Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

200-202

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Im Auftrag d. Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft u. d. Katholischen So­-zialwissenschaftlichen Zentralstelle hrsg. v. A. Rauscher in Verbindung m. J. Althammer, W. Bergsdorf, O. Deppenheuer.

Titel/Untertitel:

Handbuch der Katholischen Soziallehre.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2008. XXIV, 1129 S. gr.8°. Lw. EUR 78,00. ISBN 978-3-428-12473-2.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Der Band bietet eine Übersicht über Standpunkte der heutigen katholischen Soziallehre. Er enthält 81 Beiträge von 65 Autoren, die aus der katholischen Theologie selbst, aber auch aus anderen Disziplinen stammen, und ist in 14 Kapitel gegliedert. Zunächst wird 1. das »personale Fundament der Katholischen Soziallehre«, danach werden 2. ihre »Grundlinien« angesprochen. Wichtig sind dabei die klassischen vier Leitbegriffe: Person-, Subsidiaritäts-, Solidaritäts- und Gemeinwohlprinzip. Es folgt ein kleines, nicht mitgezähltes Sonderkapitel mit zwei »Exkursen« über die evangelische Sozialethik (verfasst von W. Härle) und – äußerst knapp – zur Orthodoxie. Ohne Begründung bleibt freilich, warum sozialethische Gesichtspunkte der Altkatholiken oder des Anglikanismus, nichtchristlicher Religionen oder nachchristlich-säkularer Weltanschauungen ausgespart sind.
Die nachfolgenden Kapitel betreffen 3. Ehe und Familie, 4. Bio­-ethik/Lebensschutz, 5. Umwelt, 6. Arbeit, 7. Eigentum, 8. die Wirtschaftsordnung, 9. soziale Sicherung, 10. politische Ordnung, 11. Demokratie, 12. Kirche und Staat – hier geht es im Kern um das traditionelle Staatskirchenrecht, aber nicht um ein am heutigen Pluralismus orientiertes Religions- und Weltanschauungsverfassungsrecht –, 13. internationale Ordnung und 14. Entwicklungszusammenarbeit. Hiermit wird ein beeindruckend breites Themenfeld abgedeckt. Klassische Themen der katholischen Morallehre (Ehe, Sexualität, Lebensschutz, Embryonenschutz, Sterbehilfe) sind dabei in die Soziallehre integriert worden – ein Indiz dafür, dass die herkömmliche katholische Binnendifferenzierung zwischen Morallehre und Soziallehre auch in eigener katholischer Einschätzung an ihre Grenzen gestoßen ist?
Zur ökologischen Ethik wird die Nachhaltigkeit zur Geltung gebracht. Die aktuellen Herausforderungen der Tierschutzethik aufgrund des wieder ansteigenden Tierverbrauchs und die Option der Substitution von Tierexperimenten u. a. durch humane Zellkulturen oder die Kontroverse zu Patenten an Tieren bleiben unerörtert. Zu den Themen Familie, Eigentum, Politik, Staat usw. enthält das Buch differenzierte und lesenswerte Grundlagen- und Problemanalysen. Dabei treten krasse Gegensätze zutage: einerseits das Insistieren auf dem klassischen katholischen Bild der Frau als Ehefrau und Mutter ( J. Liminski, 286 f.) und die Kritik an der staatlichen Ehegesetzgebung, konkret etwa an der Einführung des Zerrüttungsprinzips bei Ehescheidungen im Jahr 1977 (E. Schockenhoff, 307); andererseits realitätsorientierte, soziologisch fundierte Analysen zu heutigen Lebensformen – auch mit kritischen Anmerkungen zur mangelnden Ganztagsbetreuung von Kindern –, wobei die herkömmliche katholisch-lehramtliche Ehelehre zum Teil in­direkt, teilweise explizit infrage gestellt wird (F.-X. Kaufmann, 257–272).
In zahlreichen Passagen des Handbuchs zeigt sich, dass der römisch-katholischen Soziallehre daran liegt, mithilfe des Begriffs der Menschenwürde und der vier Sozialprinzipien zu modernen sozialethischen Argumentationsstandards aufzuschließen. Dass zwischen religiöser, kirchlicher Moral einerseits und staatlicher Rechtsordnung andererseits kategorial zu unterscheiden ist, wird von ihr inzwischen akzeptiert; und es wird zugestanden, dass die Menschenwürde, die Menschenrechte und die Religionsfreiheit katholischerseits erst mit sehr großer Verspätung anerkannt wurden ( E. Schockenhoff, 62; R. Uertz, 784; U. Nothelle-Wildfeuer, 160 f.; J. Isensee, 755). Die katholische Soziallehre hat sich im 20. Jh. auch erst spät von statisch-berufsständischen Wirtschafts- und Sozialmodellen getrennt, um danach die soziale Marktwirtschaft zu akzeptieren (A. Rauscher, 544 ff.).
