Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

196-198

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wandruszka, Boris

Titel/Untertitel:

Philosophie des Leidens. Zur Seinsstruktur des pathischen Lebens.

Verlag:

Freiburg-München: Alber 2009. 456 S. 8° = Phänomenologie. Kontexte, 20. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-495-48373-2.

Rezensent:

Jochen Schmidt

Diese Eichstätter philosophische Promotionsschrift des Facharztes für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Boris Wandruszka stellt den Versuch dar, Leiden in seinen existenzialen Grundstrukturen aufzudecken (2). Dem Band soll eine »Metaphysik des Leidens« folgen, in der W. u. a. ankündigt, die Theodizee­frage zu lösen (436). Bereits im Jahr 2004 erschien von W. eine ebenfalls in diesen Themenkomplex gehörende Monographie mit dem Titel »Logik des Leidens: Phänomenologisch-tiefenanalytische Studie zur Grundstruktur des Leidens mit ihren Auswirkungen auf die Gestaltung der therapeutischen Beziehung«.
Leiden wird in der nun vorgelegten Arbeit definiert als »der reaktiv-antwortende und damit reaktiv synthetische Akt eines individualen oder kollektiven Subjekts im Angesicht einer kollisiv-erlittenen, darum hemmenden, im Augenblick des Erleidens und Leidens nicht integrierbaren, ›fremden‹, in diesem Sinne ›störenden‹, aber doch vom Subjekt zu integrierenden (oder loszuwerden) bestrebten Wirklichkeit, dem so genannten ›Leid‹ oder ›Übel‹.« (165) Die »Hauptmethode«, derer sich W.s Philosophie des Leidens be­dient, ist »die phänomenologisch-reduktive Analyse« (45), welche von der »undifferenzierten Ganzheitsgestalt« über eine direkte und positiv evidente Struktureinsicht zu einer Reduktion des Phänomens Leiden auf dessen seinsstrukturellen und da­mit seinsim­ma­nenten Vorbedingungen vorzudringen strebt (45 f.); dieser Me­thode entspricht die Gliederung der Arbeit (17) in die drei Abschnitte »Innerhalb der Grenzen des Phänomenalen« (20–227), »Auf der Grenze des Phänomenalen« (229–419), »Jenseits des Phänomenalen« (421–439). W. sieht dabei eine »echte, d. h. intuitiv und methodisch-diskursiv begründete, kritisch gesicherte, systematisch-gegenstandsgerechte, allgemein verbindliche und rational nachprüfbare Wissenschaft vom Leiden« als möglich an (66).
W.s Philosophie des Leidens ist anspruchsvoll. Er schont weder sich noch seine Leserinnen und Leser. In erkenntnistheoretischer Hinsicht weit ausgreifende Darlegungen gehen mit einer rück­haltlosen Konkretheit im Persönlichen einher; W.s Philosophie des Leidens ist motiviert durch das eigene Leiden (vor allem 14 ff.), und alle wesentlichen Strukturzusammenhänge des Leidens sollen durch das »Leidensexempel« bzw. »Exemplarbeispiel« (83.100.102. 116 f.), als welches W. sich selbst präsentiert, »beglaubigt werden« (88).
Während die zunächst von der eigenen Lebenserfahrung ausgehende Besinnung auf das Leiden keinesfalls in einer privatisierenden Rede verharrt, sondern vernehmlich nach phänomenologisch zu gewinnenden, allgemein gültigen Aussagen strebt, trägt die Philosophie des Leidens, wie zu erwarten ist, je schwerer an der Begründungslast, je weiter sie wiederum über die Grenzen des Phänomenalen hinauszudringen sucht. So fällt denn auch der dritte Abschnitt »Jenseits des Phänomenalen« eher knapp aus, während im zweiten Abschnitt »Auf der Grenze des Phänomenalen« Überlegungen und Beobachtungen zum Leiden vorgetragen werden, die sehr viel Material bieten, darunter zweifellos auch viel Erhellendes, jedoch die ›Grenzwertigkeit‹ der in den Blick genommenen Aspekte des Leidens zuweilen nur mit einer gewissen Mühe aufzuzeigen vermögen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn behauptet wird, dass jedes Leiden in einem den Leidenden wesenhaft transzendierenden Seinszusammenhang stünde, da die Bedingungen der Möglichkeit je bestimmter Gestalten von Leiden wie etwa Schwäche oder Fehlbarkeit »Widerfahrnis« seien (381), oder dass »die unreligiösen Menschen« sich »einem Amor fati oder der verzweifelten Resignation« überließen und hierdurch neues Sein erzeugten und neuen Sinn eröffneten, weil sie sich einer »höheren Macht, einer Gnade oder einem Schicksalsgesetz« öffneten (405).
