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Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

179-181

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hahn-Jooß, Barbara

Titel/Untertitel:

»Ceste Ame est Dieu par condicion d’Amour«. Theologische Horizonte im »Spiegel der einfachen Seelen« von Marguerite Porete.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2010. IX, 299 S. gr.8° = Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Neue Folge, 73. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-402-10284-8.

Rezensent:

Tobias Georges

Der »Spiegel der einfachen Seelen« der Marguerite Porete ist ein vielbeachtetes Werk: Das am Übergang vom 13. zum 14. Jh. verfasste, schwer erschließbare Zeugnis ihrer mystischen Frömmigkeit, auf dessen Grundlage sie im Jahr 1310 in Paris als Häretikerin verurteilt und verbrannt wurde, verstört und fasziniert Leser immer wieder. Über Marguerites Person ist mit Ausnahme ihres Prozesses, dessen Akten erhalten sind, wenig bekannt, und so liegt der Versuch nahe, das Werk aus sich selbst heraus, quasi »voraussetzungslos« (1) zu verstehen. Diesem in der Forschung bislang ausstehenden Unterfangen widmet sich Barbara Hahn-Jooß in ihrem Buch, das im Wintersemester 2008/2009 von der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen wurde.
In der Einleitung (1–6) legt die Vfn. Methodik und Vorgehensweise präzise dar: Sie fragt nach »›Grundlagen‹ bzw. ›Horizonten‹ theologischen Denkens« im Spiegel der einfachen Seelen und analysiert »Darstellungsformen der Verhältnisse ›Gott-Mensch/Seele‹ sowie ›Mensch/Mensch‹ bzw. des ›Selbstverhältnisses der Seele‹« (1). In dieser Perspektive will sie nacheinander folgenden »Horizonten« im Spiegel auf den Grund gehen: Aspekten von »Ethik«, von »Personsein«, von »Erkennen« und von »Ontologie«. Als wesentliche Grundunterscheidung, die in diesen vier »Horizonten« jeweils zum Tragen kommt, verweist sie vorweg auf Marguerites Differenzierung zwischen der »unvernichtigten« und der »vernichtigten«, also »zu nichts gewordenen« und damit in ihren Ursprung zurückgekehrten Seele (3). Anhand dieses Ansatzes gelingt es der Vfn., innerhalb Marguerites Text, der zunächst nur schwer eine Ordnung erkennen lässt, durchgehende und kohärente Gedankenlinien herauszuarbeiten – ohne der Begine freilich eine Systematisierungstendenz in der Art zeitgenössischer Summenliteratur anzudichten.
Bevor die Vfn. sich den vier »Horizonten« eingehend widmet, legt sie einführend auf der Grundlage vorliegender Forschungsergebnisse wesentliche Hintergrundinformationen zur Person Marguerites, ihrem soziokulturellen Kontext und ihrem Werk, dem Spiegel, dar (7–50). – Hier wäre eine eingehendere Begründung da­für wünschenswert gewesen, dass die Untersuchung den altfranzösischen Text zugrunde legt, da doch die älteste erhaltene Handschrift eine lateinische ist und die Überlieferungsverhältnisse des altfranzösischen Textes umstritten sind. – Inhaltliche Grundlinien des Spiegels werden anhand des für Marguerite konstitutiven Strukturprinzips des siebenstufigen Aufstiegs der Seele zu Gott erläutert: Marguerite lege besonderes Gewicht auf die fünfte Stufe bzw. den fünften Zustand der Seele, weil sich auf ihr/in ihm die Vernichtigung der Seele ereigne.
Die gelungene Einführung bietet den erforderlichen Verstehensrahmen für die Profilierung der theologischen »Horizonte« im Spiegel. An erster Stelle beleuchtet die Vfn. Aspekte von »Ethik« (51–101). Unter dieser Überschrift fasst sie das innere und äußere Verhalten des Menschen bzw. der Seele, ihr Tun und ihre Handlungsmotivation – die Seele bei Marguerite wird nicht als deckungsgleich mit dem Menschen, aber doch als pars pro toto für ihn charakterisiert (102 f.). Die Vfn. arbeitet die Unterscheidung zwischen der »Ordnung der Vernunft« im unvernichtigten und der »Ordnung der Liebe« im vernichtigten Leben