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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

189-191

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kühnlein, Michael

Titel/Untertitel:

Religion als Quelle des Selbst. Zur Vernunft- und Freiheitskritik von Charles Taylor.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XI, 298 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 33. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-149689-9.

Rezensent:

Martin Laube

Der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor gehört zweifellos zu den bedeutendsten Denkern der Gegenwart. Aus seiner Feder stammen umfangreiche Arbeiten zur Entstehung und Deutung der modernen Welt. Wegen seiner Liberalismuskritik wird er dabei zumeist dem Lager des Kommunitarismus zugerechnet. Doch Taylor verteidigt durchaus die neuzeitliche Signatur der Subjektivität. Freilich seien die moralisch-religiösen Quellen verschüttet, aus denen das vereinzelte Selbst seine Kräfte und Ziele gewinne. Mithin gelte es, diese Quellen wieder freizulegen, um so der kriselnden Mo­derne zu einem angemessenen Verständnis ihrer selbst zu verhelfen.
Darin wird bereits eine gewisse christlich-religiöse ›Grundimprägnierung‹ von Taylors Denken erkennbar. In den vergangenen Jahren ist sie immer stärker in den Vordergrund getreten. Mittlerweile hat sich Taylor erklärtermaßen das Anliegen des katholischen Philosophen Josef Pieper zu eigen gemacht, »Philosophie ›aus dem Kontrapunkt … der christlichen Theologie‹ zu betreiben« (zit. nach 2). Erst der Glaube an eine theistisch gefasste Idee des Guten, so lautet seine These, erlaube es, die durch den humanistischen Rückzug in die Immanenz bewirkte Verkümmerung unseres moralischen Selbstseins zu überwinden. In dem monumentalen Buch The Se­cu­- l­ar Age aus dem Jahre 2007 findet das Programm seinen zusam­menfassenden Ausdruck. Taylor zeichnet hier ein umfassendes Bild von der Entstehung der säkularen Welt, um darin den – seinerseits durch den Übergang in die Moderne transformierten – Glauben an einen transzendenten Gott als vernünftige Option ausweisen zu können.
Die vorliegende Studie von Michael Kühnlein geht nun auf eine Dissertation zurück, die bereits im Jahre 2002 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Universität Frankfurt angenommen worden war. Obgleich bis zu ihrer Veröffentlichung im Jahre 2008 offensichtlich umgearbeitet und fortgeschrieben, bearbeitet sie Taylors Denken auf dem Stand vor dem Erscheinen von The Secular Age. Das mag ein Manko sein, entwertet die Ergebnisse der Studie aber keineswegs – im Gegenteil: K. gelingt es zu zeigen, wie grundlegend Taylors kommunitaristische Liberalismuskritik von theologischen Motiven geprägt ist und überhaupt erst vor dem Hintergrund des Gedankens einer selbst-erneuernden Befreiung in ihrer Stoßrichtung verständlich wird. Von einer erst später vollzogenen Hinwendung Taylors zu Religion und Chris­tentum kann insofern keine Rede sein. Doch auch die seit dem Erscheinen von The Secular Age verbreitete Etikettierung Taylors als eines ›Religionsphilosophen von Rang‹ erweist sich als eigentümlich unscharf: Bei genauerem Hinsehen tritt Taylor weniger als Religionsphilosoph denn vielmehr als »ein mit den begrifflichen Mitteln der Sozialphilosophie argumentierender religiöser Denker« (267) vor Augen.
K.s Arbeit ist alles andere als eine einführende Darstellung. Taylors zentrale Denkfiguren werden zwar auf ihre theoriegeschichtlichen Hintergründe transparent gemacht, aber weder in ihrer Entwicklung nachgezeichnet noch in ihrer eigenen begrifflichen Systematik vorgeführt. Auch die Debattenkontexte, in denen Taylor sich bewegt, werden – im Blick auf die argumentativen Frontverläufe ebenso wie die beteiligten Akteure – weithin als bekannt vorausgesetzt. Stattdessen geht K. sogleich in medias res, macht hier auf Traditionslinien und Querverbindungen aufmerksam, diskutiert dort Übereinstimmungen und Divergenzen, greift kritische Einwendungen auf, weist Fehldeutungen zurück und entwickelt Verteidigungsstrategien. Insgesamt hat es den Anschein, als ginge es K. weniger darum, Taylor darzustellen, als vielmehr ihn in Stellung zu bringen. Mit seiner Rekonstruktion der christlich-religiösen Grundsignatur in Taylors Denken verfolgt K., so scheint es, das eigene systematische Interesse, die für ein angemessenes Freiheitsverständnis unverzichtbare Dimension vorgängiger Befreiung zur Geltung zu bringen und auf dieser Grundlage – in kritischer Be­schränkung des liberalen Begriffs autonomer Freiheit – das Verhältnis von Philosophie und Religion neu zu justieren.
