Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2011

Spalte:

176-179

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hafner, Johann Evangelist

Titel/Untertitel:

Angelologie.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2010. 251 S. gr.8° = Gegenwärtig Glauben Denken. Systematische Theologie, 9. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-506-76738-7.

Rezensent:

Gunther Wenz

Engel gehören notwendig zur Vollkommenheit des Universums (perfectio universi). Sie sind geistige Substanzen (substantiae intellectuales), die willentlich und mit freiem Entscheidungsvermögen wirken, ohne dazu des Mediums eines eigenen Körpers oder körperlicher Kräfte zu bedürfen. Körper setzen sich aus Form und Materie zusammen. Das Sein der Engel hingegen hängt nicht von Materie ab, da es sich bei ihnen um immaterielle Substanzen und selbständige Formen (formae subsistentiae) reiner Geistigkeit handelt. Die engelhafte Unsterblichkeit ergibt sich hieraus. Während alles, was aus Materie und Form zusammengesetzt ist, zerstört werden kann, sind geistige Substanzen unzerstörbar.
Obwohl Engel als unsterbliche geistige Substanzen weder körperlich noch aus Materie und Form zusammengesetzt sind noch wie materielle Formen in der Materie existieren, kommen sie dennoch der Gottheit Gottes nicht gleich, sondern sind von ihr und ihrer Einfachheit grundsätzlich unterschieden. Engel sind Ge­schöpfe. Ihre Kreatürlichkeit zeigt sich vornehmlich daran, dass in ihnen Sein und Wesen (esse et quod est) differieren. Während Gott sein Wesen ist, sind in Engeln Sein und das, was ist, nicht dasselbe. Engel sind aus Substanz und Sein zusammengesetzt und Akt und Potenz koinzidieren in ihnen nicht unmittelbar. So lehrte es der große christliche Angelologe Thomas von Aquin in seinen theologischen Summen.
Wer hierüber und über die Antworten auf weitere Engel betreffende Quästionen, wie der Aquinate und seine scholastischen Kollegen sie gegeben haben, kundig und bündig informiert werden möchte, der greife zu dem angezeigten Buch. Welche Stellung hat die Angelologie im Gesamtzusammenhang mittelalterlicher Theologie, wie werden Erschaffung, Zeit, Ort, Woraus und prälapsaler bzw. postapokalyptischer Zustand der Engel bestimmt, wie deren Zahl, Arten und Artunterschiede? Ist mit einer Sprache der Engel, der Möglichkeit ihrer Inkorporation, mit einer Engelwerdung der Menschen zu rechnen? Was hat es mit der überkommenen Vorstellung eines Engelfalls auf sich und wie verhält sich die Angelologie zu Dämonologie oder gar Satanologie, wenn es denn eine solche im Zusammenhang christlicher Theologie überhaupt geben kann? Auf diese und viele andere Fragen hat H. eine präzise Antwort parat. Er arbeitet nicht nur, wie von einem Mann seines Namens zu er­warten, handwerklich äußerst solide, sondern erweist sich als ein Angelologe von eigenem Profil und Format, der seinem spirituellen Gegenstand mit viel Geist und nicht weniger Witz auf die, mit Peter Berger zu reden, Spur zu kommen sucht.
Die Ausführungen zum mittelalterlichen Standardmodell der Angelologie bilden die innere Mitte von H.s Werk, welche er konzentrisch umkreist bzw. von der Gegenwart und der aktuell zu beobachtenden Engelrenaissance herkommend auf das biblische Zeugnis zum Thema hin durchschreitet. Nach einleitenden Reflexionen zur Aktualität der Engel heute, ihrer religionswissenschaftlichen Einordnung als Zwischenwesen sowie ihrer systemtheoretischen Bestimmung wird über gegenwärtige Engelsmetaphorik (Anselm Grün), Engelsphilosophien (Heinrich Rombach), das sog. opus angelorum und über Engel im Credo (»Unsichtbare Dinge«), in lehramtlichen Dokumenten der katholischen Kirche und in der gottesdienstlichen Liturgie gehandelt. Die moderne Theologie ist durch die Konzeptionen Karl Barths, Karl Rahners und Thomas Rusters vertreten, die neuzeitliche Geistesgeschichte wird exemplarisch durch Schelling und Swedenborg repräsentiert. Sehr knapp sind die Ausführungen zu Luther und Calvin geraten, denen die Ethisierung der Angelologie durch Mather Increase alias Matherus Crescentius mehr oder minder unverbunden zur Seite gestellt wird. Immerhin wirkt das reformatorische »Zurückschneiden der katholischen Auswüchse« in H.s Angelologie insofern fort, als die zitierte Überschrift des Luther und Calvin gewidmeten Abschnitts als Kopfleiste bis zum Schluss des Textes stehen bleibt. Hat man in diesem Layoutfehler nur das Werk eines Druckteufels oder vielleicht doch einen himmlischen Wink in Richtung eines Grundsatzes zu entdecken, wie er etwa Schleiermachers Angelologie bestimmt? Ihm zufolge schließt, wie es in § 42 der Zweitauflage seiner Glaubenslehre heißt, die in den alttestamentlichen Büchern einheimische und in das Neue Testament übernommene Engelsvorstellung auf der einen Seite nichts Unmögliches und mit der Grundlage alles gottgläubigen Bewusstseins im Widerspruch Stehendes in sich; auf der anderen Seite sei sie nirgends in den Kreis der eigentlichen christlichen Lehre hineingezogen worden, so dass in der christlichen Sprache zwar auch ferner von Engeln die Rede sein könne, ohne dass daraus die Verpflichtung entstünde, etwas über ihre Realität festzustellen.
