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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

202-204

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Loo, Stephanie van de

Titel/Untertitel:

Versöhnungsarbeit. Kriterien – theolo­gischer Rahmen – Praxisperspektiven.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 418 S. m. Abb. gr.8° = Theologie und Frieden, 38. Geb. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-020717-2.

Rezensent:

Ralf K. Wüstenberg

Die in der friedensethisch einschlägigen Reihe erschienene Münsteraner Dissertation von Stephanie van de Loo ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Auffälliges Kennzeichen ist die Verbindung von guter Lesbarkeit, theologischer Analyse, interdisziplinärer An­schlussfähigkeit sowie ganz praktischer Hinweise auf Abläufe (und Störungen) in Versöhnungsprozessen. In manchem ist hier ein echtes Handbuch zur Versöhnungsarbeit gelungen, auf das kirchliche wie außerkirchliche Versöhnungsarbeit zurückgreifen kann.
L. erblickt selbst das Ziel ihrer Untersuchung nicht nur darin, einen möglichst präzisen theologischen Begriff von Versöhnung und Versöhnungsarbeit zu formulieren und die Ebenen Gott – Mensch und Mensch – Mensch zueinander in Beziehung zu setzen; der Begriff soll gleichzeitig dialogfähig sein für interdisziplinäre Diskurse der Friedensforschung sowie für »psychologische, poli­-tische, sozialwissenschaftliche und andere Annäherungen an die Versöhnungsthematik« (13). Dieser ambitionierten Zielsetzung entspricht eine mehrgliedrige Fragestellung, die in zwei großen Teilen (33–220; 221–399) abgehandelt wird. Es sind zunächst drei Frageperspektiven, in denen Versöhnungsprozesse und -arbeit be­leuchtet werden. In theologischer Perspektive wird nach Elementen zwischenmenschlicher Versöhnung zwischen Täter und Opfer gefragt: Welche Schritte muss ein Versöhnungsprozess umfassen? In einem zweiten Fragenkreis wird die Rolle Dritter in der Versöhnungsarbeit betrachtet. Schließlich wird gefragt: »Wie kann ein konkretes Projekt innerhalb des framework als Versöhnungsarbeit erfasst und qualifiziert werden? Welche Impulse ergeben sich aus der praktischen Versöhnungsarbeit für eine Fortschreibung des Rahmens?« (25)
Um der breit angelegten Zielsetzung gerecht zu werden, wendet L. ihre Fragestellungen (im Anschluss an Axel Heinrich) auf zwei Paradigmen an, nämlich das personale und das soziale. Versöhnung im personalen Paradigma wird als Heilung personaler Beziehungen und Wiederherstellung von Beziehungsfähigkeit verstanden. Hier wird am Personenkern, am Handlungssubjekt angesetzt. Im sozialen Paradigma wird von der Gesellschaft her nach der Situation von menschlicher Versöhnung und Unversöhntheit gefragt. In praktischer Anwendung eines solchen doppelparadigmatischen Ansatzes gliedert L. den Hauptabschnitt ihrer Untersuchung in zwei große Teile: »Versöhnungsarbeit nach dem personalen Paradigma« (33–220) und »Versöhnung nach dem sozialen Paradigma« (221–399).
Der erste große Teil nimmt seinen versöhnungstheologischen Ausgangspunkt im fundamentaltheologischen Ansatz Jürgen Wer­bicks, der Deutungsperspektiven und kriterielle Ansätze für eine theologische Analyse interpersonaler Versöhnungsprozesse liefern soll (33–60); in den folgenden Kapiteln wird nach Elementen und dem Vollzug der Versöhnung (61–114), der Rolle Dritter im Versöhnungsprozess (115–166) sowie nach den praktischen Folgen einer theologischen Analyse gefragt: Kenntnisreich und konstruktiv werden die Ergebnisse ins Gespräch mit Techniken der Mediation gebracht (169–220). Hier kommt L. zu dem Ergebnis, dass alle sechs Strukturmerkmale interpersonaler Versöhnungsprozesse in der Mediationspraxis vorkommen: die freiwillige Beteiligung, die Begegnung mit der Verletzung, die Verantwortungsübernahme, die wechselseitige Empathie, das Stellen der Schuldfrage, die um­kehrende Selbstdistanzierung des Täters (vgl. 100 und 198).
