht werden.« (199 f.)
Mit alledem zeigt sich, wie sehr Wertbindungen wie politische Gebilde aufgrund ihrer Fragilität der stetigen Stabilisierung be­dürfen. In diesem Zusammenhang kommt M. auf den Stellenwert von Religion in der Öffentlichkeit zu sprechen. Insofern der hier thematisierte Diskurs von grundlegenden Wert- und Sinnoptionen gelingenden Zusammenlebens handelt, steht der Artikulation religiöser Überzeugungen nichts im Wege. Denn weder muss man dazu ein anspruchsvolles, aber problematisches Übersetzungsmodell in Anspruch nehmen, wie bei Habermas, noch bedarf es dazu jener Bürden der Vernunft, welche allgemeine Zustimmung, selbst hinsichtlich von Begründungen vorsieht. »Die Identitätsdebatte als eine Wertedebatte führen ist somit als eine Selbstbeschränkung zu verstehen« (213), es geht um intermediäre Größen mit konkretem Bezug auf den politischen Diskurs. Nun wird klar, warum M. seine Ausführungen in eine »Ethik des Führens von Wertedebatten« (218) münden lässt (218 ff.). Denn die so beschriebenen Wertediskurse bedürfen einer metaethischen Begleitung, die sich nicht mit materialen Werten beschäftigt, sondern sich ebenso sehr den Chancen und Grenzen solcher Debatten widmet und auch die institutionellen Rahmen, die dabei in Anspruch genommen werden müssen, nicht vernachlässigt. Dazu zählen nicht nur Parlamente, sondern europäische Gerichtshöfe und professionalisierte Politikberatung. Insofern theologische So­zialethik (dazu auch die Schlussbemerkungen, 231–239) die Pflicht hat, »über Religion und Politik in einem sich gegenwärtig rasch wandelnden pluralen Kontext« weiter nachzudenken (227), und angesichts der Tatsache, dass die großen christlichen Kirchen nach wie vor gewichtige Organisationen in den europäischen Zivilgesellschaften darstellen, kommt ihnen in gewisser Hinsicht die Pflicht zur ethischen Politikberatung zu. Menschenrechte und Demokratie sind dabei als echte Werthaltungen »in einen kohärenten Zusammenhang mit ihren Glaubensüberzeugungen zu bringen, d. h. eine Wertintegration vorzunehmen, dass diese politischen Werte ihnen als Ausdruck von Glaubensüberzeugungen erscheinen können« (234).
An dieser Stelle deutet sich im Übrigen ein in vielen Untersuchungen zur Thematik ungeklärtes Problem hinsichtlich der Bedeutungsdifferenz von Ausdrücken wie »Werte«, »Werteinstellungen«, »Werthaltungen« etc., an. Zwar sind Menschenrechte und Demokratie politische Werte. Doch kann man darüber hinaus eigentlich nur bei der Demokratie von einer Werthaltung sprechen, insofern zu ihr ein demokratisches Ethos als Werteinstellung von Bürgern gehört, sie also nicht in einer bestimmten Staatsstruktur aufgeht. Im Falle der Menschenrechte lässt sich eine ähnliche Differenzierung nur bedingt und jedenfalls auf anderem Wege durchführen.
M.s Untersuchung ist in der Dichte ihrer Ausführungen beeindruckend. Alle notwendigen Momente einer Ethik der Wertegemeinschaft werden verhandelt, mindestens aber in ihrer Reichweite skizziert. Mehr kann von einer Pionierarbeit wahrlich nicht verlangt werden. Differenzen zwischen Autor und Rezensenten liegen sicherlich in der Beschreibung ethisch-theologischer Aufgaben. Das mag sogar an konfessionellen Nuancierungen liegen. Jedenfalls bleiben für mich diejenigen Passagen des Buches im Vagen, in denen es beispielsweise um die Rolle der Kirchen als Anwälte des Christentums im europäischen Wertediskurs geht. Gerade weil M. so sehr betont, dass es ein theologisches Anliegen sein muss, »zu reflektieren, wie über christliche Werte und die Bedeutung des Christentums gesprochen wird« (236), hätte man hier stärker auf die institutionellen Verflechtungen eingehen können. Auch hätten der Arbeit – in gebotener Kürze – deutlichere Aussagen zur theologischen Dimension des Europagedankens gut getan.
Als Protestant kommt einem naturgemäß Troeltsch in den Sinn, aber eben auch Scheler. Und warum katholische Autoren so zu­rück­haltend mit der in dieser Hinsicht zwar ambivalenten, aber immerhin dezidierten Tradition päpstlicher Äußerungen sind, bleibt mir weiterhin unklar. Schließlich erhellt sich mir einfach nicht die Leistungsfähigkeit der auch diese Untersuchung leitende Differenz zwischen Strebens- und Sollensethik. Das kann hier nur noch erwähnt werden. Aber die Schwierigkeiten, die sich aus einer nicht präzisen Verhältnisbestimmung beider Dimensionen von Ethik ergeben, zeigen sich etwa an Stellen, wie dieser: Wenn M. behauptet, »Menschenwürde und die Orientierung an Menschenrechten … [haben] als übergeordnete Werte zu gelten«, und zwar dergestalt, dass sie die Zuordnung weiterer Werte normieren, dann bedarf diese – durchaus berechtigte – Hierarchisierung wiederum einer Begründung. Diese muss sich dann aber auf Sollens- wie auf Strebensethik beziehen, sie also übergreifen. Dazu scheint mir weder der dogmatische Re­kurs auf »Jesus Christus als dem eikon Gottes« (236) noch die bloße Orientierung an rechtlichen und politischen Vorgaben ausreichend.
Umso mehr Zustimmung verdient hingegen M.s Schlussplädoyer: »Für christliches Streben nach universaler Solidarität ist Europa dann keine Nebensache, sondern ein Ernstfall, nämlich insofern hier Grenzen abgebaut werden zugunsten eines Mehr an Solidarität, das zwar im globalen Maßstab nur als ein erster Schritt erscheint, aber erst einmal auch gelebt und politisch-institutionell realisiert sein will.« (239) Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.