H.s Angelologie bietet keine Engelsontologie bzw. -metaphysik, wie das bei Thomas von Aquin und in der mittelalterlichen Scho­-las­tik der Fall war. Sein Interesse ist wesentlich darauf gerichtet, die Funktion zu bestimmen, welche die Rede von Engeln in religiösen Systemen und namentlich im System der christlichen Religion vor allem römisch-katholischer Provenienz erfüllt. Was für Thomas Aristoteles war, ist für H. Niklas Luhmann. Seine Systemtheorie liefert das wichtigste Instrumentarium der angelologischen Analyse. Engel dienen dem Transzendenzschutz und der Ausdifferenzierung von Hoch- und Niedrigtranszendenz. Sie bilden eine Hülle um Gott, indem sie zwischen ihm als dem schlechterdings Übernatürlich-Transzendenten und dem Numinosen, Außergewöhnlichen, Unvertrauten unterscheiden lehren und auf diese Weise komplexe und gestufte Formen der Kontingenzbewältigungspraxis ermöglichen.
Dass in der Rede von Engeln eine eigentümliche religionsspezifische Rationalität waltet, hat H. überzeugend deutlich gemacht. Weiterer Klärung bedarf die Frage, ob und gegebenenfalls warum die funktionale Systemtheorie be­sonders geeignet sein soll, diese Rationalitätsimplikationen aufzuweisen. Wäre doch auch eine transzendentale Rekonstruktion traditioneller angelologischer The­menbestände unschwer denkbar, der zufolge in Engeln mittels einer Phantasie, die durchaus als hintergründig geistgeleitet gelten darf, auf objektiv-gegenstandsanaloge Weise vorstellig wird, was die Bedingung der Möglichkeit jeder Selbst- und Welterfahrung ist, ohne je auf empirische, sinnlich vermittelte Weise wahrgenommen und identifiziert werden zu können. Engel als Transzendentalsubjekte: In diesen Theorierahmen könnte den transsubjektiven und den subjektbezogenen Elementen der überkommenen Engelsvorstellung gleichermaßen und nach meinem Urteil mindestens ebenso gut Rechnung getragen werden wie unter systemtheoretischen Voraussetzungen. Auch die überkommene Vorstellung vom Fall der Engel ließe sich auf diese Weise gedanklich erschließen und hamartiologisch so zur Geltung bringen, dass das transmoralische Unwesen des Bösen ebenso erkenntlich wird wie der schuldhafte Charakter des peccatum originale samt aller Aktualverfehlungen.
Systemtheoretische oder bzw. und transzendentalorientierte Bestimmung der Engel: Wichtiger als das damit angezeigte Problem ist die Frage, ob die Funktionen, die religiöse Engelsvorstellungen traditionell erfüllten, grundsätzlich nur in der überlieferten und möglicherweise nicht auch auf andere Weise erfüllt werden können. Diese Frage ist nicht von außen an die Angelologie herangetragen, sondern in gewisser Weise durch sie selbst gestellt. Droht sie ihren Gegenstand nicht tendenziell dadurch zum Verschwinden zu bringen, dass sie ihn theoretisch begreift? Reichert die thomasische Angelologie die theoretischen Vorgaben an, in denen sie sich expliziert, oder reproduziert sie nicht im Grunde nur das, was man bereits von Aristoteles kennt? Was nötigt eigentlich dazu, auf Engelsvorstellungen systemtheoretisch Bezug zu nehmen, außer der Tatsache, dass solche Vorstellungen religiös überliefert sind und in unterschiedlicher Intensität nach wie vor gepflegt werden? Ja, selbst wenn man, wofür nicht nur gute systemtheoretische Gründe sprechen, Religion für unersetzbar und ihre Funktion weder durch Theorie noch durch Praxis substituierbar hält, bleibt immer noch die Frage, ob Engelsvorstellungen nicht ohne substantielle Verluste in andere religiöse Anschauungen transformiert werden können. Angelologen, denen am Aufweis der unersetzbaren Eigentümlichkeit ihres Themas liegt, werden eigens plausibilisieren müssen, worin diese Unersetzbarkeit religiös begründet liegt. Ansonsten tragen sie nolens volens dazu bei, mannhaft-mittelalterliche Engel in kindlich-or­na­mentale Putten zu verwandeln, für welchen Trend, wie H. in einem sehr schönen Textabschnitt seines gelungenen Buches zeigt, namentlich römisch-katholische Kirchenräume in ihrer barocken Pracht vielfältige Anschauungsbeispiele bieten.
Den Skopus von H.s Angelologie bilden die Ausführungen zu Engelsüberlieferungen im Neuen Testament und in der hebrä­-ischen Bibel, denen er sich über einschlägige spätantike Traditionen nähert, unter denen die Konzeption des Pseudodionysius Areopagita hervorragt. Sie seien der Eigenlektüre nachdrücklich empfohlen. Gemäß dem Neuen Testament sind Engel Diener des Evangeliums Jesu Christi, des auferstandenen Gekreuzigten, in dem sich Gott in der Kraft seines Hl. Geistes zum Heile von Menschheit und Welt offenbart hat. An diesem Kriterium ihrer Geltung haben sich alle christlichen Angelologien zu bemessen, um nach vollzogener theoretischer Leistung das Feld der Liturgie zu überlassen etwa in Form von Johann Sebastian Bachs Kantate zum Michaelsfest (BWV 19) und der in ihrer Art unvergleichlichen Arie mit Choral: »Bleibt, ihr Engel, bleibt bei mir! / Führet mich auf beiden Seiten, dass mein Fuß nicht möge gleiten! / Aber lernt mich auch allhier / Euer großes Heilig singen / und dem Höchsten Dank zu bringen!«