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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

185-187

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bohlken, Eike, u. Christian Thies [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik.

Verlag:

Stuttgart-Weimar: Metzler 2009. VII, 460 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-476-02228-8.

Rezensent:

Stephan Schleissing

Im interdisziplinären Diskurs um die technische »Eingriffstiefe« medizinischer Interventionen oder die »Deutungshoheit« biologischer Theorien führt die Bezugnahme auf den Menschen meist zu einer Figur der Letztbegründung mit hohem normativem An­spruch. Wer die »Frage nach dem Menschen« aufwirft, der signalisiert nicht nur ethischen Integrationsbedarf, sondern er beansprucht auch, sich auf dem Boden der »Tatsachen« zu bewegen. Die große Aufmerksamkeit, die der Anthropologie im 20. Jh. in Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften zuerkannt worden ist, resultiert nicht zuletzt aus der Erwartung, beide Stränge – Empirie und Wesen des Menschen – auf wissenschaftlicher Grundlage zusam­menführen zu können. In dieser Situation intendieren die Herausgeber des Handbuchs einen systematischen und vor allen Dingen multiperspektivischen Überblick über das gegenwärtige Wissen vom Menschen.
Eike Bohlken ist seit dem Jahr 2008 habilitierter Assistent am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover (FIPH) und Chris­tian Thies, von 2006 bis 2009 stellvertretender Direktor des FIPH, ist seit 2009 Professor für Philosophie an der Universität Passau. Das Handbuch stellt die vielfältigen wissenschaftlichen Bemühungen zur Erkenntnis des Menschen seit dem 18. Jh. in übersichtlicher Weise vor, wobei der Schwerpunkt auf der Gegenwart liegt. Nach einer Einleitung der Herausgeber (I), in der sie sowohl einen prob­lemorientierten Überblick über die aktuellen Kontroversen innerhalb der Anthropologie als auch eine Rechtfertigung ihrer Konzeption des Handbuchs liefern, folgen drei Blöcke, die unterschiedliche Zugänge zum Thema bieten:
Zunächst werden in knappen Skizzen 15 Klassiker der modernen Anthropologie (II) seit Kant und Herder vorgestellt, deren Auswahl – so die Herausgeber – ein unvermeidbar dezisionistisches Element enthält. Dabei werden nicht nur wirkmächtige Begründer der modernen Anthropologie, sondern auch Denker vorgestellt, die sich selbst – wie Marx, Freud oder Foucault – als Kritiker der An­thropologie verstanden. Wesentlich umfangreicher fällt die stärker systematisch angelegte Sichtung der insgesamt 23 wissenschaftlichen Ansätze und Forschungsprogramme (III) innerhalb der anthropologisch orientierten Wissenschaften aus. Angesichts des »Symbiosenappetits der philosophischen Anthropologie in Bezug auf Einzelwissenschaften« (Odo Marquardt) gilt es hier, ein extrem weites Spektrum abzudecken. Nachdem die Klassiker stark philosophielastig ausfielen, werden hier verstärkt auch neuere naturwissenschaftliche Disziplinen wie z. B. die Hirnforschung, Primatologie oder Verhaltensgenetik vorgestellt; aber auch eine techno­szientistische Übertreibung wie der Transhumanismus findet hier seinen Platz, was die bisweilen verdeckten visionären Phantasien kommunizierbar macht, die gerade im ethischen Diskurs die Wahrnehmung des Konfliktfelds von Natur, Kultur und Technik steuern. In Teil IV werden schließlich 41 Grundbegriffe der Anthropologie dargestellt. Hier kommen politikwissenschaftliche, soziologische und historische Aspekte stärker zur Geltung. Gleichwohl sind einige Artikel wie diejenigen über »Kunst« und »Zeit« so grundsätzlich angelegt, dass nicht immer erkennbar ist, inwiefern sie durch die Bezugnahme auf »den Menschen« ein anthropologisches Profil gewinnen. Grundsätzlich fällt auf, dass einige zentrale Grundbegriffe wie z. B. »Persönlichkeit« (auch in »Person« nicht behandelt) oder »Individuum« fehlen. Aber das sind möglicherweise persönliche Favoriten des Rezensenten. Bemerkenswert ist, dass zentrale Topoi der klassischen Anthropologie wie »Vernunft« oder »Mensch/Tier-Unterscheidung« im Handbuch unter Stichworten wie »Bewusstsein« oder »Speziesismus« thematisiert werden, was ihrer gegenwärtigen Neuverortung innerhalb des naturwissenschaftlich dominierten, deutlich ethisch akzentuierten Dis­kurses geschuldet ist.