Formal gliedert sich K.s Arbeit in sechs gleichumfängliche Kapitel, die durch eine jeweils knappe Einleitung und Schlussbetrachtung gerahmt werden. Das erste Kapitel (Nach der Emanzipation des Selbst: Über die Rolle der Religion in der Gegenwart) nimmt Taylors Verhältnisbestimmung von Religion und Moderne in den Blick. Dabei verwahrt sich K. gegen die Unterstellung, Taylor wolle mit seiner theistischen Ethik des Guten die plural-säkulare Signatur der Moderne unterlaufen. Wohl arbeite Taylor heraus, dass die aufgeklärte Vernunft ihren Rückzug in die Immanenz mit einer Verkümmerung des moralischen Selbstseins habe bezahlen müssen. Indem gerade die Religion diese Sachlage aufdecke, setze sie die neuzeitliche Subjektivität jedoch nicht ins Unrecht, sondern erschließe ihr vielmehr ein tragfähigeres Fundament.
Im zweiten Kapitel (Freiheit und Selbstsein: Zur Krise moralischer Immanenz) wird das Verhältnis von Religion und Moderne sodann inhaltlich näher bestimmt. Taylor arbeite dabei eine fundamentale Differenz im Freiheitsverständnis heraus: Während das neuzeitliche Paradigma der autonomen Vernunftmoral die ab­gründige Dimension der Selbstverfehlung ausblende und mit seinem Rückzug auf die Pflichtlogik des Gesetzes die Ohnmacht des in sich verkümmerten Subjekts befördere, biete die Religion ein Freiheitsverständnis auf, das den »Freiheit hervorbringende[n] Vorgang der Befreiung« (79) in den Mittelpunkt rücke, damit der »versöhnungs- und bejahungsbedürftigen Realität eines durch das Böse desavouierten Selbstseins« (79) Rechnung trage und so schließlich jene motivationalen Kraftquellen entbinde, welche die desengagierte Haltung des bloßen Gesetzesobligo zu überwinden vermöchten.
Das dritte Kapitel (Jenseits anthropozentrischer Selbstbehauptung: Zu den Epiphanien des Selbst) wendet sich daraufhin der Frage zu, wie Taylor die in diesem Freiheitsverständnis in Anspruch genommene »Transfiguration« (92) des Selbstseins theoretisch zur Geltung bringt. Taylor verweise hier auf die expressive Dimension der ästhetischen Erfahrung, betone aber zugleich die notwendige Aufgabe, »die in den Epiphanien der romantischen und postromantischen Kunst erstmalig artikulierte Bedeutung autonomer, schöpferischer Subjektivität mit einer objektiven Vision des Guten zu vermitteln« (99). Darin komme die Grundsignatur von Taylors Denken zum Ausdruck: Ihm sei daran gelegen, die neuzeitliche Wende zur Subjektivität aufzunehmen und zugleich der Gefahr ihrer anthropozentrisch-narzisstischen Aushöhlung entgegenzutreten. Erst im Modus religiöser Selbsttranszendenz erfahre das Subjekt eine versöhnend-bejahende Befreiung, welche es in Stand setze, sich im Tun des Guten für Andere zu öffnen.
In den folgenden Kapiteln geht K. dazu über, Taylors religiöse Freiheitsphilosophie auf ihre theoriegeschichtlichen Bezüge hin durchsichtig zu machen und im Kontext der gegenwärtigen De­battenlage zu verorten. So fächert das vierte Kapitel (Freiheit und Selbstbefreiung: Zur Ethik der Selbst-Erneuerung) zunächst die vielfältigen Verbindungslinien zu Augustin, Kant, Hegel, Kierkegaard, Dostojewski und James auf.
Das fünfte Kapitel (Selbst-Kritik und religiöser Artikulationsvorsprung: Taylors Freiheitsethik im Brennpunkt von Philosophie und Theologie) richtet dann das Augenmerk auf die bisherige Rezeption Taylors in Philosophie und Theologie. K. verteidigt hier Taylor gegen den häufig – und in verschiedenen Spielarten – erhobenen Vorwurf, seine Kritik am liberalen Autonomieideal stehe letztlich im Dienste einer antimodernen Gegenaufklärung. Das Gegenteil sei der Fall: Taylor gehe es nicht um einen Rückzug aus der Moderne, vielmehr setze er »auf die transformierende Kraft einer religiösen Selbst-Erneuerung, deren Ziel es ist, einer von Werten wie Selbstverantwortung und Selbstbestimmung bewegten Ethik der Autonomie zur Vollendung zu helfen« (202).
Vor diesem Hintergrund lotet das sechste Kapitel (Religion als Quelle des Selbst: Ein neuer Ort für die Transzendenz?) die An­schlussfähigkeit Taylors für das zeitgenössische Spektrum kultur- und sozialphilosophischer Ansätze aus. K. spannt dabei den Bogen von Girard und Ricœur über Theunissen bis hin zu Rawls und Kolakowski, bevor die Schlussbetrachtung nochmals auf die Debatte zwischen Kommunitarismus und Liberalismus zurücklenkt.
Im Ergebnis gelingt K. ein ebenso anspruchsvolles wie überzeugendes Plädoyer für das Anliegen Taylors, die Religion als diejenige »transformative Kraft der Freiheit« (219) vor Augen zu stellen, welche im Medium innerlicher Selbstdeutung das Subjekt zugleich aus den Engführungen der humanistischen Immanenzdoktrin herauszuführen verspricht. Einen Mangel vermag freilich auch K. nicht zu beheben, der die theologische Beschäftigung mit Taylor nicht selten unbefriedigend bleiben lässt: die geradezu notorische Unschärfe seiner religionstheoretischen Begrifflichkeit. Es wäre nicht das geringste Verdienst K.s, wenn seine luzide Studie dazu anregen würde, diesem Mangel endlich abzuhelfen.