Zum gegenwärtigen Stand der katholischen Soziallehre vermittelt der Band den Eindruck der Unsicherheit und Spaltung. Zwar sind Öffnungen erkennbar – auch dadurch, dass utilitaris­tisches Denken nicht nur negativ-abschätzig kommentiert wird (M. Schramm, 219 ff.) oder eine Relevanz der Diskursethik bejaht wird (J. Höhn, 203 ff.). Dennoch bleibt es in aller Regel dabei, Grundsatzpositionen und materialethische Einzelurteile lehramtspositivistisch unter Rückgriff auf offizielle amtskirchliche Vorgaben vorzutragen. Zudem wird ein universaler überzeitlich-ontologischer Naturrechtsanspruch erhoben. Auf dieser letzteren Linie liegt es, die religiös-weltanschaulich pluralistische Demokratie als Verfallserscheinung, nämlich als Ausdruck eines nicht hinnehmbaren Relativismus abzuwerten (z. B. M. Graulich, 790 ff.) oder zu bioethischen Problemen des Lebensendes und Lebensanfangs die Position des Lehramtes zu wiederholen (M. Spieker, 367 ff.372 ff.): »eindeutiges« Verbot der Beendigung künstlicher Ernährung beim lang andauernden apallischen Syndrom, Kritik an Selbstbestimmung durch Patientenverfügungen, Verbot der assistierten Reproduktion oder der humanen embryonalen Stammzellforschung. Dies findet seine Zuspitzung in der These, durch die staatlichen Gesetze zur embryonalen Stammzellforschung, die ja vom rö­misch-katholischen Standpunkt abweichen, werde »die Legitimität der rechtsstaatlichen Demokratie in Frage« gestellt (378). Man könne zu diesem Thema inhaltlich »nur [!] zu dem Ergebnis kommen« (376), das von der katholischen Seite vorgetragen wird. Hier wird erkennbar, dass Vertreter der katholischen Soziallehre die heutige Vielfalt ethischer Urteilsfindungen und rechtsstaatliche Kompromisse noch immer nicht wirklich hinnehmen. Vielmehr wird politisch-rechtlich für den eigenen naturrechtlichen Standpunkt eine universale Geltung beansprucht, obwohl es sich faktisch nur um eine partikulare Perspektive neben anderen handelt. Hierzu be­steht zweifellos Klärungsbedarf.
Gesondert zu diskutierende Akzente, die gleichfalls nicht un­problematisch sind, setzt ein Mitherausgeber des Handbuchs, der Jurist O. Depenheuer. Er bejaht die weltanschauliche Neutralität des Staates (942 ff.). Im Übrigen habe die katholische Kirche selbst ihre frühere Lehre von der potestas directa überwunden und wolle nicht mehr direkt auf den Staat durchgreifen (951). Andererseits hält Depenheuer es für statthaft und geboten, dass der Staat einzelne staatstragende Religionen bevorzugt, weil die staatliche Neutralitätspflicht nur die Abwehrdimension der Religionsfreiheit, nicht aber ihre Förderdimension betreffe (944 f.). Innerkirchlich besitze die katholische Kirche gegenüber ihren Gläubigen nach wie vor eine direkte Weisungsbefugnis (953), so dass sie auf diesem Umweg dann doch auf Staat und Gesellschaft einwirke. Depenheuers Satz »Gegenüber der Lehre seiner Kirche verfügt der Christ über keine Freiheit« (953; ähnlich schroff Mückl, 82.87) ist von Protestanten oder, in sinngemäßer Abwandlung, von Angehörigen anderer Religionen zweifellos nicht nachvollziehbar. Hier zeigen sich fortbestehende katholische kirchliche Machtansprüche im Sinn des Klerikalismusproblems; und es öffnen sich tiefe interkonfessio­nelle und interreligiöse Gräben. Der Band bietet interessanten Diskussionsstoff noch zu Weiterem, z. B. zu Problemen der innerkirchlichen Geltung von Grundrechten und des kirchlichen Ar­beitsrechts. Er ist informationsreich und dokumentiert zugleich binnenkatholische Spannungen sowie die Distanz, die noch immer oder jetzt sogar erneut zwischen katholischem und außerkatholischem Denken besteht.