Die Herausgeber benennen die Zielsetzung ihres Handbuchs folgendermaßen: »Pluralität, Unübersichtlichkeit und Verunsicherung nähren den Wunsch nach einem kritischen Vergleich und einer integrativen Zusammenführung der verschiedenen Wissensbestände, Forschungsrichtungen und Fragestellungen.« (VII) Dank der insgesamt 75 Autoren, allesamt renommierte Vertreter ihres Fachs, ist die Erreichung dieses Ziels den Herausgebern eindrucksvoll gelungen. Wer Orientierung und Auskunft über den zukünftigen Forschungsbedarf im komplexen Themenfeld der Anthropologie zwischen Natur, Kultur und Technik sucht, dem bietet das Handbuch sowohl einen informativen Stand der Diskussionen als auch aktuelle weiterführende Literatur.
Ausgesprochen instruktiv ist auch die problemorientierte Einleitung von Bohlken und Thies, in der sie ihren eigenen philosophischen Zugriff als »undogmatisch verstandene Philosophische Anthropologie« im Anschluss an Scheler, Plessner und Gehlen u. a. charakterisieren (2). Gleichwohl irritiert, warum sie diesen Ansatz mit dem Programmtitel einer »integrativen Anthropologie« versehen und der »Konzeption des Handbuchs … ein universalistisches, transkulturelles Verständnis von Wissenschaft zugrunde[legen]« (7). Faktisch dokumentieren die einzelnen Artikel des Handbuchs eine Multiperspektivität von Anthropologien, die sich – nicht zu ihrem Schaden! – einer metadisziplinären Integration gegenüber sperren. Diesem Befund tragen die Herausgeber dadurch Rechnung, dass sie fünf Kontroversen benennen, in denen sich die aktuelle Diskussion um die methodischen Probleme auf dem Felde der Anthropologie gegenwärtig vollzieht. Folgende fünf Leitfragen werden skizzenhaft erörtert (3 ff.):
1. Ist die Anthropologie ein empirisches oder ein apriorisches Projekt? 2. Fungiert sie als ein vorzuordnendes Fundament oder eher als zusammenschauende Synthese für die Humanwissenschaften? 3. Soll sie nach naturwissenschaftlichem oder kultur- bzw. geisteswissenschaftlichem Muster betrieben werden? 4. Verfährt sie rein deskriptiv oder beinhaltet sie auch normative Aspekte? 5. Erhebt sie anthropologische Universalien oder nur partiku­lare Typen? Das »Fazit« der Herausgeber lautet: »Eine integrative Anthropologie erhebt weder den Anspruch, Fundament der Hu­manwissenschaften zu sein, noch beansprucht sie, eine neue ›Su­-perdisziplin‹ zu werden. Es geht ihr nicht um ein abschließendes Urteil von philosophischer Warte aus, sondern um Ansatzpunkte für disziplinübergreifende Gespräche und Projekte.« (6) Damit bleibt der integrative Anspruch ganz auf eine legitime Pluralität der irreduziblen Ansätze und der Reflexion der dabei auftretenden methodischen Probleme begrenzt! Eingedenk der Tatsache, dass man die philosophische Anthropologie z. B. im Anschluss an Odo Marquard als Erbin der Geschichtsphilosophie zu betrachten hat, wird man diese Pluralität auf »die« Sicht »des« Menschen als einen nicht zu unterschätzenden Gewinn einzustufen haben, was gerade auch der instruktive Artikel von Jakob Tanner zum Thema »Historische Anthropologie« dokumentiert.
Aus Sicht der Theologie fällt deren Stellenwert innerhalb des aktuellen anthropologischen Diskurses ernüchternd aus. Bohlken/Thies resümieren: »Die theologische Anthropologie vermag daher unter Umständen wichtige thematische Anstöße für das Selbstverständnis des Menschen zu liefern, eignet sich jedoch nicht als methodischer Orientierungspunkt einer integrativen Anthropologie.« (3) Aber könnte nicht gerade die Theologie aufgrund ihrer Unterscheidung von Schöpfung und Erlösung und einer Rede, die angemessen zwischen Mensch und Individuum differenziert, eine moderne Anthropologie vor überzogenen integrativen oder gar normativen Ansprüchen bewahren? Dietmar Mieth, der im Handbuch den Artikel »Theologische Anthropologie« beisteuert, deutet diese primär hermeneutische Funktion der Theologie für die An­thropologie an, wenn er ihre »aus der Immanenz heraus gedachte Transzendenz der ständigen Selbstüberschreitung« herausstellt (252). Schade nur, dass Mieth diejenige theologische Publikation, die das Gespräch zwischen Theologie, philosophischer Anthropologie und Geschichtstheorie bisher am differenziertesten geführt hat, noch nicht einmal im Literaturverzeichnis erwähnt: Wolfhart Pannenbergs »Anthropologie in theologischer Perspektive« aus dem Jahre 1983.