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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

194-196

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sellmann, Matthias

Titel/Untertitel:

Religion und soziale Ordnung. Gesellschaftstheoretische Analysen.

Verlag:

Frankfurt-New York: Campus Verlag 2007. 495 S. 8° = Campus Forschung, 917. Kart. EUR 51,00. ISBN 978-3-593-38367-5.

Rezensent:

Nikola Tietze

Matthias Sellmann legt mit diesem Buch seine von Karl Gabriel betreute Dissertationsschrift vor. Er fragt darin, welche Bedeutungen die Religionspolitik für die soziale Ordnung unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen einnehmen kann und unter dem Blickwinkel »christlich inspirierter politischer Ethik« (68) sollte. Seine im Schlusskapitel thesenförmig formulierte Antwort entwickelnd analysiert er dafür ausführlich in einer klaren und nachvollziehbaren Sprache die Ordnungs- wie auch Religionstheorien von Thomas Hobbes, Émile Durkheim und Georg Simmel und bezieht diese Theorien auf gegenwärtige Debatten (etwa über die Säkularisierungsthese), neuere soziologische Theorieansätze (zum Beispiel auf die von Gerhard Schulze konzeptualisierte Erlebnisgesellschaft), aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen (etwa fortschreitende Individualisierung) und politische Herausforderungen (zum Beispiel durch neue religiöse Bewegungen).
Dreh- und Angelpunkt seiner Analyse ist das Paradigma »Ganzes und seine Teile«. S. präzisiert dieses Paradigma in drei Ordnungsproblemen: »Durchsetzungs-, Verpflichtungs- und Innovationsproblem« (Kapitel 2). Jedes dieser drei Ordnungsprobleme impliziere andere Wechselbeziehungen zwischen dem »Ganzen« und »seinen Teilen« und damit zugleich unterschiedliche Konzeptionen für die soziale Integration einer Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund ergeben sich nach S. drei Ordnungstypen mit je eigenen Individuumsbegriffen, vergesellschaftenden oder auch vergemeinschaftenden Verfahren, für die Hobbes, Durkheim und Simmel grundlegend sind und zugleich exemplarisch stehen. S. entwickelt also über das Paradigma »Ganzes und seine Teile« ein Analyseschema, das nicht nur das gesamte Buch übersichtlich und stringent strukturiert, sondern das es auch erlaubt, unterschied­liche gesellschaftstheoretische Ansätze in ein Verhältnis zueinander zu stellen.
S.s an Problemen sozialer Ordnung orientierte Analyse der drei Klassiker ist jeweils mit einer Lektüre der religionstheoretischen Schriften von Hobbes, Durkheim und Simmel verbunden worden. Hier arbeitet S. für Hobbes das »enorme Machtpotential religiöser Semantiken« heraus (196). Die »Sprachmacht« der Religionen auf das Durchsetzungsproblem in einer sozialen Ordnung beziehend (199) unterstreicht er für die gegenwärtigen Gesellschaftsbeziehungen das Mobilisierungspotential von Religionen. Dies impliziere in religionspolitischer Hinsicht, dass religiöse Normativität und politische Aktion in eine »wechselseitige[] Rhetorikkontrolle« zueinander gestellt werden müssten (200). Für Durkheim wiederum hebt S. hervor, dass Religion gesellschaftliche Verpflichtungsstrukturen produziert und dergestalt das Verpflichtungsproblem sozialer Ordnung beantwortet. Daraus leitet er für die Bedeutun gen der Religionspolitik ab, dass zivilreligiöse Kollektivsymbo­lisierung und -inszenierung ebenso wie Versammlungen Res­sourcen sozialer Integration darstellen, denn sie brächten »den Urgrund sozialer Kohäsion« zum Ausdruck und machten soziale Ordnung »erfahrbar« (323). Insofern könne mit Durkheim Religionspolitik als ein »symbolgeneratives Projekt« verstanden werden (324). Simmels religionstheoretischen Überlegungen schließlich stellt S. in ein Verhältnis zu dem Innovationsproblem sozialer Ordnung. Nach Simmel würden Religionen zum einen für »den Schutz letzter Privatheit« und damit für die Bewahrung individueller Freiheit stehen. Zum anderen würden sie Verweisungen, Zusammenhänge und Vernetzungen zwischen Individuen insofern erwirken, als sie »ganz grundsätzlich einer Optik des Zusam­mengehörens und des Schematisierens folgen« und damit »soziale Prozesse« abbilden würden (443). Die simmelsche Religionstheorie verweist die Religionspolitik laut S. auf die Aufgabe, »kulturproduktive« Spielräume für individuelle Freiheit zu gewährleisten (456). In dieser Hinsicht gelte es, durch Religionspolitik persönliche »Lebensthemen« »vor sozialer Instrumentalisierung« zu schützen (456) und zugleich den Individuen zu eröffnen, in »homogenisierenden Kirchen, Gruppen, Stilen, Szenen, Milieus oder Märkten« Zusammenhänge und Vernetzungen zu schaffen (457). Daraus folgt, so S. weiter, dass religionspolitische Konflikte nicht nur desintegrative Potentiale besitzen, sondern auch Innovationspoten­tiale für die soziale Ordnung umfassen.
Die Qualität von S.s lesenswertem, soziologie-theoretisch interessantem und informativem Buch besteht darin, die Religionstheorien von Hobbes, Durkheim und Simmel konsequent auf die ordnungstheoretischen Entwürfe dieser drei Klassiker rückzubeziehen und zugleich an religionspolitische Herausforderungen für die Gegenwartsgesellschaft insbesondere in Deutschland anzuschließen. Jedoch fehlt meines Erachtens in S.s Gedankengang eine Differenzierung der Akteure, die Religionspolitik betreiben beziehungsweise in S.s Sinn betreiben sollten. Es entsteht bei der Lek­türe des Buchs der Eindruck, dass organisierte Religionsgemeinschaften und staatliche Vertreter mit der sozialen Ordnung und gesellschaftlichen Integration dasselbe verbinden. Davon ist aber in einer pluralistischen Gesellschaft nicht auszugehen, zumal un­ter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten (auch im deutschen Kooperationsverhältnis) staatliche Religionspolitik und religionsgemeinschaftliche (kirchliche) Religionspolitik nicht gleichgesetzt werden können. Gerade dann, wenn in Simmels Perspektive religionspolitische Konflikte als Innovationspotentiale sozialer Ordnung ge­dacht werden, wird es notwendig, religionspolitische Interessen zu unterscheiden. Darüber hinaus erfasst S. mit dem Begriff ›Religion‹ ungleiche, als religiös, sakral oder auch religioid bezeichnete Dinge oder stellt eine ungebrochene Linie zwischen ›Religion‹, ›Glauben‹ und ›religiösen Semantiken‹ her. Dies gehört unter dem christlich inspirierten Blickwinkel, den S. einnimmt, durchaus zu­sammen, ist aber meines Erachtens soziologisch und religionstheo­retisch zu differenzieren, um verstehen zu können, wie soziale Ordnung im Allgemeinen und durch Religionspolitik im Besonderen hergestellt, legitimiert oder auch im Hinblick auf individuelle Freiheit und individuelle Bedürfnisse nach Erwartungssicherheit verändert werden kann beziehungsweise sollte.