heraus: In der ersten »Ordnung« haben die Tugenden, die ein vernunftgemäßes Leben nach dem Vorbild Christi bewerkstelligen sollen, in erster Linie versklavende Wirkung auf die Seele; unter der »Ordnung der Liebe« dienen die Tugenden umgekehrt der Seele, sofern die Seele in die Liebe zurückgekehrt ist, die der Ursprung ihrer selbst wie auch der Tugenden ist. Durch diese Rückkehr in die Liebe wandeln sich die Verhältnisse der Seele zu sich selbst, zum Nächsten und zu Gott grundlegend: Sie gelangt zu ihrem eigentlichen, freien Sein im Dienst am Nächsten durch das demütige Sein in Gottes Liebe.
Im Folgenden untersucht die Vfn. im Rahmen der Aspekte von »Personsein« Problemstellungen der »Natur«, die wechselseitige Beziehung zwischen »Leib« und »Geist« bzw. »Seele« sowie Fragen nach dem »Selbst« und dem »Willen« (102–162). Bei allen Aspekten lässt sich für den vernichtigten Zustand der Seele eine Rückkehr in ihr eigentliches und in der Schöpfung gut angelegtes Sein zeigen.
Die Behandlung des Problemfelds »Erkennen« schließt sich an (163–214). Hier hebt die Vfn. die paradoxe Denkweise Marguerites hervor: In der Seele entsteht erst in der Vernichtigung, durch die Einsicht in das eigene vollkommene Nichterkennen und dadurch, dass Gott ihr gleichzeitig Anteil an seinem Erkennen gibt, eine in ganz bestimmter Weise qualifizierte Gottes- und Selbsterkenntnis zwischen Alles- und Nichtsverstehen.
Zuletzt analysiert die Vfn. mit den Aspekten von »Ontologie« Marguerites Zeichnung des Seins selbst (215–279). Als Grundstruktur allen Seins beleuchtet sie hier die Relation Gott-Mensch/Seele in Trennung und Einheit. Sie betont, dass die Seele erst in der Liebe und durch die Liebe Gottes zu ihrem eigentlichen Sein gelangt, dass aber auch die »Einheit mit Gott« in der Vernichtigung unter einem »Vorläufigkeitsvorbehalt« steht. Aufgrund dieses Befundes nimmt sie Marguerite gegen den Vorwurf der deificatio in Schutz. Ein pointiertes Résumé rundet die Untersuchung ab (281–286).
Das große Verdienst der umsichtigen Studie ist es, Marguerite als »kreative und profund denkende und schreibende Theologin, die auch anderen zeitgenössischen theologischen Denkerinnen und Denkern ebenbürtig ist« (2) zu erweisen und so zugleich zu rehabilitieren. Freilich kann man fragen, inwieweit es überhaupt möglich ist, ihr Werk »voraussetzungslos« zu untersuchen, und die Suche nach Aspekten von »Ethik«, »Personsein«, »Erkennen« und »Ontologie« scheint auf den ersten Blick wesentliche Voraussetzungen gerade an den Text heranzutragen. Aber die Lektüre zeigt, wie sehr die Vfn. ihr Verständnis dieser »Horizonte« von Marguerites Text her formen lässt und wie eng sie durchweg am Spiegel bleibt. Die Analyse liest sich auf weiten Strecken wie ein Kommentar zu dem schwer zugänglichen Werk, der dessen innere Kohärenzen in wünschenswerter Klarheit erschließt und dabei so nahe als möglich am Text bleibt – wie sich dank der vielen Zitate aus dem Spiegel nachprüfen lässt. Die wenigen Passagen, in denen es schwer fällt, der Analyse zu folgen, fallen angesichts der Transparenz, die weitgehend geboten wird, kaum ins Gewicht und sind wohl der komplexen Materie geschuldet. Die somit insgesamt als sehr gelungen zu bewertende Texterschließung wird ergänzt durch eine Vielzahl von Anmerkungen, in denen die Vfn. nicht nur auf historische Verbindungslinien verweist, sondern auch aktuelle Forschungsdiskurse nachzeichnet, die sich von Marguerites Spiegel her eröffnen, und sich wohl abgewogen positioniert.
Angesichts der bewussten Konzentration auf Marguerites Spiegel versteht es sich von selbst, dass die Bezüge zu anderen zeitgenössischen Autoren – häufig genannt werden z. B. Hadewijch, Mechthild von Magdeburg und Meister Eckhart – nur in Ansätzen beleuchtet werden. Studien zu diesen Bezügen können folgen, und für sie liegt nun eine ausgezeichnete Ausgangsbasis vor.