Jede Reflexionsstufe wird durch Leitgedanken exkursartig be­gleitet. Es wird pointiert hervorgehoben, worin ein Mehrwert in der Religiosität von Täter und Opfer (107 f.) sowie Dritter (135 f.) bestehen kann. Dieser Gedankenzusammenhang, der die Ergebnisse der Studie in den interdisziplinären Diskurs stellt, erscheint in der aktuellen Diskussion zum Beitrag der Religion in gesellschaftlichen Bezügen besonders interessant. »Ein religiöser Hintergrund mag zum Beispiel den Umgang mit Scheitern erleichtern, liturgische Räume eröffnen und Schritte im Versöhnungsprozess ermöglichen, die nach rein innerweltlicher Logik nicht unternommen würden.« (149–150) In jedem Fall wird man zu Recht fragen müssen, ob und wie bei der Suspendierung einer christlichen Verankerung die Versöhnungshoffnung noch adäquat formuliert werden kann.
Im zweiten Teil der Untersuchung tritt entsprechend dem an­gekündigten Paradigmenwechsel statt der interpersonalen die so­ziale Dimension der Versöhnung in den Mittelpunkt der Analyse. »Das soziale Paradigma nimmt seinen Ausgangspunkt bei der politischen bzw. gesellschaftlichen Wirklichkeit und fragt von der Gesellschaft und ihren Strukturen her nach Unversöhntheit und Prozessen ihrer Aufarbeitung.« (221) Exemplarisch konzentriert sich L. auf Versöhnungsprozesse in posttotalitären Gesellschaften, wobei die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission, die zwischen 1995 und 1998 öffentliche Anhörungen zum Unrecht der Apartheidära durchführte, sowie die Versuche der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien prominente Beispiele liefern. (Im Blick auf Bosnien-Herzegowina kann L. auf eigene Beobachtungen und Erfahrungen zurückgreifen.)
Zwar bemüht sich L., die Interdependenz von Sozialität und Personalität gerade am Versöhnungsbegriff durchzuhalten (die einzelne Geschichte von erlittenem Unrecht einer Person trägt sich – vermittelt durch das Forum z. B. einer Wahrheitskommission – in das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft ein); je mehr allerdings der enge Zusammenhang zwischen den beiden paradigmatischen Perspektiven akzentuiert wird (221–230), desto mehr stellt sich die Frage, welcher Erkenntnismehrwert beim methodischen Verfahren des Paradigmenwechsels zu erwarten ist.
Als Leitfragen des zweiten Teils dienen wieder diejenigen nach den Strukturmerkmalen und Vollzügen der Versöhnung (235–295), nach der Rolle Dritter auf sozialer Ebene (313–347) sowie konkreten Perspektiven aus der Praxis (357–400). Die Elemente sozialer Versöhnung erhebt L. wesentlich aus den genannten Beispielen politischer Vergangenheitsbewältigung und der dazugehörigen Literatur. Die Leistung liegt in der Bündelung und in dem Abgleich mit den Strukturmerkmalen und Vollzügen interpersonaler Versöhnung. Als Ergebnis werden elf Prozesselemente der sozialen Versöhnung unterschieden, nämlich »1. die freie Entscheidung, 2. in­tersubjektive Begegnung mit den Taten unter Berücksichtigung der faktischen und gesellschaftlichen Wahrheitsdimension, 3. Entschuldigung als empathische Anerkennung der Opferperspektive, 4. umkehrende Selbstdistanzierung der Täterseite, 5. Verstehen der Täterperspek­tive, 6. individuelle und kollektive Verantwortungsübernahme, 7. das Stellen der Schuldfrage, 7. Sicherung rechtlicher Maßstäbe mit einer Verurteilung der Taten, 8. individuelle und kollektive, materielle und symbolische ›Wiedergutmachung‹, 10. Bilden einer ge­meinsamen Erinnerung, 11. Zeichen … und Erinnerungsmale.« (288) Im Vergleich zu den sechs oben genannten Strukturmerkmalen interpersonaler Versöhnung wird als Erkenntnisgewinn festgehalten, dass einerseits soziale Versöhnungsprozesse »durch die Zahl der notwendigen Elemente weitaus fester umrissen« scheinen als im interpersonalen Bereich (289). Versöhnung würde aber deshalb nicht leichter. Im Gegenteil – so das insgesamt nachdenkliche und sicher zutreffende Urteil: »Wenn sich schon in­terpersonale Versöhnung als ungeheuer facettenreich, komplex, kaum lenkbar und in vielen Fällen in ihrer Fülle als utopisch erwiesen hat, um wie viel komplexer, undurchsichtiger und unerreichbarer erscheint dann Versöhnung auf gesellschaftlicher Ebene?« (295)