Die Erwartung an das Sinnpotential des Leidens ist überhaupt durchgehend sehr hoch. W. greift Meister Eckharts Diktum auf, Leiden erweise sich als »das schnellste Pferd auf dem Wege zu Gott«, und stellt schließlich fest, Leiden könne zu »einem der größten Erzieher des Menschengeschlechts werden, dessen Ziel die Heimkehr in den Urgrund des vollkommenen Seins ist. Ob wir allerdings dieses Pferd besteigen oder gekränkt oder verbittert in den Stall stellen, liegt allein an uns, da kann auch ein Gott nichts erzwingen« (407). Es liegt, so W., in der Hand des letztlich immer zumindest residual freien Subjekts (vgl. 424), ob der Geburtsprozess des Leidens »zu Wachstum und Reifung oder zu Beschädigung, Zerstörung und verhärteter Verbitterung« führe (168, vgl. 405 f.). Der Sinn des Leidens erscheint hier als der eines freiwillig um einer lebendigeren Wirklichkeit willen übernommenen Opfers (133.168, jeweils mit Verweis auf Max Scheler), für welches der Mensch nach Durchschreiten des »Entscheidungs- und Umschlagpunkt[s]« (255) des Leidens reich belohnt wird: »Im unausweichlichen Leiden gibt sich das Geschöpf an seinen alles Leiden übersteigenden Urgrund hin, in dessen Händen sich der Schmerz des Leids in Seligkeit, sein Dunkel in Licht, sein Unsinn in Sinn verwandelt.« (168)
Dass ein Mensch in seinem Leiden einen Sinn zu finden vermag, ist zweifellos wünschenswert. Wird jedoch wie zuweilen implizit in W.s Studie ausgeschlossen, dass es sinnloses, undeutbares und bloß passiv zu erleidendes Leiden gibt, dann steigt der Erwartungsdruck, der auf dem nach einer Deutung des Leidens suchenden Subjekt lastet, ins Unermessliche. Nun würde W. auf diesen Einwand (mindestens) zweierlei erwidern können, jedoch geben diese Antworten Anlass zu weiteren Fragen. Erstens ist Leiden W. zufolge stets ein aktives Geschehen: »Jeder macht sich sein Leiden letztlich selbst, so sehr er dazu auch genötigt worden sein mag.« (114; vgl. 126.145.183.321.381) Wenn aber Leiden in der Tat von einer bloßen Sinnesempfindung unterscheidbar sein mag – wer dies anders sieht, erhält auf Seite 80 den Rat, die Lektüre des Buches zu beenden –, so wäre doch zu fragen, ob hier der aktive An teil des Menschen an seinem Leiden nicht einseitig hervorgehoben wird, ob W. nicht jene Heroisierung des Leidens, genauer: des Leidenden unterläuft, gegen die er sich an anderer Stelle so überzeugend ausspricht (133). Zweitens erhebt W. ja gerade den Anspruch, dem Anschein der Sinnlosigkeit von Leiden trotzend kraft phänomenologischer Analyse die »Grund- und Wesensstruktur des Leidens« (17; vgl. 24), dessen »Seins- und damit Sinnstruktur« (24), »ureigenste Gestalt« (25), »Gesamtstruktur« (45), »innerste Sachhaftigkeit« (80), »Seinsgrundstruktur« (227) zu entschlüsseln. Wer diesen Er­kenntnisweg mitzuvollziehen vermag, der wird in der Tat anders auf das Leiden schauen als der, der von jenem quälend-anhaltenden Leiden nicht losgelassen wird, dessen Existenz W. durchaus einräumt (255). Eine skeptische Rückfrage, ob denn eine Phänomenologie den letzten Grund der Dinge, »den objektiven Logos eines bestimmten Seienden« (43) offenzulegen vermag und nicht vielmehr – gewiss hilfreiche und zutreffende – Deutungen bietet, lässt sich wohl auch in Anbetracht virtuos vollzogener Unternehmen dieser Art kaum zurückweisen. Skepsis und Zurückhaltung sind indes ohnehin W.s bevorzugte Haltungen nicht, seine Philosophie des Leidens tritt assertorisch auf, wie um der Wucht des Leidens eine Wucht des engagierten Denkens entgegenzusetzen – wer sich von den in diesem Werk erhobenen Ansprüchen an die Belastbarkeit der Leidensdeutungen und der das Leiden Deutenden nicht überfordert sieht, der wird in W.s Buch einen sehr großen Gewinn sehen und das Erscheinen der von ihm angekündigten Metaphysik des Leidens mit Spannung erwarten.